Heute entscheiden Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten, wie der Kampf gegen das Coronavirus weitergeht – und was das für die Menschen in Deutschland bedeutet. Die Leopoldina weist den Weg. Ihm zu folgen, erfordert Mut von der Politik.
WAS DIE EMPFEHLUNGEN der Leopoldina so bemerkenswert macht, ist ihre Entschiedenheit. Und das in dreifacher Hinsicht. Erstens in dem klaren Plädoyer, jetzt wirklich drei Wochen das öffentliche Leben auf ein Minimum herunterzufahren, damit die Wachstumskurve bei den Corona-Neuinfektionen abflacht. Zweitens in der Betonung, dass dieses Minimum auf jeden Fall einen gewissen Bewegungsspielraum für die Menschen beinhalten muss – also keine totale Ausgangssperre. Drittens in dem nicht weniger entschiedenen Hinweis darauf, dass Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten, wenn sie heute in diesem Sinne weitere Maßnahmen beschließen, unbedingt an die Zeit nach dem Shutdown denken müssen. Dass sie sich darüber im Klaren sein muss, dass das Shutdown unter keinem Umständen auch nur annähernd über so lange Zeit aufrechterhalten werden kann, bis Medikamente oder Impfstoffe gegen das Coronavirus verfügbar sind.
Alles in allem eine Stellungnahme, die in ihrer Differenziertheit unglaublich wertvoll ist für die politische Entscheidungsfindung. Gerade weil sie es der Politik nicht einfach macht. Gerade weil sie nicht die platten Gesten politischer Stärke fordert, sondern echten politischen Mut, ein Austarieren zwischen der Bekämpfung einer gefährlichen Epidemie und der nicht weniger wichtigen Sicherung einer offenen, auf sozialen und wirtschaftlichen Austausch angewiesenen Gesellschaft. Denn nur diese funktionierende Gesellschaft kann den lange dauernden Kampf gegen das Virus und seine Folgen durchhalten.
Insofern erscheint die gestern in sozialen Netzwerken zum Teil geäußerte Kritik, die hauptsächlich aus Medizinern bestehende Wissenschaftlergruppe habe die Krise zu einseitig betrachtet, aus dem Blickwinkel der Medizin eben, nicht wirklich zuzutreffen. Hat die Leopoldina-Arbeitsgruppe eben nicht. Sie hat den sozialen und ökonomischen Begleiteffekten der Krise eine sehr hohe Bedeutung eingeräumt.
Eine Ausgangsbeschränkung
mit klarem Anfang und klarem Ende
Die Politik sollte den Empfehlungen heute folgen. Das heißt: Eine deutschlandweite dreiwöchige weitgehende Ausgangsbeschränkung in dem Umfang, wie die Leopoldina sie beschreibt. Eine Ausgangsbeschränkung, deren Anfang UND Ende klar kommuniziert wird – inklusive der Möglichkeit einer wiederum befristeten Verlängerung.
Um wieviel verlängert werden könnte, nach der von den Wissenschaftlern geforderten Evaluation der Ausgangssperre, sagt das Leopoldina-Papier nicht. Aber klar ist: Die Wissenschaftler sind der Meinung, nicht um sehr viel länger. Weil ansonsten die zu erwartenden sozialen und ökonomischen Konsequenzen "gravierend" sein dürften, wie es in der Stellungnahme heißt, hinzu kämen die möglichen negativen Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland.
Wenn die Politiker also heute bereit sind, in der Geschichte der Bundesrepublik nie dagewesene Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte zu verhängen, und das aus gutem Grund, dann tun sie das mit der Verantwortung und dem Wissen, dass sie in einigen Wochen selbst dann das öffentliche Leben wieder hochfahren müssen, wenn die Epidemie sich weiter ausbreitet. Und das wird sie.
Auch im günstigsten Fall werden
die Krankheitszahlen enorm sein
Denn auch das ist klar, obgleich es manchmal scheint, als hätten weder die meisten Politiker noch Bürger es schon begriffen: Die Zahlen der gemeldeten Infektionen und Toten sind in Deutschland erst der Anfang und werden selbst dann kräftig weiter steigen, wenn alle Maßnahmen greifen. Wenn alle Maßnahmen greifen und die derzeitigen Modellierungen stimmen, heißt das nämlich, dass das Gesundheitssystem trotzdem an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit käme mit möglicherweise zehntausenden zusätzlichen Corona-Intensivpatienten. Das dreiwöchige Shutdown wäre ein enormer Erfolg, wenn die Kurve von ihrem exponentiellen Verlauf abflacht – aber es wird trotzdem eine Wachstumskurve bleiben.
Was wiederum bedeutet, dass wir zeitweise auch im günstigen Falle wie in Italien 1000 und mehr Tote am Tag haben werden. Dass im günstigen Falle mehr als eine Million Infektionen gleichzeitig vorliegen werden. Und dass genau DAS der Fall ist, in dem das Leben trotzdem weitergehen muss. Das ist die neue Wirklichkeit und das Umfeld für, wie die Leopoldina schreibt, "das kontrollierte und selektive Hochfahren des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft" in Deutschland. Weil ansonsten die wirtschaftliche Grundlage entfiele, um die angemessene Behandlung der Kranken gewährleisten zu können. Um den Kampf gegen das Virus entschieden und im Form eines "Marathonlaufs" (Christian Drosten) führen zu können. Aber auch, um die langfristigen gesellschaftlichen und sozialen Folgen des Lebens nach der Epidemie bewältigen zu können.
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