Warum Bund und Länder gestern das Richtige getan haben und warum repräsentative Stichproben der nächste entscheidende Schritt sind: eine Analyse.
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IMMERHIN 12. So viele Ministerpräsidenten hatten sich gestern Nachmittag schon vor der Telefonschalte mit Kanzlerin Merkel ziemlich genau auf das geeinigt, was die Leopoldina ihnen am Sonnabend empfohlen hatte: einen temporären Shutdown, aber keine komplette Ausgangssperre, und das länderübergreifend zu denselben Regeln. Eine, wie die Wissenschaftler das gefordert hatten, "stringente Ausgangsbeschränkung", aber kein Arbeits- oder Einkaufsverbot und auch "keine Unterbindung von Spaziergängen im Familienkreis". Dafür mit "konsequenter räumlicher Distanzierung". Vier Länder indes waren schon vorher ihren eigenen Weg gegangen, der nicht viel anders war, aber dazu führte, dass die politische Botschaft gestern nicht ganz so stark geworden ist, wie sie hätte sein können. Weil einige Ministerpräsidenten lieber vorpreschten und selbst stark wirken wollten. Also eher eine Frage der politischen Kultur als der wissenschaftlichen Politikberatung.
Einen nicht unwesentlichen Unterschied zwischen dem Empfohlenem und dem gestern Beschlossenen gibt es allerdings: Die Nationalakademie hatte "etwa drei Wochen" Shutdown gefordert, Bund und Länder einigten sich zunächst auf zwei. Vielleicht, weil sie die vergangene Woche schon mitzählen. Viel eher allerdings, weil sie davon ausgehen, danach noch einmal zwei Wochen verlängern zu müssen. Entscheidend ist, dass die Politik eine Kultur der Befristung etabliert hat, wie die Wissenschaft das wollte, also kein "bis auf Weiteres", was bei einer so gewichtigen Einschränkung der Grundrechte nicht tragbar gewesen wäre.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass der nächste Beweis politischen Muts in absehbarer Zeit darin bestehen wird, die weitgehende Stilllegung von Wirtschaft und öffentlichem Leben wieder stückweise aufzuheben – auch wenn die Pandemie dann noch nicht vorüber sein wird. Genau dies hat die Leopoldina ja auch bereits in ihrem Empfehlungen thematisiert.
Jetzt müssen die Ordnungskräfte
die Regeln auch durchsetzen
Jetzt aber müssen Polizei und Ordnungsämter erstmal die neuen Regeln, vor allem die, dass Versammlungen von mehr als zwei Leuten untersagt sind, zumindest im öffentlichen Raum konsequent durchsetzen. Und ansonsten muss das Land abwarten, wie die Maßnahmen greifen. So geduldig, wie das unter den gegebenen Bedingungen möglich ist. Ohne täglich nach neuen Beschränkungen zu rufen. Und ohne, dass Medien jede halbgare Statistik als Wendepunkt herausschreien.
Auch sonst sind einige Medien endlich zu mehr Sorgfalt aufgerufen, zu Differenzierungen, anstatt im Sensations- und Katastrophenmodus die Klickzahlenjagd zu immer neuen Tiefpunkten zu treiben. Gestern meldete der Stern – und viele andere folgten – der Charité-Virologe Christian Drosten habe prognostiziert: Keine vollen Fußballstadien in den nächsten 12 Monaten. Hat er so aber nicht. Höchstens wenn man es unbedingt so verstehen will. Gestern Abend bereits twitterte Drosten: "Diese Zuspitzung und Selbstverkürzung durch den Stern ist mir peinlich und entspricht nicht dem Zusammenhang des Interviews. Ich bin schockiert."
Nachdem die Politik die drängendste Entscheidung abgearbeitet hat, ist Zeit, sich eine andere Empfehlung der Leopoldina genauer anzusehen. Eine, die viele überrascht hat. Weil sie zugleich die miese Datenlage offenlegte, die derzeit in Deutschland in Sachen Corona herrscht. Unter Punkt 2 der "gesundheitspolitischen Maßnahmen" für die nächsten Monate heißt es ganz am Ende: "Erhebung repräsentativer Stichproben, die verlässliche Aussagen über die Mortalitätsrate sowie die Spezifität und Sensitivität der Testverfahren zulassen und die Schätzgenauigkeit zentraler Parameter der Modelle verbessern."
Nächste zentrale Maßnahme: repräsentative
Stichproben deutschlandweit
Was?, haben viele Leute gestern in den sozialen Medien gefragt. Werden denn nicht schon längst regelmäßig repräsentative, deutschlandweite Stichproben zum Gesundheitsstand der Bevölkerung gezogen – also anlassunabhängig, wenn weder ein Corona-Verdacht vorliegt noch sich Symptome zeigen? Nein, offenbar nicht. Und das ist ernüchternd und, je länger es anhält, fahrlässig. Denn so wissen wir nur, wer bereits vermutet krank ist. Wir haben keine Ahnung, wie hoch die Dunkelziffer ist.
Christian Drosten sagte zwar in der ZEIT, man könne vermuten, weil Deutschland den Ausbruch so früh erkannt und verfolgt habe, "dass wir nicht allzu weit entfernt von der Gesamtheit der Fälle sind. Wir sehen sicherlich längst nicht alle Fälle, aber im Verhältnis mehr als andere Länder, die weniger testen." Drosten sagte im selben Interview aber auch, mit steigenden Fallzahlen würden auch in Deutschland mehr Infektionen verpasst. Und: "Derzeit höre ich oft, 80 Prozent der Fälle verlaufen mild. Aber mein Eindruck ist: Vielleicht sind es sogar noch viel mehr. Das wäre wichtig zu wissen."
Warum eine realistische Erhebung der wirklichen Corona-Zahlen so wichtig ist? Weil sich nur hierin zeigt, wie weit die Infektion bereits verbreitet ist und weil sich nur dann errechnen lässt, wie hoch tatsächlich der Anteil derjenigen Menschen ist, die schwer erkranken oder sterben. Ob bei dem diesbezüglichen Prozentwert das Komma eine Stelle weiter links oder rechts steht (so extrem wird der Unterschied vermutlich nicht sein!), ist aber angesichts der gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der ergriffenen Maßnahmen von essentieller Bedeutung. Hoffentlich wird hier, trotz der knappen Testkapazitäten, schleunigst gehandelt.
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Peter England (Montag, 23 März 2020 09:33)
Bescheidene Frage: Wenn durch die beschlossenen Maßnahmen (weitgehender Lockdown bis auf familiäre Spaziergänge) die sozialen, kulturellen und ökonomischen Kosten auch exponentiell steigen, nach wievielen Tagen wissen wir dann, dass wir unsere Gesellschaft zugrunde gerichtet haben? Ab wann diskutieren wir, so hart das auch sein mag, über Binnendifferenzierung, um die besonders gefährdeten Menschen zu schützen, aber auch um den weniger Betroffenen die Aufrechterhaltung unseres Sozial-, Kultur- und Wirtschaftslebens zu ermöglichen? Worin liegt das "Abbruchkriterium"? Wann ist unsere Freiheit "ausreichend" eingeschränkt?
Und ein anderer Gedanke (aus der Klimabewegung): Angenommen, durch unsere bisherige Arbeits- und Lebensweise der letzten 200 Jahre haben wir Umweltbedingungen geschaffen, die - nicht nur klimatechnisch, sondern auch in den Bereichen Gesundheit, Verkehr, Bildung etc. - den Ausnahmezustand zur Normalität werden lassen: Wie entscheiden wir als Gesellschaft in Zukunft darüber, welche Ressourcen wohin verteilt werden?
Denn: Wenn Ausnahmezustände in immer kürzeren Abständen kommen (so sieht es beim Klima bspw. aus), benötigen wir immer mehr Ressourcen, um wieder in den "Normalzustand" zurückzukehren - und das betrifft nicht nur umgeknickte Bäume auf Bahnstrecken. Irgendwann, so die These, sind wir NUR NOCH mit "Reperaturarbeiten" an den bestehenden Systemen (Gesundheit, Verkehr, Bildung - nur als Beispiele) beschäftigt. Irgendwann, so die These, werden unsere Ressourcen DAFÜR auch immer knapper werden. Und dann entsteht die entscheidende Frage: Nach welchen Kriterien entscheiden wir dann, ob z.B. ein Krankenhaus elektrische Energie bekommt oder eine Bildungseinrichtung oder eine Fabrik oder ein Hochfrequenzhandelsplatz (wieder nur als Beispiele)?
Gibt es irgendeine Kommission oder Expertengruppe, die sich DAMIT beschäftigt?