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"Keine gerechten Prüfungsbedingungen"

Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien will wegen Corona sämtliche Abschlussprüfungen streichen – auch beim Abitur. Im Interview sagt sie, was das für die Schüler bedeutet – und warum die anderen Kultusminister es ihr gleichtun sollten.

Karin Prien (CDU) ist seit 2017 Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Foto: Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur.

Frau Prien, wird es in diesem Jahr in Schleswig-Holstein ein Abitur geben?

 

Aber natürlich wird es das. Es wird ein Abitur geben, es wird auch einen Mittleren Schulabschluss (MSA) geben und einen Ersten Allgemeinbildenden Schulabschluss (ESA). Sie werden voll gültig sein, die Schülerinnen und Schüler müssen sich da keine Sorgen machen.

 

Allerdings haben sie als erste Kultusministerin bundesweit vorgeschlagen, wegen der Coronakrise sämtliche Abiturprüfungen abzusagen. Auch die Prüfung zum MSA und zum ESA, der dem ehemaligen Hauptschulabschluss entspricht, sollen entfallen. Der Kabinettsbeschluss soll noch diese Woche kommen.

 

Die betroffenen Schülerinnen und Schüler haben das Anrecht auf eine klare Ansage. Am Freitag beginnen bei uns in Schleswig-Holstein offiziell die Osterferien, und direkt im Anschluss, vom 20. April an, würden die Abschlussprüfungen überall im Land starten. Keiner weiß heute, wie dann die Pandemielage in Deutschland aussieht. Aber eines ist absehbar: Selbst wenn die beschlossenen Eindämmungsmaßnahmen greifen, wird die Zahl der Infizierten in einem Monat deutlich höher liegen als heute. Ich kann deshalb aus heutiger Sicht nicht anders, als dem Kabinett zu empfehlen, die Prüfungen abzusagen. 

 

Sie könnten sie auch verschieben, andere Bundesländer tun das auch.

 

Auch hier müssen wir ehrlich sein. In Schleswig-Holstein beginnen die Sommerferien dieses Jahr Ende Juni. Es ist ausgeschlossen, dass wir die Prüfungen regelhaft erst im Mai oder gar Juni ansetzen. Die Alternative ist: entweder direkt nach Ostern oder gar nicht. Und da lautet die Schlussfolgerung ganz klar: dann gar nicht. Übrigens, auch wenn wir wider Erwarten doch vom 20. April an die Prüfungen für Abitur, MSA und ESA abhalten könnten, bezweifle ich vor allem für ESA und MSA, dass wir noch gerechte Prüfungsbedingungen schaffen könnten.

 

"Jugendliche aus bildungsfernen Familien
hätten einen enormen Nachteil"

 

Wie meinen Sie das?

 

Wir haben erste Abiturprüfungen schon längst abgesagt – und zwar solche, bei denen die Aufgaben nicht aus dem bundesweiten Aufgabenpool stammen, also nicht an den bundesweit selben Terminen geschrieben werden müssen. Die müssten unter einem enormen Zeitdruck für die Schülerinnen und Schüler nachgeholt werden. Bei MSA und ESA kommt hinzu, dass der Unterricht in den letzten Wochen vor den Prüfungen erfahrungsgemäß dazu dient, gezielt auf die Aufgaben hinzuarbeiten. Diese Vorbereitungsphase ist jetzt schon entfallen. Was hieße: Würden wir nach Ostern prüfen, hätten Jugendliche aus bildungsfernen Familien einen enormen Nachteil, weil sie zu Hause oft nicht dieselbe Unterstützung bei der Vorbereitung erhalten wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Die Schieflage geht schon da los, wo bei vielen die Eltern arbeiten müssen, während andere sich in Ruhe mit ihren Eltern zum Lernen hinsetzen können. 

 

Die Privilegierten würden noch privilegierter?

 

Ich will es so sagen: Wenn die Messlatte faire und gerechte Prüfungsbedingungen für alle sein soll, dann sind die Unwägbarkeiten schon jetzt so groß, dass ich für MSA und ESA keine andere Möglichkeit mehr als die Absage sehe. Und wenn ich das bei diesen beiden Abschlüssen so beurteile, komme ich beim Abitur automatisch zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen. Seien Sie versichert, die Entscheidung fällt mir nicht leicht, aber wir haben alle denkbaren Alternativen immer wieder durchgespielt. Das Ergebnis war immer dasselbe. 

 

Was heißt das praktisch? Wo sollen dann die Abschlussnoten herkommen?

 

Gottseidank haben wir kein Deutschlandabitur, wo sich die Abinote zu hundert Prozent aus den Ergebnissen bundesweit gleicher Prüfungen zusammensetzt. Zwei Drittel der fürs Abitur relevanten Leistungen haben unsere Schülerinnen und Schüler längst erbracht in der Qualifikationsphase, also den letzten beiden Schuljahren. Jetzt geht es darum, eine geeignete Formel zu finden, mit der wir die vorhandenen Leistungen auf die Abschlussnote umrechnen werden.

 

Und das machen Sie jetzt in Schleswig-Holstein auf eigene Faust?

 

Nein, ich setze mich dafür ein, dass wir in der Kultusministerkonferenz dafür noch in dieser Woche gemeinsame Regeln beschließen. Dass wir eine gemeinsame Formel finden und dass möglichst viele Bundesländer dann diesen Weg gemeinsam gehen.

 

Klappt das mit dem Umrechnen auch bei den anderen Abschlüssen?

 

In Schleswig-Holstein schon, weil hier auch bei ESA und MSA zwei Drittel der Abschlussnote durch die vorher erbrachten schulischen Leistungen berechnet werden. Aber ich weiß, dass die Modelle da von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sind.

 

"Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen
schätzen die Lage ganz ähnlich ein wie ich"

 

Trotzdem wollen Sie noch diese Woche die anderen Bundesländer, in denen die Abschlussprüfungen nicht schon laufen, davon überzeugen, diese ebenfalls abzusagen? 

 

Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen schätzen die Lage ganz ähnlich ein wie ich. Wir sollten dann auch dieselben Schlussfolgerungen aus ihr ziehen. Wir haben einander schon bei der vergangenen KMK-Sitzung zugesichert, dass alle Länder die Abiturnoten gegenseitig anerkennen – ganz gleich, wie sie in der Coronakrise zustande kommen sollten. Das war eine weise Entscheidung, und ich setze mich nun dafür ein, dass wir auch bei den Prüfungen bundesweit dieselben Beschlüsse fassen. Das bedeutet vor allem auch, dass wir für die anderen Schulabschlüsse eine ähnliche pauschale Anerkennungslösung vereinbaren, wie wir sie beim Abitur schon haben. 

 

Halten Sie das für realistisch, dass jetzt plötzlich alle auf Ihren Vorschlag einschwenken? 

 

Natürlich weiß ich, dass einige Länder, ich denke vor allem an Bayern, Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern, schon jetzt von der gemeinsamen Linie abgewichen sind bei der Planung der Abiturtermine. Mir fehlt insofern die Fantasie für die Vorstellung, dass die jetzt einfach zu einer ländergemeinsamen Linie zurückkehren. Aber ich glaube schon, dass viele Länder dabei sein werden. Und Hauptsache, alle halten sich an die gefassten Beschlüsse und erkennen ihre Abschlüsse gegenseitig an. 

 

Wenn das Abitur nun in den meisten Ländern ohne Prüfungen zustande kommen sollte, wäre es nicht konsequent, wenn die Hochschulen die Studierneigung fürs Wintersemester dann über Eingangsprüfungen abtesten?

 

Von der Idee halte ich nichts. Die Hochschulen sind doch derzeit wegen Corona in einem nicht geringeren organisatorischen Dilemma als die Schulen. Ich halte es für keine realistische Option, dass es in einer solchen Situation gelingen würde, für alle Fächer die nötigen Eignungstests zu entwickeln. Die Leistungen, die von den Abiturientinnen und Abiturienten bereits erbracht wurden, bieten eine hinreichende Grundlage, um ihre Eignung für ein Studium einzuschätzen. 




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Kommentare: 2
  • #1

    Edith Riedel (Dienstag, 24 März 2020 22:11)

    "Zwei Drittel der fürs Abitur relevanten Leistungen haben unsere Schülerinnen und Schüler längst erbracht in der Qualifikationsphase, also den letzten beiden Schuljahren. Jetzt geht es darum, eine geeignete Formel zu finden, mit der wir die vorhandenen Leistungen auf die Abschlussnote umrechnen werden. "

    Da fehlt dann ein Drittel der Leistungen. Gerade das Drittel der Leistungen, bei dem man zumindest noch im Ansatz von einer standardisierten Leistung sprechen kann. Eine Vergleichbarkeit mit anderen Abschlussjahrgängen ist nicht gegeben. Die Hochschulen werden sich "freuen", Abiturienten zu bekommen, die weder die Prüfungssituation des Abiturs noch die Vorbereitung darauf durchlaufen haben (dabei lernt man unheimlich viel!). Ich kann verstehen, dass diese Lösung eine sehr einfache ist, die keine Ressourcen kostet und keinen Stress macht, weil man nichts verschieben muss. Fair und durchdacht ist ist sie dennoch nicht, zudem trägt sie dazu bei, den Wert des Abiturs, der durch die Alleingänge der Länder sowieso schon stark gesunken ist, noch weiter abzusenken. Oh Bildungsland...

  • #2

    Thomas Oerder (Mittwoch, 25 März 2020 12:59)

    Um die Ministerin beim Wort zu nehmen: Wirklich "ungerecht" ist, dass diejenigen, die ihre Prüfungen bereits abgelegt haben, gleich gestellt werden sollen mit denen, die nur eine Teilleistung gebracht haben. Der organisatorische Mehraufwand für die Durchführung der Prüfungen ist offenbar zu stemmen - Hessen macht es derzeit vor.