Die Abiturprüfungen absagen? Der Vorstoß Schleswig-Holsteins hat heftige Debatten ausgelöst. Trotzdem sollten andere Länder folgen. Denn so hart es ist: Die Alternative wäre weitaus unfairer.
BISLANG HATTE BAYERNS Ministerpräsident Markus Söder die Rolle des "Vorpreschers" in der Coronakrise für sich reserviert. Gestern nun kam Schleswig-Holstein den anderen Bundesländern zuvor: Bildungsministerin Karin Prien (CDU) teilte mit, dass sie der Landesregierung die ersatzlose Streichung aller Schulabschlussprüfungen vorschlagen werde. Auch beim Abitur. Im Interview hier im Blog hat sie ihre Entscheidung erläutert. Heute schon soll das Kabinett entscheiden.
Für ihre Initiative eines "Anerkennungsabiturs" erntet Prien jede Menge Lob – und wütende Proteste. Letztere kommen vor allem aus den beiden Ländern, in denen die Abiturienten bereits ihre schriftlichen Prüfungen hinter sich haben (Rheinland-Pfalz) oder gerade über ihnen hocken (Hessen). Wie soll den dortigen Abiturienten noch Gerechtigkeit widerfahren, wenn die jungen Leute anderswo das Abizeugnis ohne dieselbe Anstrengung erhalten werden? Ein Abizeugnis, das, darauf haben sich die Kultusminister schon vor zwei Wochen geeinigt, auf jeden Fall rechtlich gleich viel wert sein wird, egal wie es in diesem besonderen Jahr zustande kommt? Der taz-Redakteur Ralf Pauli schreibt heute: "Jetzt wo ein Bundesland schon mit den Abiturprüfungen durch ist, müssen sie auch in allen anderen Ländern stattfinden, auch wenn sich das im Einzelfall noch über Monate hinzieht. Alles andere wäre genau das, was die Politik verhindern möchte: ein Nachteil für die Betroffenen."
Pauli hat Recht, und doch scheint es keinen Ausweg mehr zu geben aus dem Dilemma. Die rheinland-pfälzischen Abiturienten konnten noch unter halbwegs regulären Bedingungen schreiben, die hessischen schon weniger – und die Abiturienten in den übrigen Ländern werden dies, so viel ist absehbar, vermutlich gar nicht können. Einen Nachteil für die Betroffenen gibt es also im jedem Fall – die Frage ist, für wie viele und welcher Nachteil schwerer wöge.
Es ist absehbar, dass nach dem ersten
Dominostein die nächsten bald hinterherkippen
Denkbar wäre auch, dass in jenen Ländern, die dieses Jahr schon im Juni in die Sommerferien gehen sollen (neben Schleswig-Holstein sind das Hamburg, Brandenburg und Berlin), nur unter für alle Beteiligten gefährlichen und emotional belastenden Notbedingungen geschrieben werden könnte – während zum Beispiel die Bayern oder Baden-Württemberger die Luft hätten, einen guten Monat länger abzuwarten, bis sie schreiben.
Nein, die unter diesen Bedingungen am wenigsten unfairste Lösung (und mehr wird nicht mehr gehen!) ist, dass alle Länder, die noch nicht geschrieben haben, dem Beispiel Schleswig-Holsteins folgen. Und es ist absehbar, dass, nachdem jetzt der erste "Dominostein" (Bildungsjournalist Armin Himmelrath) gefallen ist, weitere rasch hinterherkippen. Noch vor dem Wochenende, so ist zu hören, soll eine Entscheidung innerhalb der Kultusministerkonferenz fallen. Sogar Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD), der Prien für ihren Alleingang ("ohne die anderen Länder zu informieren") kritisierte, stellte gleichzeitig fest, durch die Absage in Schleswig-Holstein sei "eine neue Lage entstanden". Da Alleingänge nicht vernünftig seien, "werden wir jetzt zusammen mit den anderen Ländern prüfen, welche Auswirkungen die Entscheidung in Schleswig-Holstein auf das Abitur in allen anderen Ländern und in Hamburg haben wird. Wir wollen hier zügig für Klarheit sorgen."
Wenn jetzt viele zu Recht an der Vergleichbarkeit der Abinoten 2020 zweifeln, die noch mangelhafter sein wird als in normalen Jahren, bliebe – ausnahmsweise – die Alternative von Hochschulzulassungsprüfungen bei Numerus-Clausus-Fächern. Dann würde es nämlich keine Rolle spielen, ob die Durchschnittszensuren durch die abgesagten Prüfungen schlechter oder besser ausfallen als normalerweise und als in den Bundesländern, die trotzdem schreiben.
Apropos: Dass die Abiturienten in Rheinland-Pfalz und Hessen jetzt möglicherweise die Gelackmeierten sind, hat wiederum etwas mit den, vorsichtig formuliert, Unebenheiten des gegenwärtigen Bildungsföderalismus zu tun. Die beiden Länder sind nämlich die einzigen, die bislang nicht auf die bundesweit gleichen Abiturtermine in den Hauptfächern eingeschwenkt waren, weil sie den zentralen Abitur-Aufgabenpool nicht so nutzen die übrigen Länder. Weshalb Rheinland-Pfalz und Hessen die einzigen sind, die so früh Prüfungen abhalten.
Vergangenen Woche hatte ich geschrieben: Endlich sei die Kultusminsterkonferenz dabei gewesen, den Neuanfang zu wagen. Doch Corona stelle das beschworene Miteinander in der bundesweiten Schulpolitik auf schmerzhafte Weise in Frage. "Krisenopfer Bildungsföderalismus", hieß mein Kommentar. Dem habe ich heute nichts mehr hinzuzufügen.
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Oliver Locker-Grütjen (Mittwoch, 25 März 2020 15:55)
Abitur 2020?
Und dann?
Warum drehen wir nicht die Zeit etwas zurück, stellen die Beschleunigung in Frage (viele Fremdsprachen bereits im Kindergarten, frühere Einschulung, G8, kürzere Studienzeiten) und nutzen die Krise zumindest zur bildungspolitischen Entschleunigung. Somit werden wir in diesen schweren Zeiten sicherlich vielen Schülern, Studierenden aber auch Eltern gerecht(er).
Will sagen: ein Jahr der Entschleunigung, Wiedereinführung des Zivildienstes, aber für Männer und Frauen (dies wieder wie ehedem zur Unterstützung der Gesundheits- und Pflegedienste), soziales oder ökologisches Jahr zur Verpflichtung und Horizonterweiterung, Studieren in einem flexibleren Korsett ohne den Zwang, mit 20 Jahren fertig sein zu müssen und niemals jenseits des Tellerrandes gesehen zu haben.
Nur ein Gedanke: Nicht alles war früher schlechter…
Dr. Oliver Locker-Grütjen
Schwarzenbergstraße 2a
45472 Mülheim an der Ruhr