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"Da war mir klar: Es geht los"

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Thomas Sattelberger hatte Covid-19. Jetzt ist er genesen. Wie er die Krankheit erlebt hat, warum die Krise für Deutschland einem gesundheits- und innovationspolitischen Offenbarungseid gleichkommt – und wieso er nicht gern über die Zeit nach Corona redet. Ein Interview.

Thomas Sattelberger. Fotos: Wolfgang Maria Weber.

Herr Sattelberger, vor zwei Wochen haben Sie auf Twitter öffentlich gemacht, dass Sie an Covid-19 erkrankt waren. Wie geht es Ihnen heute?

 

Sehr gut! Meine eigene laienärztliche Diagnose besagt, dass ich durch bin. Ich habe keinerlei Symptome mehr. Kein Fieber, kein Kopfweh, keine Schweißanfälle, keine Kurzatmigkeit. Alles weg. Aber zwischendurch war es schwierig. Zweimal war ich kurz davor, mich selbst ins Krankenhaus einzuweisen. 

 

Haben Sie damit gerechnet, dass es Sie treffen kann?

 

Vor ein paar Wochen war das Virus scheinbar noch weit weg, ein paar vereinzelte Fälle in Bayern und Nordrhein-Westfalen, das war’s. Trotzdem war ich früh hellhörig, was mit meiner Zeit als Personalchef bei der Telekom zusammenhängt. Vor zehn Jahren, als die Schweinegrippe sich ausbreitete, habe ich für zehntausende Mitarbeiter weltweit Pandemieanweisungen herausgeben müssen und für 20 Millionen Euro das Grippe-Mittel Tamiflu bestellt. Insofern war mir bewusst, wie exponentiell sich Viren ausbreiten können und dass es jeden treffen kann. 

 

Jetzt sagen Sie bloß nicht, Sie hätten gewusst, dass es so kommt.

 

Nein, das habe ich nicht. Erst als ich mich vor bald drei Wochen in meiner Rolle als Bildungspolitiker intensiver mit der Frage von Schulschließungen beschäftigte, habe ich realisiert, dass die Lage ernst werden wird. Vorher habe auch ich gedacht, das wird schon werden. Doch als dann die Fälle in Deutschland sprunghaft anstiegen, zunächst nur auf wenige hundert, aber sprunghaft, da war klar: Es geht los. Und selbst da habe ich mir noch die meisten Gedanken gemacht um den Schock für die Wirtschaft, den die Krise bedeutet. Denn irgendwie hatte ich den festen Glauben, dass das Gesundheitssystem in Deutschland die Pandemie bestens bewältigen wird.


Thomas Sattelberger, 70, saß nacheinander im Vorstand von Lufthansa, Continental und Telekom. Seit 2017 sitzt er für die FDP im Bundestag und ist Sprecher seiner Fraktion für Innovation, Bildung und Forschung. 


Und dieser Meinung sind Sie jetzt nicht mehr?

 

Nein, dieser Meinung bin ich nicht mehr.

 

Als Sie positiv auf das Virus getestet wurden, wie groß war da Ihre Angst?

 

Für Angst war da erstmal keine Zeit. Ich hatte, schon bevor das Testergebnis da war, unter heftigen Schweißausbrüchen gelitten auf dem Heimflug von Berlin nach München. 


Mir ging es richtig elendig, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, als ich durchs Flughafenterminal ging. So als hätte mich das Virus in dem Moment okkupiert. Zu Hause habe mir dann schnell ein Notfallsystem aufgebaut mit Kontakten zum Notfalldienst und zum Krankenhaus, ich habe zusammen mit den Ärzten einen Gesundheitszustand definiert, bei dem ich das Krankenhaus angerufen hätte. Doch in den folgenden Tagen hatte ich dann zunehmend das Gefühl, dass das Virus sich bei mir zahm benehmen wird. 

 

Was viele Zuschauer hautnah mitbekommen konnten. Sie haben am Tag Ihrer Diagnose ein Videotagebuch gestartet, jeden Abend drei Minuten persönliche Schilderungen über Ihren Gesundheitszustand und Ihre Wahrnehmungen der Corona-Krise.

 

Das war mir wichtig. Ich wollte mit dem Videotagebuch ein Beispiel geben, dass man mit der Krankheit gut durchkommen kann. Als Mutmacher für andere, um ihnen die Angst zu nehmen. Und genau das war auch die Rückmeldung, die ich bekommen habe: Zehntausende haben sich meine Videos angeschaut, tausende haben mir geschrieben. Die einen wollten sich für die authentische Kommunikation bedanken, für das Teilnehmenlassen an meinen Höhen und Tiefen. Andere haben geschrieben: Man kann Ihrer Stimme anhören, wie es Ihnen wirklich geht. 

 

"Das Worst-Case-Szenario für mich
hatte ich nie im Kopf"

 

Das hätte von einem ermutigenden Beispiel aber auch schnell zu einem abschreckenden werden können, wenn die Krankheit bei Ihnen einen anderen Verlauf genommen hätte!

 

Ein solches Worst-Case-Szenario hatte ich nie im Kopf. Vielleicht weil es einfach nicht meine Art ist. Worüber ich mir schon Gedanken gemacht habe, vor allem an dem Tag, an dem ich plötzlich schlechter Luft bekam: Wie gestalte ich ein Video, wenn ich plötzlich ins Krankenhaus muss? Ich hatte mir schon die Sätze zurechtgelegt, die ich dann vom Krankenbett aus gesagt hätte. Das wäre nicht melodramatisch geworden, sondern nüchtern. Kein Runterspielen der Situation, aber optimistisch. Sorgen habe ich mir die ganze Zeit mehr um andere gemacht als um mich.

 

Um wen besonders?

 

Um meinen Lebenspartner Steven und um meine 95 Jahre alte Mutter. Ich denke, das ist normal, dass es nicht die abstrakten 30.000, 40.000 oder 50.000 Infizierten sind, um die man sich sorgt, sondern um die Lieben im eigenen Umfeld. Bei Steven sorgt mich, dass wir im selben Haushalt leben und dass, so sehr ich mich bemühe, eine Ansteckung nie ausgeschlossen sein kann. Bisher geht es ihm aber zum Glück gut. Noch mehr Gedanken macht mir die Schutzlosigkeit meiner Mutter. Sie lebt allein in ihrer Wohnung in Stuttgart, wir haben ihr Leben so organisiert, dass sie das selbstständig kann, mit Treppenaufzug, mit Pflegekräften, die ihr beim Duschen helfen, mit einem Physiotherapeuten, einer Putzhilfe und mit einem Hausarzt vom alten Schlag, einem, der Hausbesuche macht. 

 

Viele Menschen, die das Virus ins Haus bringen können.

 

Und dieses Virus kann bei einem biblischen Alter von 95 ein Todesurteil bedeuten. Ich erinnere mich noch an ein Telefonat vor zwei Wochen, als ich mit meiner Mutter lange hin- und herdiskutiert habe. Wir haben dann gemeinsam entschieden, dass wir ihre Pflege weiterlaufen lassen. Weil das Virus, wenn sich Arzt und Helfer schützen können, noch das kleinere Übel ist als die Gefahr, wenn meine Mutter zu Hause auf sich allein gestellt wäre. Der Arzt meiner Mutter zum Beispiel kommt nur noch mit Schutzmaske, desinfiziert sich die Hände, bevor er sie berührt, und hält ansonsten zwei Meter Abstand. 

 

"Es ist ein Skandal, dass wir mangels Schutzkleidung unsere
Ärzte und Pflegekräfte einer solchen Gefahr aussetzen"

 

Immerhin hat er eine Schutzmaske.

 

Sie sprechen da einen ganz wichtigen Punkt an. Der Hausarzt meiner Mutter ist einer der Glücklichen, der Schutzausrüstung hat. Ich bekomme Unmengen Mails von Ärzten und von Pflegekräften, die von einer erschreckenden Mangelsituation berichten. Das sind die Stimmen von der Front. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass wir in Deutschland so eine Situation haben würden: dass wir Menschen, die wir im Augenblick am dringendsten brauchen, die sich für das Wohl der Erkrankten und Schwachen einsetzen, einer solchen Gefahr aussetzen. Bei Lichte betrachtet: ein Skandal. Ich war immer im Glauben, dass unser Land über Lager mit Schutzausrüstung verfügt; nicht für alle, aber ausreichend für Ärzte und Pflegepersonal. Inzwischen hören wir sogar aus den USA, dass dort Beatmungsgeräte und Intensivbetten für die Behandlung der Coronapatienten knapp werden. Ich kann nur hoffen, dass wir in Deutschland zumindest um diese nächste Klippe herumkommen.  

 

Ist das ein Skandal, den wir als Gesellschaft insgesamt zu verantworten haben? Haben wir uns nicht alle zu sehr in Sicherheit gewiegt?

 

Sicher nicht wir alle. Bill Gates hat vor einem halben Jahrzehnt davor gewarnt, dass tödliche Viren biologisch das sind, was Atomwaffen technologisch bedeuten. Wir haben Sars erlebt, die Schweine- und die Vogelgrippe, spätestens da hätte die Politik reagieren und Vorratslager anlegen müssen mit genügend Schutzkleidung. Und warum hat die Bundesregierung nicht viel früher die Flüge aus Krisengebieten wie Iran oder China gestoppt? Warum wurden die Passagiere nicht auf ihren Gesundheitszustand untersucht? Diese operative Schläfrigkeit sehe ich ganz klar als politisches Versäumnis. Ich sage aber auch: jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Schuldzuweisungen. In der gegenwärtigen Krise spüre ich selbst bei mir, dass die Lust am politischen Kampf gegen null geht. Im Moment sind wir gut beraten, denen, die in der Verantwortung stehen, jede mögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Aber eines Tages werden wir Bilanz ziehen und lernen müssen. Es gab auch 2012 eine Notfallplanung für die Bundesregierung, die die Lehren aus Sars zog.

 

Viele sagen, die Bundesrepublik wird nach Corona nicht mehr die alte sein. Stimmen Sie dem zu?

 

Ganz ehrlich? Die Frage beschäftigt mich gerade am wenigsten. Wenn wir Glück haben, sind wir vielleicht zu einem Viertel durch die erste Phase der Pandemie durch, die Phase der extrem steigenden Infektionszahlen. Und jetzt kommen schon die Auguren, die von der Welt danach faseln. Ich höre, die Zukunft gehöre dem humanistischen Kapitalismus, ich lese von der Wiederentdeckung der Einsamkeit und Entschleunigung. Das bisherige Wirtschaftsmodell habe ausgedient und so weiter. Da geht mir die Hutschnur hoch, das sind die Bänkelsänger, die es schon im Mittelalter gab, die Weltverbesserer, die ihre alten Mottenkisten jetzt im Corona-Gewand präsentieren. Nein, um über sowas nachzudenken, fehlt mir die Zeit. 

 

"Das sind die Weltverbesserer, die ihre alten Mottenkisten
jetzt im Corona-Gewand präsentieren"

 

Was beschäftigt Sie stattdessen?

 

Mich beschäftigt, wie wir möglichst schnell eine Balance hinbekommen zwischen dem noch lange nötigen strikten Schutz der am stärksten gefährdeten Menschen und der Notwendigkeit, die massiven Einschränkungen unserer Freiheiten bald wieder zu lockern. Ich verfolge mit Sorge, dass die Frauenhäuser überfüllt sind. Die häusliche Gewalt wächst in der Isolation, auch unzählige Kinder sind gefährdet. Dass Teile unserer Gesellschaft sozial verroht sind, wissen wir nicht erst seit Corona, aber jetzt sperren wir sie auch noch auf engstem Raum ein. Und noch etwas treibt mich um: Wie viele 1,5-Billionen-Rettungspakete, inklusive des gesamten Garantierahmens der Bundesregierung, kann diese Republik eigentlich im Worst Case aufbringen? Wenn wir jetzt über Monate diese extremste Kasernierung durchhalten und die Bevölkerung komplett durchtesten, hinterher aber eine kaputte Wirtschaft haben, dann herzlichen Glückwunsch! Wir müssen jetzt über vertretbare Ausstiegsszenarien aus der Stilllegung der Wirtschaft und aus der sozialen Isolation nachdenken. Das sind die Fragen, die mich beschäftigen. Diese esoterischen Nach-Corona-Redner, die jetzt gesellschaftsutopische Blogs schreiben, weil sie keine Redeaufträge mehr haben, die paralysieren uns als Gesellschaft, die machen uns nicht handlungsfähig. 

 

Wie könnte ein Ausstiegsszenario, ein kontrolliertes Wiederhochfahren des öffentlichen Lebens nach einigen Wochen, wie es ja auch die Leopoldina in ihren jüngsten Empfehlungen anmahnt, aussehen?

 

In Südkorea gibt es mittlerweile 500 und mehr Testkliniken und Test-Drive-ins, ähnlich wie McDonald’s, wo man in Minuten auf Corona getestet wird. So eine Infrastruktur massenhafter Tests brauchen wir auch bei uns. Wenn dann noch die Tests, was ja absehbar ist, so weiterentwickelt werden, dass sie in Minuten eine passable Trefferquote liefern, dann könnte man von Tag zu Tag entscheiden, wer arbeitsfähig ist und wer nicht. 

 

Warum führt Deutschland nicht längst schon tägliche repräsentative Stichproben durch, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie verbreitet das Coronavirus tatsächlich ist?

 

Der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI) verspricht, dass wir bald soweit sind. Mir persönlich hat sich noch nicht erschlossen, was dem – abgesehen von zu viel Bürokratie – im Weg steht. Es stellt sich doch grundsätzlich die Frage, auf welcher Datengrundlage die Bundesregierung eigentlich ihre Entscheidungen trifft, die schwerwiegende Freiheitseinschnitte für uns alle bedeuten. Natürlich bin ich hochgradig irritiert, dass es den Wissenschaftlern der Johns-Hopkins-Universität seit Wochen gelingt, schneller und genauer zu sein bei der Erfassung der Infektionszahlen als das RKI. Vermutlich arbeitet Johns Hopkins im Gegensatz zum RKI mit Big Data. Realistische Zahlen, die wir im Augenblick nicht haben, machen am Ende den Unterschied, wenn es darum geht, das tatsächliche Gefährdungspotenzial einzuschätzen. Das ist übrigens kein rein deutsches Problem. 

 

Wie meinen Sie das?

 

Auch andere Länder haben, falls sie repräsentative Stichproben machen, diese kaum veröffentlicht, das lässt Zweifel an den international verbreiteten Statistiken aufkommen. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir die Vermutung, dass die offizielle Datenlage in China – so gut wie keine Neuinfektionen mehr – möglicherweise auch deshalb so positiv ist, damit die Menschen dort die Wiederaufnahme des Wirtschaftslebens akzeptieren. 

 

"Deutschland war auch mal ein Land der
Gesundheitsforschung, aber das ist lange her."

 

Deutschland lobt sich gern als innovatives Land. Ist die Bundesrepublik innovativ genug, um bei der Lösung der Corona-Krise eine entscheidende Rolle zu spielen?

 

Vor ein paar Wochen war ich auf einer Veranstaltung von BASF und German U15 zusammen mit dem BASF-Vorstandsvorsitzenden Brudermüller, und der sagte sinngemäß: Vor zehn, 15 Jahren habe sein Unternehmen den größten Teil seiner Forschung in Deutschland gemacht, heute nur noch zu einem Drittel. Der Rest passiere in den USA und Asien. Was auch etwas darüber aussagt, wo heute die klügsten Leute hingehen. Wir reden hier vom Kern der Biotechnologie. Neben der Künstlichen Intelligenz und der Raumfahrt zählen die Life Sciences zu den größten Zukunftsfeldern der Menschheit, doch in Deutschland haben wir sie seit der Jahrtausendwende verteufelt, woran besonders die Grünen unter ihrem damaligen De-Facto-Wirtschaftsminister Jürgen Trittin die Hauptverantwortung tragen. 

 

Dafür, dass Ihre Lust am politischen Kampf derzeit gegen null geht, sind das recht deftige Worte. Handelt es sich nicht vor allem um eine Frage der gesellschaftlichen Kultur insgesamt?

 

Da haben Sie sicher auch Recht. Deutschland ist das Land der Maschinen, der Anlagen und Autos. Deutschland war auch mal ein Land der Gesundheitsforschung, aber das ist lange her. Ich muss mir nur mal den Forschungsetat der öffentlichen Hand ansehen, davon geht der weit überwiegende Teil in Technik und Maschine, ein paar Prozent in Daten und KI und ein Hauch mehr in die Biotechnologie. Den weit überwiegenden Teil der Gesundheitsforschung stemmen die privaten Unternehmen.  

 

Gerade erst hat aber ein deutsches Unternehmen, CureVac, Aufsehen erregt, weil es offenbar weit ist mit der Entwicklung eines Corona-Impfstoffs. 

 

Ja, aber mit welchem Geld sind die denn groß geworden? Mit dem Geld des SAP-Gründers Dietmar Hopp, der in der Öffentlichkeit ständig beleidigt wird, und mit dem Geld der amerikanischen DARPA. Nicht die deutsche Wirtschaftsförderung, nicht irgendwelche weitsichtigen Banken, nein, der angeblich irre Dietmar Hopp und die amerikanische Rüstungsagentur DARPA haben dafür gesorgt, dass CureVac heute noch am Leben ist. Wie groß unser kulturelles Problem ist, habe ich neulich auch auf der besagten Veranstaltung mit Herrn Brudermüller erlebt.

 

"Vielen in der Automobilindustrie kommen 

die Stilllegungen gar nicht so ungelegen."

 

Da war ja einiges los.

 

Das war eine der skurrilsten Veranstaltungen, die ich seit längerer Zeit erlebt habe. Gastgeber waren wie gesagt BASF und der Universitätsverbund German U15. Die haben mit flammenden Reden behauptet, in Deutschland werde die Grundlagenforschung heruntergeredet, und zwar von denen, die sich für Transfer und Translation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft einsetzen. Entschuldigen Sie mal, habe ich gesagt, in Wirklichkeit ist es doch genau umgekehrt: es werden diejenigen heruntergemacht, die dem Transfer und der Translation das Wort reden! Und dabei wird ausgeblendet, dass durch eine jahrelange politische und mediale Meinungsmache ein Gutteil der Hochrisiko-Forschung aus Deutschland fortgejagt wurde. Das ist haarsträubend. 

 

Sie reden nicht gern über die Zeit nach Corona, aber wird die Krise in der Hinsicht vielleicht doch etwas verändern? 

 

Dann muss ich Unbequemes sagen. Bevor die Infektionswelle losging, konnten wir den Beginn einer industriellen Rezession beobachten. Die wird nun komplett überlagert durch all die Hilfspakete, die unbedingt notwendig sind und die ich auch gar nicht in Frage stellen möchte. Doch eine Rezession bedeutet immer auch eine Bereinigung, die Beseitigung von Ineffizienzen. Marktaustritt von Unternehmen, die nicht zukunftsfähig sind,  Ökonomen sprechen von Zombie-Unternehmen. Und diese Reinigung fällt jetzt womöglich aus und uns später wieder auf die Füße. Zudem habe ich den Eindruck, dass vielen in der Automobilindustrie der Shutdown und die damit verbundenen Stilllegungen gar nicht so ungelegen kommen. Da sind über zehn Jahre so viele Entwicklungen und Innovationen verpasst worden, doch seit Corona redet keiner mehr über Elektromobilität, Wasserstoff, Abgasnormen. Wir brauchen nach der Krise ein massives Investitionsprogramm für Innovation.

 

Wir ziehen im Moment also auch die mit, die besser nicht mitgezogen werden sollten?

 

Wie gesagt: Ich sehe keine Möglichkeit, im Augenblick bei den Hilfsmaßnahmen zu differenzieren. Insofern sind die Mitnahmeeffekte das kleinere Übel, damit die gesunden Strukturen, gerade die im Mittelstand, gerettet werden können. 

 

"Im Moment behelfen sich viele
Lehrer mit einer Guerilla-Taktik"

 

In der Krise liegt eine Chance: Könnte sich der Satz zumindest in der Bildung bewahrheiten? Die Digitalisierung in Schulen und Hochschulen ging lange Zeit schleppend voran – kommt jetzt aus der Not heraus wirklich der große Sprung nach vorn?

 

Die Chance besteht immer. Ich fürchte, dass unsere Wirtschaft langfristig geschwächt wird durch die Krise. Digitalökonomien sind die Gewinner. Bei der Bildung, in der öffentlichen Verwaltung und in der Medizin könnten wir dagegen gewaltig aufholten – wenn denn schnell gehandelt wird. Der erste Eindruck war allerdings nicht gut. Die öffentlich betriebenen Lernplattformen sind reihenweise unter der Masse an Usern eingeknickt, die Server haben das nicht gepackt. Dabei sind wir in Sachen Content eigentlich gut aufgestellt. Die privatwirtschaftlichen Angebote sind ja da, die Schulen müssen sie aber auch nutzen können. Insofern bin ich sehr froh, dass Bund und Länder sich jetzt geeinigt haben, Mittel aus dem Digitalpakt für Content zur Verfügung zu stellen, also für Bildungsinhalte und Lizenzen von Edutec-Anbietern, nicht nur für die Infrastruktur. Aber auch das reicht noch nicht. 

 

Was braucht es noch?

 

Die größte Sorge der Schulen und der Lehrkräfte ist zurzeit die Rechtssicherheit: Was dürfen Sie aus Gründen des Datenschutzes nutzen und was nicht? Im Moment behelfen sich viele Lehrer mit einer Guerilla-Taktik, hier ein bisschen Zoom, da ein bisschen E-Mail, kurzum: alles, was geht. Da stehen die Länder in der Pflicht, statt langwieriger Zertifizierungen unverzüglich Positivlisten mit seriösen Plattformen und Anbietern zur Verfügung zu stellen, damit die Schulen aus dem Dilemma raus sind. Dass Baden-Württemberg den Schulen ausgerechnet die Nutzung von Office 365 erlaubt hat, ist etwas kurios. Aber immerhin ein erster schüchterner Schritt, politisch Verantwortung zu übernehmen. Wenn jetzt noch die Lehrerfortbildung forciert wird, wenn möglichst schnell niedrigschwellige Online-Angebote ausgerollt werden: dann wird das Jahr 2020 kein verlorenes Bildungsjahr. Noch haben wir es in unseren Händen. 

 

Dieses Interview erscheint auch bei Tagesspiegel.de.



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