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Gefährlicher Stresstest

Die Ausgangsbeschränkungen treffen Eltern und Kinder mit besonderer Härte. Es drohen Konflikte und Gewalt. Nicht nur die Wirtschaft, auch die Familie braucht jetzt ein Hilfsprogramm, wenn sie nicht zerstört werden soll. Ein Gastbeitrag von Dieter Dohmen und Klaus Hurrelmann.

Foto: Dmitry G/Wikimedia Commons.
Foto: Dmitry G/Wikimedia Commons.

DIE VON BUND und Ländern beschlossenen Einschränkungen der sozialen Kontakte im öffentlichen und privaten Raum erscheinen notwendig und gerechtfertigt, um die exponentielle Wachstumskurve bei den Neuerkrankungen abzuschwächen, die Versorgung in den Krankenhäusern in einem Rahmen zu halten, den diese bewältigen können, und somit auch möglichst vielen Menschen, die am Coronavirus erkranken, das Leben zu retten. Die damit verbundenen Einschränkungen für Unternehmen aller Größenordnung haben bei vielen Menschen den Verlust der Einkommensquelle zu Folge, was durch Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld aufgefangen wird. Bei anderen ersetzt das Homeoffice den bisherigen Arbeitsplatz. Beides ist für viele Menschen in der einen oder anderen Form belastend und herausfordernd. Für Eltern – und noch stärker bei Alleinerziehenden – kommt hinzu, dass gleichzeitig Kindertagesstätten und Schulen geschlossen wurden, sodass die Kinder nunmehr den ganzen Tag zu Hause sind. Das "soziale System Familie" wird einem Stress-Test noch nie gekannten Ausmaßes unterworfen, und es besteht das große Risiko sehr ernster psychischer und sozialer Konsequenzen für die Familien.

 

Wenn die Eltern von zu Hause aus arbeiten müssen, bedeutet das eine enge Verschmelzung von Beruf und Privatleben, die es für viele Menschen in dieser Form lange nicht mehr gegeben hat. Hinzu kommt die Erziehung und – jetzt in deutlich größerem Umfang als unter normalen Umständen – die Verantwortung für die Bildung der Kinder. Beides ist für Familien ungewohnt. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich nicht nur das Erwerbsleben der Eltern, sondern auch die Erziehung und Bildung der Kinder erheblich stärker als früher aus den Familien heraus und in die Kindergärten und Schulen verlagert. In der Soziologie wird von einer "Ausdifferenzierung" solcher Tätigkeiten in spezielle soziale Systeme gesprochen. Sie sind jetzt (vorübergehend?) alle in die Familie zurückgekehrt: Privatleben, Berufsleben und zusätzlich noch Erziehung und Bildung, in vielen Familien auch Pflege von Angehörigen, sie alle versammeln sich im klein gewordenen System Familie, das hierdurch sehr stark gefordert, und nicht selten auch überfordert wird. Die Unterstützung des Lernens der Kinder ist schon im normalen Alltag vielfach eine Herausforderung, die in Streit, Frust und Enttäuschung enden kann. Wenn jetzt die Eltern faktisch die Hauptverantwortung für das tägliche Lernen der Kinder haben, und diese dabei auch noch maßgeblich unterstützen müssen, dann verstärkt dies den Druck auf beide Seiten. >>


Klaus Hurrelmann ist Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School, University of Governance in Berlin und Senior Expert am FiBS. Der Soziologe hat über viele Jahre die Shell-Jugendstudie geleitet. Fotos: privat.

Dieter Dohmen ist Inhaber und Direktor des FiBS Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie in Berlin. Er arbeitet seit 30 Jahren als Forscher und Berater und hat jetzt die Plattform ElternHotline.de initiiert. 



>> Auch sonst gerät die Familie psychisch und gesundheitlich unter Druck: Der bisherige Tagesrhythmus ist weg, damit auch die Rituale und Rhythmen, die dem Tag Struktur und Sinn gegeben haben. Die körperliche Gesundheit ist in Gefahr, weil das Ausmaß der Bewegung noch weiter als bisher unter das Maß reduziert wird, das die Weltgesundheitsorganisation für notwendig hält, damit der Stoffwechsel in Gang bleibt, die Lunge durchlüftet wird und der ganze Körper immunisiert bleibt – auch wenn Sport und Bewegung außerhalb des Haushalts nicht verboten wurden, sondern ausdrücklich erlaubt sind. Vor allem Kinder und Jugendliche brauchen Bewegung, um sich abzureagieren und die Balance von Körper und Psyche aufrecht zu erhalten. Die Gefahr von Gesundheit durch Übergewicht, Muskelabbau, mangelnder Durchblutung und Fehlernährung wächst – und das bei ohnehin schon hohen Anteil von 15 Prozent der Jugendlichen, sechs Prozent sind fettleibig.

  

Es ist ungewohnt, dass Arbeit, Familienleben und Privatleben auf engem Raum von morgens bis abends zusammen stattfinden. Dieses Work Live Blending ist immer mal wieder der Traum vieler Menschen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass Arbeit und privates Leben vollständig voneinander abgegrenzt werden. Jetzt aber besteht die Gefahr, dass der Traum zu einem Albtraum wird. Drei, vier oder mehr Menschen bewegen sich (fast) den ganzen Tag auf einem relativ engen Raum, und die Kontaktsperre, so notwendig sie mit Blick auf die Begrenzung der Streuung des Coronavirus‘ auch ist, verschärft die Gefahr unzureichender Bewegung und Distanz. Man hockt halt doch den ganzen Tag aufeinander, und es besteht die Gefahr, dass es dem einen oder anderen schnell langweilig wird – und dass der entstehende Frust an anderen ausgelassen wird. Spannungen und Konflikte sind programmiert. 

 

Dauerhafte Konflikte,
Streitereien und Gewalt

 

Gleichzeit steigt für andere die Gefahr der Überforderung durch die Bewältigung der verschiedenen neuen Anforderungen, die alle auf einmal kommen und die fast zwangsläufig einfach zu groß werden. Dauerhafte Konflikte, Streitereien und Gewalt können aufbrechen, die drohenden wirtschaftlichen Engpässe und die Zunahme der Armut können zu Verzweiflungstaten führen, wenn zu alledem noch Existenzängste dazukommen. Berichte von überfüllten Frauenhäusern und Expertenwarnungen vor elterlichen Kindesmisshandlungen schrecken auf. 

 

Bei Beschäftigten im Niedriglohnsektor, bei Selbstständigen und Unternehmern kann sich die Lage schnell zuspitzen, weil ein reales Risiko für einen wirtschaftlichen Absturz und materielle Not entsteht. Die finanziellen Unterstützungsprogramme für viele Zielgruppen werden zwar einem großen Teil helfen, vielen – und insbesondere kleinen und kleinsten Unternehmen oder Selbständigen – aber auch nicht, so unsere Befürchtung. Auch Depression, Angst, Schlafstörungen, innere Unruhe und Panikattacken können die Folge sein. Es muss damit gerechnet werden, dass Suizide als Verzweiflungstaten häufiger werden. Die Hilfesysteme können oft kaum noch erreicht werden, sie sind schon heute überfordert.  

 

Was ist zu tun? Alle – Eltern und Kinder – brauchen Hilfe, um den Alltag zu organisieren. Eine feste Tagesstruktur herzustellen, gemeinschaftlich den zeitlichen und sozialen Rhythmus beschließen und konsequent umsetzen, feste soziale Regeln aufstellen, wie sie die Kinder aus Kita und Schule und die Eltern aus den Betrieben gewohnt sind. Verbunden mit klaren Sanktionen, wenn diese Regeln nicht eingehalten werden. Es ist jetzt besonders wichtig, sehr höflich und sehr sorgfältig miteinander umzugehen. Der soziale Abstand soll draußen gehalten werden, drinnen lebt man außerordentlich eng, und das geht nur gut, wenn man die Umgangsformen verfeinert und sichert. 

 

Überfordert sind
jetzt die meisten

 

Schließlich ist der Wechsel von Gemeinschaft und Individualität äußerst wichtig, gemeinsames Essen mit festem Ritual und dann die Möglichkeit zu einem privaten Rückzug, bei dem man in keiner Weise gestört wird. Das sind jetzt ganz wichtige Muster, die alle Familien einführen müssen. In Krisenfällen wäre die Verfügbarkeit von Notrufen von größter Bedeutung. 

 

Keine Frage: Die Ertüchtigung des Gesundheitssystems hat jetzt oberste Priorität. Aber daneben braucht nicht nur die Wirtschaft ein Förderprogramm, um durch die Krise zu kommen. Auch die Familien benötigen ein solches Programm. Eines mit finanziellen Hilfen für die armen Haushalte und eines mit sozialen Hilfen für alle, die jetzt überfordert sind, und das sind die meisten. 

 

Die Familien brauchen Rat und Unterstützung. Wie wäre es, wenn der NDR seinen Podcast zu den epidemiologischen Auswirkungen der Coronakrise durch einen zu den psychischen und sozialen Auswirkungen ergänzen würde? Viele Institutionen sind jetzt systemrelevant, zwar haben die Kitas und Schulen Notbetreuungen eingerichtet, aber die Familien und Eltern und deren Nöte, Herausforderungen und psychische Belastungen wurden bisher dabei weitgehend vergessen. Eltern und Kinder brauchen dringend Informationen nicht nur über die gefährliche Ausbreitung des Virus und seine Folgen, sondern auch zur Bewältigung der enormen Herausforderungen im plötzlich völlig veränderten Familienleben. Angebote, die sie bei der Suche nach Lernhilfen und Inhalten im Netz unterstützen, bei der Organisation des Tagesablaufs helfen oder aber Hinweise geben, wie Bewegung und Entspannung trotz der Einschränkungen und der gleichzeitigen Koordination verschiedener Aufgaben ermöglicht werden können. 

 

Früher bezeichnete man die Familie gern als die Keimzelle der Gesellschaft. In der Tat ist diese soziale Institution derartig wichtig für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, dass wir es uns nicht leisten können, dass der zerstörerische Coronavirus in sie eindringt. Nicht nur die Wirtschaft, auch die Familie braucht jetzt ein Hilfsprogramm, wenn sie nicht zerstört werden soll.



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Kommentare: 1
  • #1

    Dr. S. Plahuta (Mittwoch, 01 April 2020 11:43)

    Ihr Beitrag spricht mir in vielem - fast allem - aus dem Herzen.

    Eine Ergänzung hätte ich noch.

    Warum sollten Eltern im Netz nach Lerninhalten suchen? Es gibt zwar ein riesiges Angebot, das meiste ist aber weder didaktisch noch inhaltlich brauchbar. Um gute Angbote zu finden, muss man sich schon ziemlich gut mit den Lehrplänen seiner Kinder und Didaktik auskennen und dann noch beurteilen können, ob die angebotenen Themen inhaltlich richtig aufgearbeitet sind. Die meisten Eltern können das (im Moment) nicht leisten - aus zeitlichen wie intellektuellen Gründen. Wenn Eltern jetzt Bildungsaufgaben eigenverantwortlich übernehmen, verstärkt das die ohnehin große Bildungsungerechtigkeit nur noch mehr.

    Ich sehe hier die Schule als System und vor allem die Lehrkräfte der Kinder in der Pflicht. Dieser kommen sie aus meiner persönlichen Erfahrung im Moment nicht nach.

    Es wäre die Aufgabe der Schulen und der Lehrkräte, gute Lernangebote im Netz zu finden und den Eltern und SchülerInnen zur Verfügung zu stellen. Die Lehrkräfte sind schließlich nicht im Urlaub sondern ebenfalls im Homeoffice.