Die neue Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) über Spitzenforschung, Hochschulfinanzierung, Frauen und Männer – und warum die DFG auch die Studierenden im Blick hat: Katja Becker im Interview.
Fotos: Kay Herschelmann.
Frau Becker, wenn man Ihnen seit Ihrem Amtsantritt als DFG-Präsidentin zuhört, fällt auf, wie oft Sie das Wort "Diversität" benutzen. Hatten wir davon bislang in der deutschen Wissenschaft zu wenig?
Auf jeden Fall gibt es Länder, die weiter sind als wir. Als ich vor ein paar Jahren für ein Forschungssemester in die USA ging, wurde ich als erstes gebeten, an einem ganztägigen Workshop teilzunehmen, Thema: Wie interagiere ich erfolgreich mit Menschen aus anderen Kulturen? Es ging um Wertschätzung der Forschenden persönlich und um die grundsätzliche Bedeutung von Vielfalt für die Qualität von Wissenschaft. Am Ende haben wir Teilnehmer sogar einen Test über unsere interkulturellen Kompetenzen absolviert. Ich fand das einen sehr guten Ansatz.
Ein Workshop allein schafft noch kein Diversitätswunder.
Aber er zeigt, dass Vielfältigkeit, um das deutsche Wort zu nutzen, als Wert anerkannt und explizit gefördert wird. In Deutschland gehen wir oft davon aus, dass die Menschen schon irgendwie klarkommen miteinander. Ich will damit nicht sagen, dass in den USA alles besser läuft oder dass dort alles, was theoretisch so hochgehalten wird, im Alltag funktioniert. Wir sehen ja die großen Probleme, die auch die Vereinigten Staaten mit der gesellschaftlichen Integration haben. Aber von diesem Bewusstsein für Diversität bis in die Führungsetagen hinein, davon können wir etwas lernen.
Was genau bedeutet Diversität für Sie eigentlich?
Sie bedeutet auf jeden Fall mehr als das, was wir im Augenblick darunter verstehen. Auch bei der DFG betrachten wir immer noch vor allem die Gleichstellung von Mann und Frau. Aber Diversität im Sinne von Chancengleichheit erstreckt sich auf alle denkbaren Dimensionen der Ungleichheit: auf die soziale und ethnische Herkunft, die sexuelle Orientierung, das Lebensalter, auf mögliche Behinderungen. Ich möchte, dass wir uns bei der DFG künftig von diesem Verständnis der Vielfältigkeit leiten lassen, dass wir es zum Gegenstand unseres täglichen Handelns machen und auch unsere Begutachtungs- und Entscheidungsprozesse daraufhin überprüfen.
Katja Becker, 55, ist die erste Frau an der Spitze der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der größten Forschungsförderungsorganisation Deutschlands. Zuvor war die Gießener Biochemikerin und Medizinerin seit 2014 DFG-Vizepräsidentin. Seit zwanzig Jahren hat sie eine Professur für Biochemie und Molekularbiologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen; dort war sie von 2009 bis 2012 Vizepräsidentin für Forschung und Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Becker studierte Humanmedizin an der Universität Heidelberg; dort wurde sie 1991 promoviert. 1995 habilitierte sie sich in Biochemie, ebenfalls in Heidelberg. Becker forschte und arbeitete in Australien, Nigeria, Kalifornien, Großbritannien und in der Schweiz. Sie hat zahlreiche Ämter im deutschen Wissenschaftssystem inne, wurde mehrfach für ihre wissenschaftliche Leistung mit Preisen ausgezeichnet, und sie ist Mitglied in mehreren wissenschaftlichen Gesellschaften. Katja Becker ist Mutter einer erwachsenen Tochter.
Das hört sich so ambitioniert wie abstrakt an. Können Sie es konkretisieren?
Es ist auch deshalb ambitioniert, weil uns an vielen Stellen die Daten fehlen. Wir wollen die von mir genannten Dimensionen der potentiellen Ungleichheit aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes im Einzelfall ja gar nicht erheben, weder bei den Gutachtenden noch bei den Antragstellenden. Wir können aber schauen, ob wir auf Basis der verfügbaren Datensätze und sonstiger Quellen Hinweise auf mögliche Schieflagen finden, die wir dann weiterverfolgen können.
"Das ist in der Natur genauso: Der Regenwald entwickelt sich dynamischer als die landwirtschaftliche Monokultur."
Macht Diversität die Wissenschaft besser?
Davon bin ich überzeugt: Diversität ist eine zentrale Voraussetzung für exzellente Wissenschaft, aus zwei Gründen. Erstens muss ich, damit die besten Köpfe in die Forschung gehen, allen Menschen ohne Ansehen der Person, allein unter Berücksichtigung ihrer Talente, die gleichen Chancen geben. Zweitens, und das treibt mich genauso stark um, ermöglicht erst Diversität neue Perspektiven und wirkliche Innovationen. Das ist in der Natur genauso: Der Regenwald entwickelt sich dynamischer als die landwirtschaftliche Monokultur. Rückbezogen auf die Wissenschaft heißt das: Je mehr Dimensionen der Diversität zusammenkommen – bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, bei den Förderformaten und Themen, auch bei den internationalen Kooperationen –, desto mehr spannende neue Kombinationen und Forschungsergebnisse wird es geben. Diversität und Exzellenz, die Begriffe sind für mich untrennbar.
Und doch wurde Diversität in Deutschland lange anders diskutiert. Ex-Kanzler Schröder hätte wohl von "Gedöns" gesprochen.
Das mag so sein, aber wir spüren alle, wie der Diskurs sich verändert, welchen Wandel unsere Gesellschaft vollzieht, Stück für Stück. Was auch wieder viel mit Impulsen zu tun hat, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Je mehr sich die Wissenschaft öffnet, desto stärker wirken wir im Übrigen auch den Vorbehalten und Ängsten in Teilen der Bevölkerung entgegen. Denen, die meinen, da forsche eine abgehobene Elite, ohne einen Blick für die Bedürfnisse der Gesellschaft zu haben. Wenn die Wissenschaft sozial vielfältiger wird und dabei noch erfolgreicher, dann begreift womöglich die Gesellschaft als Ganzes ihre eigene Diversität noch mehr als die große Stärke, die sie ist.
Die Gegenwart in Deutschlands Wissenschaft sieht so aus: Nicht einmal ein Viertel der Professoren sind weiblich, nicht mal zehn Prozent haben einen ausländischen Pass. Arbeiterkinder gibt es kaum unter Hochschullehrern, und Spitzenforscher aus Einwandererfamilien können Sie an einer Hand abzählen. Wenn, wie Sie sagen, Diversität eine Voraussetzung für Exzellenz ist, heißt das doch: Die deutsche Wissenschaft hat den Zug zur Exzellenz verpasst, oder?
Die Exzellenz eines Wissenschaftssystems hat viele Voraussetzungen, und von diesen sehe ich eine ganze Reihe in Deutschland sehr gut realisiert, deutlich besser als in vielen anderen Ländern. Die außeruniversitären Forschungseinrichtungen und auch die DFG haben Dank des Paktes für Forschung und Innovation eine Ausstattung und Planungssicherheit, die sehr gute Forschungsarbeiten ermöglichen. Unsere Forschungslandschaft ist insgesamt sehr vielfältig, mit guten Infrastrukturen, mit Universitäten und Forschungsinstituten, die einander fast ideal ergänzen. Hinzu kommt die Wissenschaftsfreiheit in unserem Land, die großartige Möglichkeit, frei, erkenntnisgeleitet und der persönlichen Neugier folgend zu forschen, wofür auch und gerade die DFG steht. Auch die massiven Investitionen in die Internationalisierung der Wissenschaft in den vergangenen zehn, 20 Jahren waren wichtig. Aber natürlich bleibt ein Delta – zumal die Welt um uns herum sich ja auch weiterentwickelt hat. Denken Sie an den Aufstieg Chinas, die Krise in der Türkei, die Migration nach Europa. Also: Wir haben den Zug nicht verpasst. Aber wir müssen unsere Sicht auf die Dinge kontinuierlich überprüfen und unsere Handlungen und Angebote entsprechend anpassen.
"Wir müssen auch altgedienten Forscherinnen
und Forschern mehr Möglichkeiten einräumen"
Tatsächlich gibt es auch heute unter den älteren Wissenschaftlern viele, die in Gleichstellung und Diversität alles Mögliche sehen, aber nicht die Förderung von Exzellenz. Was sagen Sie denen?
Ich sage ihnen, dass auch ältere Männer von mehr Diversität profitieren werden. Ich habe vorhin ja gesagt: Mir sind alle Dimensionen wichtig. Dazu gehört auch, dass wir altgedienten Forscherinnen und Forschern mehr Möglichkeiten einräumen müssen. Ich denke gerade über eine zusätzliche Programmlinie für Senior Researchers nach. Wir sollten auch hier von anderen Ländern lernen. Im Moment werden einige unserer besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern abgeworben, die bei uns die Altersgrenze erreichen und dann zum Beispiel nach China gehen – mit all ihrer Lebenserfahrung und ihren einzigartigen wissenschaftlichen Netzwerken. Wenn wir hier etwas ändern, hilft das den Betreffenden vielleicht auch, die Bedeutung der anderen Dimensionen von Diversität für die Exzellenz besser erkennen zu können.
Muss eigentlich immer erst eine Frau kommen, um in einer Organisation das Thema Diversität so entschieden zu pushen?
Es gibt doch auch Männer, die sich für Gleichstellung einsetzen. Bei der DFG waren dies in den letzten Jahren oft Vizepräsidenten. Auch die forschungsorientierten Gleichstellungsstandards hat sich die DFG gegeben, als ein Mann Präsident war, nämlich Matthias Kleiner. Natürlich auch immer umgeben von einigen Vizepräsidentinnen, was ja an sich ein positives Signal ist.
Sie sehen also keinen Unterschied?
Ich argumentiere gern mit wissenschaftlichen Studien. Diese belegen zum Beispiel, dass Frauen im familiären Umfeld immer noch mehr Aufgaben übernehmen als Männer. Dass sie dadurch in ihrem Alltag stärker multitasken müssen als Männer. Und ich bin mir sicher, dass ihnen das hilft, auch im Berufsleben die Bedeutung der verschiedenen Perspektiven und Dimensionen manchmal schneller erkennen zu können als Männer.
Die Vielfalt in der Wissenschaft beginnt in der Vielfältigkeit der Studierendenschaft. Müsste sich die DFG als Forschungsförderer nicht viel entschiedener für die Chancengleichheit im Studium einsetzen?
Die DFG interessiert sich sehr für die Studierenden und ihre Studienbedingungen. An den Hochschulen geht es ja nicht nur um die Grundkenntnisse wissenschaftlichen Arbeitens. Wir brauchen Professorinnen und Dozenten, die nicht nur irgendwie Forschung machen, sondern auch die Begeisterung, die sie selbst für die Wissenschaft empfinden, authentisch an die nächste Generation vermitteln können. Die den Studierenden sagen: Mensch, ist das nicht faszinierend, was wir hier erforschen können? Damit so eine Begeisterung aufkommt, braucht es natürlich die entsprechende Atmosphäre an den Hochschulen, und diese hat viel mit einer auskömmlichen Finanzierung zu tun.
"Die DFG steht doch gar nicht
in Konkurrenz zu den Hochschulen"
Auch Ihr Vorgänger hat immer wieder eine bessere Finanzierung der Hochschulen angemahnt und kritisiert, dass die Drittmittel, auch die der DFG, angesichts der desolaten Grundfinanzierung eine zu große Bedeutung erlangt hätten. Läge da nicht die Schlussfolgerung nahe, der DFG mal eine Wachstumspause zu verordnen – und die Aufwüchse direkt an die Hochschulen zu geben?
Die Förderung von Wissenschaft ist eine der besten Investitionen, die wir als Gesellschaft überhaupt tätigen können. Insofern halte ich es unabhängig von meiner Rolle als DFG-Präsidentin für sinnvoll, dass eine Forschungsförderorganisation wie die unsere regelmäßige Budgetaufwüchse erhält. Dass wir den Pakt für Forschung und Innovation haben, dass dieser uns jährlich ein Plus von drei Prozent ermöglicht, ist eine wunderbare Voraussetzung für unser weiteres Arbeiten und ein Verdienst auch meiner Vorgänger im Präsidentenamt. Gleichwohl muss man realistischerweise auch sagen: Die drei Prozent gleichen wenig mehr als die Inflation und die steigenden Personalkosten aus.
Eine Sorge, die viele Hochschulen gern hätten.
Ich will die unverändert bestehenden Asymmetrien in der Finanzierung des Wissenschaftssystems gar nicht kleinreden. Zum Glück hat sich der Druck zuletzt etwas verringert. Zwischen 2010 und 2015 war er so massiv, dass die Universitäten mehr als 30 Prozent ihres Budgets aus Drittmitteln bestreiten mussten, danach hat sich der Wert bei etwa 27 Prozent eingependelt. Immer noch zu hoch, aber immerhin stabil.
Ich merke schon: Der Vorschlag, zugunsten der Grundfinanzierung der Hochschulen auf einen Teil des Pakt-Aufwuchses zu verzichten, wird von der DFG bei allem Mitleid nicht kommen.
Die Idee blitzte einmal kurz auf. Ich glaube aber nicht, dass das klug wäre. Die Universitäten stellen den Großteil unserer Mitglieder, sie erhalten die Mittel von der DFG ja ohnehin, unter Wettbewerbsbedingungen natürlich. Die Grundfinanzierung der Hochschulen wird hauptsächlich anhand der Studierendenzahlen berechnet, da liegt eine ganz andere Finanzierungssystematik zugrunde, die ja auch ihre Berechtigung hat. Insgesamt steht die DFG doch auch gar nicht in Konkurrenz zu den Hochschulen. Im Gegenteil, sie fördert die beste Forschung an den Hochschulen und ermöglicht Projekte, weitere Differenzierung und Profilbildung. Grundmittel und Drittmittel sollten nicht in Konkurrenz zueinander stehen – genauso wenig, wie Lehre und Forschung zueinander in Konkurrenz stehen sollten.
Wenn das so ist, sollte sich eine DFG-Präsidentin dann nicht auch für mehr BAföG stark machen – oder für mehr bezahlbaren Wohnraum für Studierende?
Die DFG ist eine Forschungsgemeinschaft, als
solche hat sie ihren Platz im Wissenschaftssystem. Trotzdem fördern wir längst Studierende: im Rahmen von Forschungsprojekten zum Beispiel als studentische Hilfskräfte. Das Studium ist die erste Etappe auf dem Weg in eine wissenschaftliche Karriere, und so setzt sich auch die DFG-Förderung fort: über Graduiertenkollegs und Promotionsstellen, wobei es nicht nur um die Stellen geht, sondern auch um das Umfeld, die Labore und Einrichtungen, damit Studierende und Promovierende eigenständig Forschung betreiben können. Auch mit dem Deutschen Studentenwerk sehe ich Schnittmengen: bei der Förderung internationaler Studierender zum Beispiel, bei Dual Career und Kinderbetreuungsangeboten für junge Forschende. Hier engagiert sich auch die DFG sehr.
Aber die Forderung nach einem höheren BAföG werden wir von Ihnen nicht hören?
Falls wir den Eindruck bekommen, da gerät etwas aus der Balance bei der Studienförderung, werden Sie von mir persönlich durchaus etwas hören, keine Frage. Das gleiche gilt für die Situation beim studentischen Wohnraum. Im Augenblick sehe ich beispielsweise deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Studienorten. Pauschale Forderungen zu erheben, würde mir zurzeit aber schwer fallen.
Apropos pauschale Forderungen: Was halten Sie von Stimmen, die 100-Prozent-Stellen für alle DFG-geförderten Doktoranden verlangen?
Das wird aktuell kontrovers diskutiert, aber neu ist die Debatte nicht. Gegenwärtig unterscheidet sich die Situation stark von Fach zu Fach und auch von Förderorganisation zu Förderorganisation.
Die DFG sieht eine Vergütung auf Teilzeitbasis vor.
Theoretisch ist es schon heute möglich, in jedem Fach Stellen zu 100 Prozent zu finanzieren. Als DFG setzen wir uns dafür ein, dass die zuständigen Fachkollegien autonom und fächerspezifisch darüber entscheiden können. Ich halte das für richtig – besser, als wenn wir von oben zu strikte Vorgaben machen würden. Wir beobachten auch so einen deutlichen Trend zur Anhebung der Vergütung. 2018 wurden nur noch sechs Prozent als 50-Prozent-Stellen bewilligt. 52 Prozent der Doktoranden hatten 66-Prozent-Stellen, 18 Prozent lagen bei 75 Prozent und 22 hatten Vollzeit-Stellen.
Was sagen Ihnen diese Zahlen?
Sie spiegeln die unterschiedlichen Fächerkulturen wider. Auffällig ist allerdings, dass Frauen häufiger in Disziplinen promovieren, in denen eine niedrigere Teilzeitvergütung der Standard ist. Dies sind systematische Effekte, die wir beobachten. Sie haben uns veranlasst, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die den Hintergründen nachgeht. Unabhängig davon weiß ich nicht, ob ich mir als Doktorandin überhaupt eine 100-Prozent-Stelle wünschen würde.
"Wir prüfen, ob wir den Schnitt über alle Fächer hinweg
auf 75-Prozent-Doktorandenstellen anheben können"
Weshalb?
Einerseits würden dann alle Promovierenden gleich behandelt, das wäre natürlich wunderbar. Anderseits hätten Sie dann nicht mehr die 30 oder 50 Prozent Freiheit vom Lehrstuhl, die Ihnen die Teilzeit-Verträge ermöglichen. Diesen inneren Freiheitsgrad sagen zu können: Heute gehe ich ein paar Stunden spazieren, um einfach mal in Ruhe nachzudenken oder mit anderen zu diskutieren. Für das eigene Projekt ist das auch ein hohes Gut. Und noch etwas: Wenn ein Professor momentan zwei Doktoranden hat und er erhöht die Stelle des einen von 50 auf 100 Prozent, dann kann er künftig nur noch einen finanzieren. Dies hätte gravierende Auswirkungen auf das Hochschulsystem insgesamt. Auch für uns als Forschungsförderer wären die Effekte massiv: Wir müssten mehr Mittel pro Stelle ausgeben und könnten dann natürlich insgesamt weniger Forschungsprojekte fördern.
Wofür plädieren Sie?
Wir überprüfen aktuell, ob wir empfehlen können, den Durchschnitt über alle Fächer hinweg auf mindestens 75 Prozent anzuheben – natürlich unter Beibehaltung der Autonomie der Fachkollegien. Bei 75 Prozent wären die Einschnitte für das Fördersystem vielleicht noch verkraftbar, und die Promovierenden würden trotzdem sehen, dass sich etwas bewegt und dass ihre Arbeit honoriert wird.
Bund und Länder haben beschlossen, eine eigene Förderorganisation für Innovationen in der Hochschullehre einzurichten. Was halten Sie von einer DFG für die Lehre?
Unabhängig davon, ob die Analogie passt, sehe ich alles, was die Qualität der Lehre fördert, als Bereicherung. Wir brauchen begeisterte Hochschullehrer und Studierende. Die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz schaffen neue Bedingungen, neue Lernmöglichkeiten und Methoden. Auch völlig neue Studiengänge entstehen. In solch einer Situation ist es unerlässlich, in die Lehre zu investieren.
Haben Sie als alteingesessene Förderorganisation einen Tipp für die neue?
In der Tat wäre es spannend herauszufinden, inwiefern es Parallelen geben wird zwischen den Organisationen. Ob Erfahrungen, die wir gemacht haben, sich überhaupt übertragen lassen. Ich stehe sehr gern als Gesprächspartnerin zur Verfügung. Einen Rat hätte ich tatsächlich schon. Ich würde auf jeden Fall auf die hohe Qualität der dann geförderten Projekte achten, wie insgesamt auf die Qualitätssicherung aller Prozesse und auch der Mittelverwendung. Und ich würde mich für Diversität einsetzen.
"Wir wollen herausfinden, warum Fachhochschulen vergleichsweise wenig DFG-Mittel einwerben"
Wenn wir schon bei möglichen Pendants zur DFG sind: Die Fachhochschulen fordern die Einrichtung einer Deutschen Transfer-Gemeinschaft. Die DFG habe für sie nicht genügend zu bieten, sagen sie.
Die Förderung von Fachhochschulen ist ein Thema, das mich bewegt. Deshalb habe ich eine Arbeitsgruppe eingerichtet, der ich persönlich vorsitze. Wir wollen herausfinden, woran es tatsächlich liegt, dass Fachhochschulen vergleichsweise wenig DFG-Mittel einwerben. Warum auch die Förderangebote, die wir speziell für Fachhochschulen eingerichtet haben, beispielsweise die Projektakademien, die in sie gesetzten Erwartungen noch nicht erfüllt haben. Ob und wie man die Angebote eventuell optimieren kann.
Haben Sie eine Theorie?
Zunächst einmal ist Fachhochschule nicht gleich Fachhochschule. Einige sind sehr gut ausgestattet, betreiben Forschung auf hohem Niveau und stellen auch bei der DFG sehr erfolgreich Anträge. Andere haben weniger Ressourcen und fast keinen Mittelbau, ihre Professorinnen und Professoren haben oft eine sehr hohe Lehrbelastung. Von diesen Kolleginnen und Kollegen zu fordern, dass sie jetzt auch noch alle DFG-Anträge stellen, ist vielleicht gar nicht gewollt oder angemessen.
Würde zu denen eine Transfer-Gemeinschaft besser passen?
Die Deutsche Transfer-Gemeinschaft ist ein Modell, das zurzeit intensiv diskutiert wird, und vielleicht würde sie tatsächlich funktionieren. Allerdings orientieren wir uns bei der DFG stärker an dem aktuellen Votum des Wissenschaftsrates. Dieser hat gerade erst deutlich gemacht, dass die Antworten nicht immer in neuen Formaten und gesonderten Förderlinien bestehen müssen, sondern dass man die bestehenden Formate erst einmal entsprechend anpassen sollte. Das versuchen wir gerade. Auch wollen wir alle ja keine Sonderzonen für einzelne Institutionen. Wissenschaftlich gesehen handelt es sich ja zunehmend eher um fließende Übergänge als um scharfe Grenzen. Ich möchte an dieser Stelle auch einfach noch einmal sagen: Fachhochschulen sind in praktisch allen unserer Programme antragsberechtigt. Vielen Menschen scheint das immer noch nicht klar zu sein.
Bei der Transfer-Gemeinschaft geht es aber um etwas ganz Anderes als die typische DFG-Förderung.
Aber gerade das sehen wir ja und reagieren darauf! Nehmen Sie unser neues Tri-Lat-Programm zwischen Hochschulen, Fraunhofer-Instituten und Industrie. Eine wunderbare Gelegenheit auch für die Kolleginnen und Kollegen von den Fachhochschulen, die ihren Schwerpunkt im Technologietransfer haben. In der Erforschung von Malaria und tropischen Krankheiten habe ich selbst oft an den Schnittstellen zwischen Grundlagenforschung, Medikamentenentwicklung und Industrie gearbeitet. Ich bin eine große Verfechterin der neugiergetriebenen, erkenntnisgeleitenden Forschung. Ich bin davon überzeugt, dass es fatal wäre, wenn wir in Deutschland nur noch Programmforschung betreiben würden. Doch zugleich ist mir die enorme Bedeutung des Transfers sehr bewusst.
Dieses Jahr feiern Sie 100 Jahre "Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft", die Vorläuferorganisation der DFG und haben dazu eine millionenschwere Kampagne gestartet. Unter anderem fahren Schauspieler, sobald es die Corona-Situation wieder erlaubt, in einem Expeditionsbus im "DFG2020-Look" durchs Land und machen Station, um mit ganz normalen Menschen über Wissenschaft ins Gespräch zu kommen. Braucht die DFG auch den Blick nach innen, auf den Zustand ihrer eigenen Organisation?
Unser Jubiläumsjahr wirkt nach außen und nach innen. Natürlich ist die Wissenschaftskommunikation von zentraler Bedeutung, wir müssen uns als Wissenschaft stärker öffnen als bislang, die Menschen mitnehmen, ihnen die Grundlagen wissens- und wissenschaftsbasierter Entscheidungen erklären. Wie funktioniert Wissenschaft? Was tun Forscher? Was tut ein Forschungsförderer? Worin liegen die Chancen und Risiken, wo vielleicht auch die Grenzen von Wissenschaft? Im Übrigen halte ich eine Million Euro Kampagnenkosten bei einem DFG-Jahresbudget von fast 3,5 Milliarden für sehr maßvoll.
Und was passiert nach innen? In die DFG hinein?
2013 hat die DFG ein Papier zu ihrem Selbstverständnis und ihrer Position im Wissenschaftssystem verabschiedet. Das aktualisieren wir gerade. Im Kern bleibt unsere Mission unverändert, doch wir sagen, was Forschungsförderung beispielsweise angesichts von Internationalisierung, Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz bedeutet.
Müsste es in der DFG nicht eine grundsätzliche Debatte über die Transparenz ihrer Entscheidungswege und -gremien geben?
Die DFG hat die Aufgabe, größtmögliche Transparenz zu verbinden mit der größtmöglichen Vertraulichkeit dort, wo sie erforderlich ist. Das ist eine schwierige Balance. Ich persönlich bin der Meinung, sie gelingt der DFG hervorragend, aber womöglich müssen wir das der Öffentlichkeit noch deutlicher vermitteln.
Was gelingt hervorragend?
Wir sichern unseren Antragstellenden zu, dass wir die Forschungsideen, mit denen sie zu uns kommen, vertraulich behandeln in den Gremien, die für die Begutachtung zuständig sind. Wir sichern unseren Gutachtenden Vertraulichkeit zu – auch, soweit es rechtlich erforderlich ist, was die Abwägungen im Vorfeld ihrer Entscheidungen anbetrifft.
Und wo ist da die Transparenz?
Die Transparenz entsteht aus der breiten Legitimation, die die DFG als Organisation genießt. Über 10.000 Gutachterinnen und Gutachter sind ehrenamtlich für die DFG tätig. Die Vertreter unserer Mitgliedseinrichtungen, vor allem der Hochschulen, üben ihre Kontrollrechte über Mitgliederversammlung und Senat aus. Die über 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Fachkollegien werden aus der breiten wissenschaftlichen Community heraus und von dieser gewählt. Die Fachkollegien bewerten die Anträge im direkten Vergleich und tauschen sich auch untereinander aus, um fächerspezifische Unterschiede wahrnehmen und bei Bedarf ausgleichen zu können. Über den Hauptausschuss sind auch die Politik aus Bund und Ländern, die der DFG das Steuergeld zuteilen, eingebunden. Und den gesamten Förderprozess hindurch gibt es eine strikte „Gewaltentrennung“ zwischen Begutachtung, Bewertung und Mittelvergabe. Ich finde das sehr transparent und der Bedeutung einer freien und sich selbst verwaltenden Wissenschaft in unserem Lande angemessen. Und trotzdem habe ich eine Liste mit 20 oder 30 Punkten, meist kleinere Aspekte, kleine Stellschrauben, über die Abläufe weiter optimiert und an aktuelle Bedarfe angepasst werden können.
Dieses Interview erschien in kürzerer Fassung zuerst im DSW Journal 1/2020.
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Jens Kortner (Donnerstag, 02 April 2020 14:41)
Zur Diversität: Das klingt alles ganz vernünftig und zeitgemäß. Aber alles kann man übertreiben. Daher zwei Warnungen:
Erstens, Diversität sollte nicht zum Anlass genommen werden, Einzel- oder Gruppeninteressen gegenüber anderen zu bevorzugen, Stichwort: sachfremde Erwägungen. Die Maßstäbe müssen für alle gleich bleiben, die eigentliche Diversitätsarbeit dürfte in den Vor- und Rahmenbedingungen liegen. (Zum Beispiel sollte im Sprachbereich überlegt werden, ob Genderneutralität statt Gendergerechtigkeit das zu verfolgende Ziel ist.)
Zweitens, über Diversität und Internationalität sollte man den Wert des Eigenen nicht vergessen. Also auch des Deutschen, auch wenn das für einige nationalistisch oder verstaubt klingt. Konkret: Wo ist z.B. die Pflege und Förderung des Deutschen als Wissenschaftssprache? Wäre dies nicht ein wichtiger Kanal, um niedrigschwellig Forschung für die breite Öffentlichkeit erfahr- und verstehbar zu halten?
tmg (Freitag, 03 April 2020 11:59)
Ich gehöre zu den oben von Herrn Wiarda so bezeichneten "älteren Wissenschaftlern, die in Gleichstellung und Diversität alles Mögliche sehen, aber nicht die Förderung von Exzellenz". Warum wie von Frau Kollegin Becker oben behauptet, "Diversität eine zentrale Voraussetzung für exzellente Wissenschaft" sein soll, erschließt sich mir logisch argumentativ nicht. Eine solche Voraussetzung würde übrigens auch bedeuten, dass es in den vergangenen Jahrtausenden keine exzellente Wissenschaft gegeben hätte. Absurd.
Als politische Forderung ist Diversität sicherlich berechtigt - die Akzeptanz dieser Forderung wird durch gewaltsame Kausalitätskonstruktionen der obigen Form aber eher erschwert.
Kollegin Becker kündigt oben an, "dass wir uns bei der DFG künftig von diesem Verständnis der Vielfältigkeit leiten lassen, dass wir es zum Gegenstand unseres täglichen Handelns machen und auch unsere Begutachtungs- und Entscheidungsprozesse daraufhin überprüfen." Wenn das bedeutet, dass der Qualitätsanspruch der DFG partiell aufgeweicht werden soll zu Gunsten von Diversitätskriterien, würde ich persönlich mir überlegen, ob ich dann noch als DFG-Gutachter zur Verfügung stehen möchte, und das sehen viele andere Kollegen ebenso.
muppet (Freitag, 03 April 2020 12:19)
Als Doktorand mit einem "Teilzeit-Vertrag", muss ich sagen, dass ich die Ausführungen von Frau Becker für ein wenig realitätsfremd halte:
"Anderseits hätten Sie dann nicht mehr die 30 oder 50 Prozent Freiheit vom Lehrstuhl, die Ihnen die Teilzeit-Verträge ermöglichen. Diesen inneren Freiheitsgrad sagen zu können: Heute gehe ich ein paar Stunden spazieren, um einfach mal in Ruhe nachzudenken oder mit anderen zu diskutieren."
Die Finanzierung von wissenschaftlichen Mitarbeitern durch Teilzeit-Verträge führt ja nicht dazu, dass diese Menschen dadurch mehr Freiräume für andere Tätigkeiten bekommen, sondern es wird in der Realität die gleiche Erwartungshaltung an Mitarbeiter mit 50% wie mit 100% (in vielen Fachgebieten sind dies häufig die PostDocs) angelegt. Die Argumentation klingt daher aus meiner Sicht, nach einer einfachen Ausrede um die prekäre Beschäftigung der wissenschaftlichen Mitarbeiter zu rechtfertigen.
Klaus Diepold (Sonntag, 05 April 2020 12:04)
Was Frau Becker zum Thema Diversität sagt, kann ich nur unterstützen. Vor allem auch die breite Sicht auf das Thema in möglichst vielen Dimensionen. Ich finde auch, dass es richtig ist, Diversität nicht primär aus einer Haltung der Verringerung von Ungerechtigkeit zu sehen, sondern als einen nachhaltigen Ansatz zur weiteren Entwicklung wissenschaftlicher Exzellenz. In dieser Hinsicht halte ich. es mit Max Planck, der seinerzeit schon zum Ausdruck brachte, dass sich neue Gedanken nicht dadurch durchsetzen, dass alle Etablierten sich überzeugen lassen, sondern dadurch, dass diese mit der Zeit aussterben. Die wissenschaftliche Welt hat sich in den vergangen 30 Jahren massiv verändert und der Prozess geht weiter. Wenn wir in Deutschland international in de Wissenschaft mitreden wollen müssen wir 1. mehr Diversität pflegen und 2. lernen vernünftig Englisch zu sprechen.
Klaus Diepold (Sonntag, 05 April 2020 12:12)
Zur Finanzierung von Stellen für Doktoranden: die Argumentation ist für mich nicht stichhaltig, warum z.B. Geistes- und SozialwissenschafterInnen keine 100% Stellen finanziert bekommen. Wenn Spazierengehen und Nachdenken nicht Bestandteil der wissenschaftlichen Arbeit ist und somit nicht vergütet werden soll, warum werden dann die ProfessorInnen in diesen Fachgebieten nicht auch nur zu 66% oder 75% bezahlt?
Ich erlebe das stets als eine große Ungerechtigkeit, wenn DoktorandInnen im Rahmen eines interdisziplinären Projektes Seite an Seite sitzen und arbeiten. Die Ingenieurin bekommt 100% E13, der Psychologe nur 66%. Beide gehen übrigens gemeinsam spazieren um nachzudenken.
HGH (Montag, 13 April 2020 13:30)
Die Geschichte der Fraunhofer Gesellschaft und ihr mühsamer Weg ins Wissenschaftssystem führte über die DFG, die den Modus der angewandten Grundlagenforschung bzw. der Vorlaufforschung für Projekte mit der Wirtschaft am Ende aus nachvollziehbaren Gründen nicht in ihr Portfolio aufgenommen hat. In einer durchaus vergleichbaren Situation scheint sich gegenwärtig der eigenständige Forschungsmodus der HAWs zu befinden, den das Wissenschaftsystem benötigt. Die Sicherheit, dass die neue Organisation nicht zu Lasten der DFG geht, hat damals entscheidend geholfen. Warum sollte das heute anders sein?