Geht Corona-Bekämpfung auch ohne nationale Egoismen? Es wird gehen müssen –wenn die reichen Länder nicht eine noch größere Krise riskieren wollen.
Ausschnitt der COVID-19-Karte der Johns-Hopkins-Universität vom 07. April 2020 (Screenshot).
MUSS DIE CORONA-KRISE automatisch auch eine Krise des internationalen Miteinanders sein, ein Hoch für Autoritarismus, nationale Chauvinismen und Ellbogen-Politik? Vieles deutet darauf hin. US-Präsident Donald Trump sprach im Zusammenhang mit COVID-19 schon häufiger vom "Chinese Virus"; Ungarns Premierminister Viktor Orbán hat eine Art Ermächtigungsgesetz durchs Parlament gebracht; Polens Regierungspartei PiS bewegt sich am Rande des Verfassungsbruchs, um ihre Macht abzusichern; und die Warnungen, dass in den Flüchtlingslagern an den EU-Außengrenzen ein humanitäre Katastrophe bevorstehen könnte, finden kaum noch ihren Weg auf die vorderen Seiten deutscher Tageszeitungen. Weil da schon alles mit innerdeutschen Corona-Ängsten und Bedrohungen voll ist.
Über die Wendung der Gesellschaften des reichen Westens nach innen, über die realen Gefahren für die Menschen hierzulande und die sich abzeichnende beispiellose Wirtschaftskrise blenden wir aus, dass nicht die Menschen in Deutschland, auch nicht die in Frankreich und selbst nicht die in Italien oder Spanien diejenigen sind, denen die Corona-Krise am meisten Leid zufügen wird.
Es sind die Menschen des globalen Südens, in den weniger und am wenigsten entwickelten Ländern, von denen die meisten offiziell bislang kaum Infizierte zählen. Dadurch, dass sie weniger international vernetzt sind, waren sie möglicherweise zunächst weniger vom Virus betroffen bislang. Vielleicht haben sie aber auch nur nicht die Möglichkeiten, die aufkommenden Infektionsfälle zu registrieren. Klar ist: Ihre Gesundheits- und Sozialsysteme würden einem heftigen Ausbruch der Pandemie wehrlos ausgesetzt sein. Kein eiliges Aufstocken von Intensiv- und Beatmungskapazitäten. Keine Teilnahme am internationalen Bieterwettstreit um Schutzmasken. Keine Milliarden-Hilfspakete für Arbeitnehmer und Unternehmen.
Können wir auch nur erahnen, was ein solches Szenario mit der Stabilität ganzer Staaten machen würde, und was deren Instabilität wiederum für den Rest der Welt bedeuten würde, gerade auch für den Westen, der derzeit ein Allheilmittel gegen das Virus darin sieht, seine Grenzen dichtzumachen?
Manche vermeintlich komplexe Frage
macht Corona ganz einfach
2018 bereits hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) den umstrittenen Satz gesagt, die Migration sei die "Mutter aller Probleme". Abgesehen von der Geschichtsvergessenheit eines solchen Satzes – alle menschliche Entwicklung ist und war zu allen Zeiten durch Migration, Verschmelzung und gegenseitige kulturelle Beeinflussung geprägt – offenbart er eine Geisteshaltung, die in der aktuellen Krise noch gefährlicher ist.
Nicht die Migration, nicht der Druck auf die EU-Außengrenzen ist das Problem, sondern ihre Ursachen – für deren Bekämpfung sich diejenigen, die am lautesten die Hardliner geben, selten interessieren. Und wenn jetzt selbst innerhalb Europas die EU-Staaten ihre Grenzen dichthalten, profitiert davon – angesichts ähnlich hoher Infektionszahlen und ähnlich strikter Gegenmaßnahmen – kaum die Gesundheit der Bevölkerung. Sehr wohl aber leidet der europäische Zusammenhalt noch stärker, wenn Europas Politiker sich auf solche Weise gegenseitig ihr Misstrauen bescheinigen.
Keine Frage, die Ursachen von Migration sind, um Fontane zu bemühen, "ein weites Feld"; komplex und widersprüchlich, unendlich kostspielig. Was oft genug als Anlass genommen wird, mit dem Suchen nach Antworten gar nicht erst anzufangen. Doch, und das macht die Corona-Krise so besonders, genau das gilt im Augenblick nicht. Im Moment gilt eine ganz einfache Gleichung: Jede Hilfe, jede humanitäre Unterstützung, die Deutschland und andere wohlhabende Staaten in der gegenwärtigen Lage in Afrika, dem Nahen Osten und anderswo leisten, verkleinert die Migrationsbewegungen von morgen. Und nur wenn die EU schleunigst die versprochene Lösung für die griechische Flüchtlingskrise liefert, wird sie ihren ethisch-moralischen Führungsanspruch nicht vollends einbüßen.
Muss die Corona-Krise automatisch eine Krise des internationalen Miteinanders sein? Es gibt Signale, leise Zeichen, dass es auch anders sein kann. Dazu gehören die über 100 beatmungspflichtigen COVID-19-Patienten, die Deutschlands Bundesländer aus Frankreich, Italien und den Niederlanden aufgenommen haben. Dazu gehört, dass die Bundesregierung nach starker Gegenwehr vor allem von Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) am Montag beschlossen hat, zumindest die Grenzen zu Belgien und in die Niederlande doch offenzuhalten. Noch am Wochenende hatte es so ausgesehen, als würde demnächst auf deutscher Seite auch an den Übergängen nach Belgien, in die Niederlande, nach Polen und Tschechien kontrolliert werden. Gefordert hatte das: Horst Seehofer.
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