Das letzte halbe Jahr hatten sie Schule auf See und sind durch
die Welt gereist. Jetzt kehren ein paar Dutzend Teenager in die Heimat zurück. Doch die ist nicht mehr die alte. Ein Interview mit ihrer
Lehrerin Miriam Frank.
Unterricht an Bord der Pelican. Fotos: Ocean College.
Frau Frank, Sie betreiben eine der wenigen deutschsprachigen Schulen auf der Welt, die trotz Corona noch offen sind. Wie kann das sein?
Das liegt daran, dass wir keine normale Schule sind. Das Ocean College ist ein Segelschiff, auf dem Jugendliche ein halbes Jahr durch die Welt reisen und, statt daheim im Klassenzimmer zu sitzen, ihren Unterricht auf See haben. Bei gutem Wetter auf den Planken an Deck.
Dafür, dass Sie über die Weltmeere segeln, ist die Telefonverbindung sehr gut.
Weil wir heute Morgen im Hafen von Portland in England angekommen sind. Wir befinden uns auf dem Weg nach Hause. Runter vom Schiff dürfen wir aber nicht wegen Corona. Wir bekommen Dieselnachschub und ein paar Nahrungsvorräte über die Reling gereicht, unseren Müll dürfen wir auch da lassen. Mehr nicht.
Willkommen in Europa. Bestimmt haben Sie sich die Ankunft zu Hause anders vorgestellt.
Eigentlich sollte unsere Reise in Bordeaux enden, dort hätten unsere Schülerinnen und Schüler von ihren Eltern abgeholt werden sollen. Aber das ist zurzeit unmöglich. Darum ist jetzt in Cuxhaven Endstation.
Miriam Frank, 29, ist Biologielehrerin und Projektleiterin beim Ocean College.
Wann haben Sie zum ersten Mal von Corona erfahren?
Die ersten Nachrichten, dass das Virus in Europa angekommen ist, haben wir noch erhalten, bevor wir von den Bermudas abgesegelt sind. Anfang März war das. Aber da konnte keiner absehen, was das noch für Ausmaße annimmt. Mitten auf dem Atlantik haben wir dann die Ansage bekommen, dass die Azoren, unser nächster Stopp,
dichtmachen. Dass wir dort nicht an Land gehen können. Auch dort hat man uns nur mit dem Nötigsten versorgt, dann mussten wir weiter.
Wie genau läuft das Leben an Bord ab?
Wir sind 43 Leute, die meisten zwischen 15 und 17 Jahre alt. Wir Lehrkräfte sind dafür verantwortlich, dass unsere Schüler nach dem halben Jahr ohne große Probleme wieder in ihren normalen Schulalltag einsteigen können. Wir helfen ihnen also dabei, ihren regulären Stoff durchzuarbeiten. Gleichzeitig versuchen wir, den Unterricht auf dem Schiff so zu gestalten, dass wir auf den Erfahrungen, die die Schüler mit uns machen, aufbauen. Ich zum Beispiel bin Biolehrerin. Als wir in Mittelamerika waren, haben wir den Regenwald als Ökosystem behandelt, und auf See ging es um den Ozean. Ich reise nicht um die Welt, um die Bauchspeicheldrüse durchzunehmen. Das kann man auch zu Hause. Bei unseren Landgängen haben wir einen Vulkan bestiegen, wir haben Städte besichtigt und Museen und versucht, mit so vielen Menschen ins Gespräch zu kommen wie nur irgend möglich.
Haben Sie draußen auf dem Atlantik erstmal eine Unterrichtseinheit zu Corona eingeschoben?
Unsere Bordärztin hat den Jugendlichen ihre Fragen beantwortet, soweit das angesichts des noch eingeschränkten Wissens über das Virus bereits möglich war. Wir haben uns auch ein Erklärvideo besorgt und gemeinsam angeschaut und besprochen. Erstmal ging es darum, den Schülern ihre Angst zu nehmen. Sie müssen sich vorstellen, auf See erreichen einen immer nur fetzenweise Informationen, was gerade in Europa vor sich geht. Das verunsichert.
"Zum Glück lässt uns das Bordleben
nicht viel Zeit zum Grübeln."
Welche Fragen hatten Ihre Schüler?
Die waren dieselben wie überall. Wenn vor allem ältere Menschen gefährdet sind, was ist mit unseren Großeltern? Mit Freunden und Verwandten mit Vorerkrankungen? Hinzu kam aber das diffuse Gefühl, dass da etwas vor sich geht, dessen Tragweite wir nicht einschätzen können. Während wir weit weg sind, werden zu Hause Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ergriffen, die beispiellos sind. Immerhin: Seit wir uns wieder in Küstennähe befinden, können unsere Jugendlichen zu Hause anrufen und fragen, ob alles in Ordnung ist. Und zum Glück lässt uns das Bordleben ansonsten gar nicht viel Zeit zum Grübeln.
Wieso?
Unser Schiff ist 45 Meter lang und sieben, acht Meter breit. Die Jugendlichen sind in Vierer- oder Sechserkabinen untergebracht, auf ein paar Quadratmetern, die einzige Privatsphäre, die sie haben, ist ihr Bett. Sie lernen auf dem engen Raum zwangsläufig, auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht zu nehmen und auch ihre eigenen Bedürfnisse deutlich zur Geltung zu bringen. Das ist neben dem Unterricht das zweite, was bei uns bei Ocean College wichtig ist. Die Jugendlichen lernen Selbstorganisation, Durchhaltewillen und das Übernehmen von Verantwortung. Das gilt ganz besonders für unsere Mentoren, die sind schon 18 oder 19, haben einen Schulabschluss, machen bei uns eine Segelausbildung und spielen eine besondere Rolle an Bord.
Am Ostermontag wollen Sie in Cuxhaven einlaufen. Dann sind Sie zurück in der realen Welt. Trübt das die Freude, nach Hause zu kommen?
Der Abschiedsschmerz ist spürbar. An Bord sind enge Freundschaften entstanden. Umgekehrt freuen sich natürlich alle, ihre Eltern und Geschwister wiederzusehen – und wieder unbeschränkten Zugang zu frischem Essen zu haben. Auf einer wochenlangen Ozeanüberquerung lernen sie den Wert eines frischen Apfels erst so richtig zu schätzen. Ansonsten haben wir sicherlich noch gar nicht richtig realisiert, was uns erwartet. Frustrierend ist, dass die Treffen mit lang vermissten Freunden zu Hause erstmal flachfallen werden. Genau wie der Besuch im heißgeliebten Dönerladen. Die Ausgangsbeschränkungen dagegen werden uns wahrscheinlich nicht viel ausmachen. Wir sind ja alle gewöhnt, längere Zeit auf engstem Raum zu leben.
Müssen Sie erstmal alle in Quarantäne?
Alle rechtlichen Details kenne ich noch nicht. Aber ich kann es mir nicht vorstellen. Denn wir waren wochenlang auf See, durften in den letzten Häfen nicht mehr raus. Wir sind wie eine Quarantäne-Station. Und im Gegensatz zum Rest Europas garantiert coronafrei.
Das Ocean College
Jedes Jahr im Oktober startet das Ocean College. Die Reise des Segelschiffes "Pelican" führt an der Westküste Europas entlang, über die Kanarischen Inseln und die Kap Verden bis in die Karibik. Anschließend geht es weiter nach Mittelamerika und von dort über Kuba, die Bermudas und die Azoren zurück nach Hause.
Unterwegs sind zahlreiche Landaufenthalte und Projekte vorgesehen, auf See wird täglich unterrichtet.
Wer als Schüler/in mitmachen will, sollte zu Beginn der Reise mindestens 15 Jahre alt sein. Alle Oberschularten sind möglich. Segelkenntnisse sind nicht erforderlich. Wer als Mentor/in an Bord gehen will, sollte bereits die Schule abgeschlossen haben. Die Kosten für sechs Monate Segeltrip, Unterricht, Verpflegung, Vorbereitungswochenende usw. sind allerdings sehr hoch: Sie betragen nach Angaben von Ocean College 25.000 Euro.
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Gerd Faulhaber (Mittwoch, 08 April 2020 12:58)
Danke für diesen Bericht. Ich hatte bisher noch nie etwas vom Ocean College gehört.