Sobald es um die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit bestimmten Staaten geht, pendelt die Debatte zwischen moralischer Aufgeblasenheit und naiver "Anything goes"-Mentalität. Zeit für eine nüchtern-rationale Betrachtung. Ein Gastbeitrag von DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee.
Joybrato Mukherjee. Foto: Kay Herschelmann.
Ob CHINA, IRAN ODER RUSSLAND, die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Institutionen aus sogenannten "schwierigen Partnerländern" gerät derzeit schnell in schweres Fahrwasser. "Dual Use", Missbrauch geistigen Eigentums, Wissensabfluss aus kooperativen Projekten oder Überwachungstechnologien im Hörsaal sind nur vier Stichworte aus einer langen Liste mit Herausforderungen, um die sich Hochschulen und Forschungseinrichtungen in der internationalen Zusammenarbeit Gedanken machen müssen. Die öffentliche Debatte darüber, wie mit schwierigen Partnerländern und den mit ihnen zusammenhängenden Herausforderungen umzugehen ist, bietet dabei bislang für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Hochschulleitungen wenig konkrete Anhaltspunkte für eigene und differenzierte Entscheidungen.
Einen generellen Bezugsrahmen bieten die kürzlich von der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) beschlossenen Leitlinien und Standards zur internationalen Hochschulkooperation; innerhalb dieses Rahmens in individuellen Kooperationskontexten konkret zu handeln, bleibt eine Aufgabe, der auch wir als Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) uns stellen.
Als DAAD sind wir auch unter schwierigen Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Staaten verpflichtet. Dies hat für uns drei unabdingbare Gründe: Erstens schaffen wissensbasierte Fakten Freiräume für unabhängiges Denken, derer die Menschen in schwierigen Kontexten und unter autoritären Regimen besonders dringend bedürfen. Dies sollten gerade wir Deutschen mit unserer Geschichte nicht vergessen.
Zweitens lassen sich die großen globalen Herausforderungen im Zeitalter des Anthropozäns nur im internationalen Schulterschluss bewältigen. Dem Klimawandel oder aktuell dem Coronavirus sind Staatsgrenzen und unterschiedliche Wissenschaftssysteme egal. Drittens liegt es im Interesse der deutschen Wissenschaft, in weltumspannenden Netzwerken zu forschen, zu lehren – und zu reüssieren.
Die gesamte Wissenschaftsszene eines Landes zu ächten,
kann für uns keine ernsthafte Option sein
Der Ruf nach kategorischen "roten Linien", den wir zuletzt häufiger hören konnten, ist daher in diesem Zusammenhang wenig hilfreich. Zumal: Was tun, wenn die einmal definierten roten Linien überschritten werden? Die gesamte Zusammenarbeit mit einem Land abbrechen, die Wissenschaftsszene des Landes ächten, die Beziehungen kappen? Kann dies für unsere Zusammenarbeit mit Staaten wie China, Iran oder Russland wirklich eine ernsthafte Option sein? Wir glauben: Nein.
Daher: Wissenschaftliche Institutionen haben gute Gründe, trotz mancher Herausforderungen die Zusammenarbeit mit ihren internationalen Partnern anzubahnen und auszubauen – oder eben auch einzuschränken und zu beenden. Die Entscheidung sollte aber immer aus einem eigenverantwortlichen, differenzierten und auf den Einzelfall bezogenen Abwägungsprozess hervorgehen.
Doch was sind gute Gründe, die im Einzelfall für oder gegen die Zusammenarbeit mit einem "schwierigen Partner" sprechen? Beim DAAD plädieren wir für eine nüchterne Betrachtung und wollen unsere Mitgliedshochschulen und die Wissenschaftsgemeinschaft bei der Entscheidungsfindung zur internationalen akademischen Zusammenarbeit realitätstauglich unterstützen.
Ein Analyseraster als Hilfestellung
für die Wissenschaft
Daher haben wir ein Analyseraster entwickelt, das sechs für uns grundlegende Kriterien umfasst, die es mit Blick auf Wissenschaftskooperationen sachlich zu bewerten gilt:
1. die Sicherheitslage,
2. die allgemeinpolitische Gebotenheit,
3. der rechtsstaatliche und gesellschaftspolitische Rahmen,
4. die Chancen und Risiken des jeweiligen Wissenschaftssystems,
5. die Leistungsfähigkeit und Passgenauigkeit der wissenschaftlichen Partnerinstitution(en),
6. die Einbettung in die eigene institutionelle Strategie.
Die ersten vier Kriterien beziehen sich auf die politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen, betrachten also den systemischen Kontext.
An erster Stelle steht die Sicherheitslage im Partnerland, insbesondere mit Blick auf vorgesehene Aufenthalte von Studierenden, Lehrenden und Beschäftigten der eigenen Institution – Afghanistan ist dabei eines der Länder, wo die Sicherheitslage derzeit keinen direkten akademischen Austausch zulässt.
An zweiter Stelle genannt ist die politische Gebotenheit der Kooperation angesichts der außenpolitischen Lage, etwa mit Blick auf Sanktionen, Ausfuhrkontrollen und das generelle außenwissenschaftliche Interesse an dem Land, in dem sich die Partnerinstitution befindet. Als Beispiel kann hier das mit internationalen Sanktionen belegte Nordkorea gelten, wo derzeit ebenfalls kaum wissenschaftliche Kooperationen möglich sind.
Drittens muss eine Bewertung der rechtsstaatlichen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen vor Ort und ihres möglichen Einflusses auf die wissenschaftliche Zusammenarbeit erfolgen – und zwar für jedes Partnerland individuell. Wie im Fall der Türkei, mit der viele deutsche Hochschulen umfängliche und langjährige wissenschaftliche Kooperationen pflegen und wo sich gerade seit dem Putschversuch 2016 Rechtslage und gesellschaftliches Klima verändert haben. Viele deutsche Hochschulen bemühen sich, unter diesen schwierigen Bedingungen erfolgreiche und intensive Austauschbeziehungen aufrecht zu erhalten.
An vierter Stelle steht die Frage nach den Chancen und Risiken des jeweiligen Wissenschaftssystems. Zentrale Merkmale für die Bewertung sind die Qualität von Lehre und Forschung, aber auch die fachlichen Schwerpunkte und die strukturelle Passung des jeweiligen Systems. Ganz konkret: Wie gut passen die fachlichen Stärken der Wissenschaft im Partnerland zu denen der eigenen Institution, etwa durch sich ergänzende Fragestellungen oder komplementäre Laborkapazitäten? Zudem: gibt es im Partnerland Institutionen, die bezüglich ihrer Lehrformen, ihrer Forschungsorientierung und ihrer Organisation mit der eigenen vergleichbar sind? Als Beispiel: Eine eng mit der regionalen Wirtschaft vernetzte Hochschule für angewandte Wissenschaften benötigt andere Partner als eine medizinführende Universität oder eine auf die Förderung der individuellen künstlerischen Begabung ausgerichtete Kunst- oder Musikhochschule. Ebenso ist abzuwägen, wie es um "Dual-Use" oder den Missbrauch geistigen Eigentums steht – und um die Bereitschaft, gemeinsam erarbeitetes Wissen zu teilen: alles Themen, mit denen sich viele deutsche Wissenschaftseinrichtungen befassen müssen, die mit chinesischen Partnern kooperieren.
Die letzten beiden Kriterien hingegen konzentrieren sich auf die konkrete Partnerschaft, um die es im Einzelfall geht. Sie beleuchten folglich die institutionelle Perspektive: So muss sich jede einzelne Hochschule – fünftens – Fragen zur Leistungsfähigkeit und zur Passgenauigkeit der wissenschaftlichen Partnerinstitution stellen, genauso zur Ausgewogenheit und zum Ertrag des Austauschs. Und sechstens geht es um die eigene institutionelle Strategie der einzelnen Hochschule in Deutschland: Wie sehr stehen das Zielland und die Partnerinstitution im Fokus der eigenen Internationalisierungsstrategie, wie gut passen sie zum eigenen Forschungs- und Lehrprofil?
Die angemessene Bewertung von Kooperationen
setzt kritische Fragen voraus
Im Rahmen des skizzierten Kriterienkatalogs sind Hochschulen und Forschungsinstitute eigenverantwortlich und individuell gefordert, ihre internationalen Kooperationen zu bewerten und zu gestalten. Sie müssen sich dabei auch mit kritischen Fragen konfrontieren: Wie gehen sie beispielsweise mit einer jahrzehntelangen Partnerschaft mit türkischen Partnerhochschulen um, wenn die Beziehungen herausfordernder werden, und welche gemeinsamen Projekte sind möglicherweise nicht mehr tragfähig? Wie bewerten sie den Aufbau eines Forschungszentrums in China oder die Ansiedlung eines Konfuzius-Instituts in Deutschland? Überwiegen die Chancen die Risiken, und wird die eigene Wissenschaftsfreiheit im Kern gewahrt?
Eine dem Einzelfall angemessene Analyse ist eine anspruchsvolle Aufgabe für jede Hochschule und Wissenschaftseinrichtung. Entsprechend schwierig ist die Beantwortung aller Fragen zu den von uns vorgeschlagenen Kriterien. Deshalb stehen wir unseren Mitgliedshochschulen im DAAD mit dem 2019 gegründeten "Kompetenzzentrum Internationale Wissenschaftskooperationen" zur Seite. Auch werden wir den Kriterienkatalog mit ihnen diskutieren, um die vielfältigen Erfahrungen aus der Praxis mit einfließen zu lassen.
Ein Punkt sollte uns bei der Diskussion rund um "schwierige Partner" stets bewusst sein: Es gibt nicht die eine "rote Linie", die einmal verpflichtend vorgegeben wird und überall gilt. In einem freiheitlich-demokratischen, föderal organisierten Wissenschaftssystem mit autonomen Hochschulen liegt es in der Verantwortung jeder Einrichtung selbst, nüchtern und rational über ihre aktuellen und zukünftigen internationalen Kooperationen zu beraten und zu entscheiden. Dazu braucht es das richtige Handwerkszeug, vor allem aber den Mut zu Aushandlungsprozessen – auch wenn diese schwierig und langatmig sind und viele schnelle und vermeintlich klare Lösungen verlangen.
Wir sollten unsere Hochschulen und Forschungsinstitute stets ermutigen, nicht nur in der "Komfortzone" der Zusammenarbeit mit Partnern, die unsere Wertvorstellungen vollständig teilen, zu verharren. Zum Wohl des Wissenschaftsstandortes Deutschland gehören auch Partnerschaften mit "schwierigen" Partnerländern – wenn und solange sie das Ergebnis nüchterner Analysen und Abwägungen sind.
Joybrato Mukherjee ist Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und Präsident der Universität Gießen.
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