Allmählich wird deutlich, wie ungleich die Folgen der Pandemie-Bekämpfung die Generationen belasten werden. Doch wo bleibt die breite gesellschaftliche Debatte über die angemessene Verteilung der Lockerungen?
DIE BESTANDSAUFNAHME ist schonungslos. Wer in Deutschland die größte Last der Coronakrise tragen werde, fragte der SPIEGEL den Ökonomen Gabriel Felbermayr am Wochenende, und Felbermayr, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), antwortete: "Junge Menschen." Sie litten in besonderer Weise unter den Einschränkungen des Schulbetriebs. Es sei gut erforscht, welche Folgen Schulschließungen in der Vergangenheit, etwa im Zweiten Weltkrieg, gehabt hätten. "Das führte zu Einkommensverlusten bis zur Rente. Wenn die Schulbildung leidet, spüren das die Leute 60 Jahre lang. Und ausgerechnet diese Generation wird dann auch noch für die Schulden aufkommen müssen, die jetzt gemacht werden."
Ähnliche Rechnungen hatte zuletzt das Münchner Ifo-Zentrum für Bildungsökonomik aufgestellt: Wenn nur ein Drittel des laufenden Schuljahres ausfalle, vermindere dies das Lebenseinkommen der betroffenen Schüler womöglich um drei Prozent, warnte der Ifo-Bildungsökonom Ludger Wößmann. Übrigens hatte der Kieler Volkswirt Gabriel Felbermayr im SPIEGEL-Interview auch eine klare Antwort auf die Frage, wer seines Erachtens eher gut durch die Krise komme: "Im Juni werden die Renten erhöht werden, und das sehr ordentlich."
Sind solche Berechnungen zwischen den Generationen, wer "die Zeche zahlt" (Felbermayr), gerechtfertigt und notwendig – oder angesichts der schwersten globalen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg spalterisch? Meine sehr subjektive Antwort: Wir brauchen sie. Und zwar dringend und maximal öffentlich. Denn implizit trifft unsere Gesellschaft seit acht Wochen Entscheidungen, die ausgerechnet die Jungen – diejenigen, die durch die Pandemie selbst am wenigsten gefährdet sind – am meisten belastet. Und gleichzeitig verweigert sie sich einer Debatte über die Folgen der getroffenen Entscheidungen.
Die Gewalt gegen Kinder ist während des Shutdows gestiegen, bestätigen Kinderärzte
So wurde am Freitag bekannt, dass die Anrufe bei der vom Bundesfamilienministerium initiierten Kinderschutzhotline stark zugenommen haben. Allein in den ersten beiden Mai-Wochen sei das Hilfsangebot in mehr als 50 Verdachtsfällen durch medizinisches Personal genutzt worden, sagte der Teamleiter der Hotline, der Kinderarzt Oliver Berthold, der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ). Das seien fast so viele Fälle gewesen wie im gesamten April. "Wir werden teilweise wegen Verletzungen kontaktiert, die sonst nur bei Zusammenstößen mit Autos auftreten", sagte Berthold. "Da geht es um Knochenbrüche oder Schütteltraumata." Betroffen seien besonders Kleinstkinder, die noch nicht selbst laufen können. "Da liegt der Verdacht nahe, dass den Kindern massive Gewalt zugefügt wurde." Bertholds Vermutung: dass im Zuge der ersten Corona-Lockerungen jetzt erst das Ausmaß der Gewaltausbrüche während des Shutdowns deutlich werde.
Eine dramatische Entwicklung – aber wo bleibt der öffentliche Aufschrei? Immerhin: Die Grünen-Parteichefin Annalena Baerbock warf laut Tagesspiegel der Politik Versagen vor. Der Staat habe eine Fürsorgepflicht für die Schwächsten der Gesellschaft. So könne es nicht weitergehen, die Familie gehöre "endlich in den Mittelpunkt der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Folgen." Doch im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stand an diesem Wochenende die Wiederöffnung von Bundesliga und Restaurants.
Sehr aufschlussreich in Sachen mangelndes Problembewusstsein war auch die Kommunikation des Bundesarbeitsministeriums vor dem Wochenende. Eine Sprecherin von Hubertus Heil (SPD) sagte der NOZ auf Anfrage, dass Kindergärten und Schulen verstärkt wieder öffneten. Deshalb werde es "nach heutigem Stand" keine Verlängerung der Lohnfortzahlung für Eltern geben, die in der Corona-Krise wegen geschlossener Kitas oder Schulen nicht arbeiten können.
In der Realität der Familien ist allerdings von einer Normalisierung kaum etwas zu spüren, sie müssen an den meisten Orten ihr Leben weiter improvisieren um die nur langsam und eingeschränkt öffnende Bildungseinrichtungen herum. Dass die ministerielle Ansage insofern allzu kaltschnäuzig ausgefallen war, gestand Minister Heil tags darauf selbst ein. In der ARD sagte er, er sei dafür, "dass wir eine Anschlusslösung finden." Doch von der Einführung eines Corona-Elterngeldes, das viele WissenschaftlerInnen gefordert hatten, solange es an Kitas und Schulen keinen Regelbetrieb gibt, ist die Politik gedanklich meilenweit entfernt.
Zwei Erklärungen für die
gesellschaftliche Indifferenz
Wieso sich weite Teile der Gesellschaft und Politik eine solche Indifferenz gegenüber Kindern und ihren Bedürfnissen leisten? Persönlich fallen mir zwei Erklärungen ein, und beide sind nicht besonders schmeichelhaft.
Die erste hat mit einem Machtkampf zu tun. Seit die Zahl der Neuinfektionen sinkt und die Politik auf einen Kurs der Shutdown-Lockerungen eingeschwenkt ist, läuft ein Kampf um den vorhandenen Spielraum. Werden die Restaurants geöffnet, erhöht das die Infektionsgefahr. Dürfen Touristen in Hotels übernachten oder Shoppingfreudige wieder durch Einkaufspassagen flanieren, ebenfalls. Woraus folgt: Je großzügiger die Politik in einem gesellschaftlichen Bereich ist, desto restriktiver muss sie in anderen sein, damit die Grenze zurück zu einem exponentiellen Wachstum der Pandemie nicht wieder überschritten wird.
Man kann die im Vergleich sehr zögerliche Öffnung von Kitas und Grundschulen aus dieser Perspektive sehen. Ebenso das politische Gezerre um die ingesamt hunderte von Milliarden schweren Hilfspakete: Der direkte Anteil für Kinder, Kitas, Schulen und Familien beläuft sich bei optimistischster Berechnung auf unter fünf Prozent. Fehlt ihnen schlicht die ausreichend starke Lobby? Haben Eltern in der Krise nicht genügend Kraft, ihre eigenen Interessen und die ihrer Kinder ausreichend kraftvoll zu artikulieren, weil sie zu sehr in der Bewältigung ihres völlig veränderten Alltags zwischen Kinderbetreuung, Homeschooling und Home Office gefangen sind? Und geht die Politik deshalb, indem sie andere Bereiche priorisiert, schlicht den Weg, der ihr öffentlich am wenigsten Ärger macht?
Die zweite Erklärung der Indifferenz ist noch weitreichender: Die Gesellschaft der Bundesrepublik ist weit weniger modern, als sie sich selbst es eingestehen mag. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde das Elterngeld eingeführt, die Kitas wurden ausgebaut, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nahm in Politikerreden viel Raum ein. Tatsächlich stieg die Erwerbsbeteiligung von Frauen erheblich, obgleich ihre Einkommen im Schnitt um ein Fünftel niedriger blieben und sie viel häufiger in Teilzeit arbeiten als Männer. Der Fortschritt war trotzdem spürbar – und immer mehr Familien, immer mehr Frauen schienen ihm zu trauen, so dass die Geburtenrate langsam stieg.
Die Rückkehr der
alten Bundesrepublik?
Andere europäische Länder vor allem in Skandinavien schlossen ihre Bildungseinrichtungen erst gar nicht oder öffneten sie mit als erstes wieder.
Doch in der langen Schließung der Kitas und Schulen hierzulande scheint ebenso wie in ihrer nur zögerlichen Öffnung plötzlich wieder die alte Bundesrepublik durch – die, in der die meisten Frauen zu Hause blieben und sich um die Kinder kümmerten und die meisten Männer Alleinverdiener waren. In dem Rückgriff auf die Familie als Betreuungsort nach dem alten Muster, das den Rückgriff auf alte Rollenbilder bedingt, brechen auch die alten Klischees wieder durch – die, dass arbeitende Mütter ihre Kinder "abschieben" wollten zum Beispiel. Unter einem Beitrag hier im Blog fand sich neulich folgender Kommentar eines Lesers bzw. einer Leserin: "Im Übrigen habe ich den Eindruck, dass die Kinder vorgeschoben werden und dass es oftmals um überforderte Eltern geht, die auf das Recht pochen, ihre Kinder los werden zu dürfen. Das sind zumeist diejenigen Eltern, die zu normalen Zeiten in den Schulen am meisten meckern und deren Kinder die Lehrer verhaltensmäßig am intensivsten beschäftigen." Gestehen Eltern also ihre eigene Dysfunktionalität ein, wenn sie die Öffnung von Kitas und Schulen fordern? Eine Gehässigkeit, die Sorgen bereitet – und die, sollte sie kein Einzelfall sein, viel vom Stand der gesellschaftlichen Debatte zu erklären vermag. >>
>> So sinnierte auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bei den letzten Pressekonferenzen zu den Bund-Länder-Beschlussen zu Corona viel über die Ältesten der Gesellschaft, über ihre Isolation in Senioren- und Pflegeheimen, über die Hoffnung, "dass man sich wieder etwas mehr besuchen kann", "vor allem Mutter, Großmutter". Die von einigen Ministerpräsidenten angestrengte Debatte über die Öffnung von Spielplätzen bezeichnete er hingegen dem Vernehmen nach intern als "Mickey-Maus-Politik".
Derweil hat die Petition "Kinder brauchen Kinder: Öffnung der Kindertagesstätten und Grundschulen" innerhalb von vier Wochen rund 79.000 Unterschriften erhalten. Diejenigen, die sich in den vergangenen acht Wochen am meisten solidarisch gezeigt und sich im Vergleich zu sämtlichen anderen Bevölkerungsschichten maximal eingeschränkt hätten, seien die Kinder, erläutern die InitiatorInnen in einem aktuellen Debattenbeitrag. "Umso mehr bestürzt es, welche Rolle Kinder in der Diskussion bezüglich der Öffnung von Kindergärten und Schulen aktuell erhalten. Sie werden zu Objekten degradiert. Objekte, die gefährlich sind, geschützt werden oder betreut werden müssen. Im Infektionsgeschehen werden sie als “Virenschleudern” bezeichnet. Im Rahmen der Notbetreuung werden sie eingeteilt nach dem Bedarf, der sich aus den Berufen der Eltern ableitet, nicht aber ihren eigenen Bedürfnissen." Kindern würden elementare Grundrechte verwehrt – gesellschaftliche Teilhabe im Einklang mit dem Infektionsschutz werde ihnen nicht ermöglicht. "Gerechtfertigt wird dies mit dem reinen Konjunktiv, dass Kinder ähnlich ansteckend sein könnten (!) wie Erwachsene. Ebenjene, denen kürzlich erfolgte Lockerungen wieder deutlich mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen."
Jetzt sind Mut und
Führungsstärke gefordert
Das mit dem Konjunktiv spielt darauf an, dass die Rolle von Kindern im Pandemiegeschehen immer noch ungeklärt ist. Womöglich, und das wäre die bitterste Ironie, erkranken sie nicht nur seltener und wenn, meist weniger schwer an Covid-19, sondern es könnte sein, dass Unter-10-Jährige auch deutlich weniger ansteckend sind. Studien weisen hier allerdings in unterschiedliche Richtungen. Doch auch so gilt: Wenn die Kinder immer noch die größten Einschränkungen ihres Alltags und ihrer sozialen Kontakte erfahren, wenn ihre Eltern unter dem größten Druck stehen, wenn die Kinder absehbar und möglicherweise ihr ganzes Leben lang die Folgen der Pandemie tragen müssen, dann ist es eine Verpflichtung für die Politik, ihre Belange auch ganz nach vorn zu stellen. Dann müsste der Spielraum, der sich angesichts der niedrigeren Infektionszahlen ergibt, vorrangig für sie eingesetzt werden, für eine kräftigere und mutigere, gleichwohl gut geplante Öffnung von Kitas und Schulen. Nicht weil das auf jeden Fall weniger gefährlich ist. Sondern weil die Politik, die Restaurants, Fitness-Studios, Friseure, Tanzschulen oder Fußball-Ligen öffnet, die Risiken und Notwendigkeiten für alle Generationen endlich fair abwägen muss.
Wahr ist aber auch: In einer Gesellschaft, die sich konsequent der notwendigen Debatte über die Belange von Kindern und Familien verweigert, erfordert das viel Mut und Führungsstärke von den Regierungschefs und Bildungsministern in Bund und Ländern.
Sachsens Öffnungspläne stoßen auf Widerstand