Eine Expertenkommission legt Empfehlungen für das neue Schuljahr unter Corona-Bedingungen vor. Unterdessen fordern zwei Fachgesellschaften von Bund und Ländern einen "Kindergipfel".
EINE 22-KÖPFIGE KOMMISSION, organisiert von der Friedrich-Ebert-Stiftung, hat heute Empfehlungen für das Schuljahr 2020/2021 unter Corona-Bedingungen vorgelegt. Die Politik dürfe bei ihren Planungen auf keinen Fall ausschließlich von einer Wiederkehr des schulischen Regelbetriebs ausgehen, mahnten die Kommissionsmitglieder unter dem Vorsitz des Bildungsforschers Kai Maaz – trotz der jüngsten Öffnungsdynamik an Kitas und Schulen. "Es geht darum, vorbereitet zu sein, um klug und verlässlich mit der jeweiligen Pandemiesituation umgehen und schnell reagieren zu können", sagte Maaz.
In ihrem Papier setzt sich die Kommission mit verschiedenen Szenarien des Schulbetriebs abhängig von der Pandemientwicklung auseinander. In jedem Fall aber gelte, dass beim Präsenzunterricht, solange dieser limitiert sei, jüngere Schüler Vorrang vor älteren haben sollten. Schüler ohne eigenes technisches Equipment sollten möglichst bis zum Beginn des neuen Schuljahrs leihweise mit Endgeräten ausgestattet werden, um für eine etwaige Fortsetzung des Fernunterrichts vorbereitet zu sein.
Das diesbezügliche 550-Millionen-Euro-Programm befindet sich derzeit in der Ratifizierung durch Bund und Länder. KMK-Präsidentin Stefanie Hubig sagte bereits gestern, sie wolle, dass im neuen Schuljahr alle Schüler aus sozial benachteiligten Familien ein digitales Endgerät zur Verfügung hätten. "Daran arbeiten wir sehr intensiv. Aber das jetzt zu versprechen, wäre unseriös."
Außerdem, empfiehlt die FES für das neue Schuljahr, sollten Kürzungen in den Lehrplänen vorgenommen werden, um sie realistisch umsetzbar zu machen unter den vorhandenen Raum- und Personalbedingungen und für den Fall des Wechsels zwischen Präsenz- und Fernunterricht. Die Kürzungen sollten im Sinne einer umfassenden Allgemeinbildung alle Fächer umfassen, anstatt die Hauptfächer voll zu unterrichten und die Nebenfächer ganz zu streichen. Entsprechend müsse auch das Spektrum der Prüfungsinhalte in allen Fächern reduziert werden. Für die Qualität und die Gestaltung des Fernunterrichts müssten die Länder Mindestanforderungen festsetzen; jede Schüler und jede Schülerin solle eine feste Ansprechperson in der Schule haben.
"Die größte Gefahr ist womöglich, dass wir auch bei einer flächendeckenden Öffnung der Schule gedanklich vorschnell vom Normalbetrieb reden", sagte der Kommissionsvorsitzende Maaz, der das DIPF | Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation leitet. "Daher ist es wichtig, die Frage von Lernplankürzungen und damit korrespondierenden Veränderungen in den Prüfungsinhalten innerhalb aller Fächer jetzt zu thematisieren. Wenn hier Kürzungen vorgenommen werden, braucht es schnelle Entscheidungen." Mit "klugem fachdidaktischem Blick und hoher fachlicher Durchdringung" müsse jetzt beherzt entschieden werden, welche Inhalte in den kommenden Prüfungsdurchgängen verzichtbar seien. "Gleichzeitig darf dies nicht zu Lasten der Qualität schulischer Bildung führen. Das Schuljahr 2020/21 darf für keinen Schüler ein verlorenes sein."
Zensuren sollen keinen Ausschlag geben,
das Sitzenbleiben soll ausfallen
Die Kommission empfiehlt auch, die Übergänge etwa zwischen der Grundschule auf weiterführende Schulen und die Vergabe von Schulabschlüssen sollten möglichst von Zensuren entkoppelt werden, auch das klassische Sitzenbleiben solle entfallen.
Maaz mahnte unterdessen, die intensivere Kooperation mit außerschulischen Bildungsanbietern für die zusätzliche Förderung von Schülern mit größeren Leistungsrückständen müsse gut und früh geplant werden, wenn keine Parallelwelten zwischen Schule und außerschulischem Lernort entstehen sollten.
Unter den 22 Expertinnen und Experten der FES-Kommission befanden sich VertreterInnen der Bidungwissenschaften, der Didaktik, des Schulrechts, der Medizin und Schulpsychologie sowie der Schulverwaltung und von den kommunalen Träger, SchulleiterInnen, Lehrkräfte, SchülerInnen und Eltern. Als Moderator fungierte der langjährige brandenburgische Bildungsstaatssekretär Burkhard Jungkamp.
"Die zentrale Botschaft der Empfehlungen lautet: Das nächste Schuljahr wird kein normales sein, im besten Fall wechseln sich Unterrichtsphasen vor Ort in der Schule mit Lernen auf Distanz ab", sagte Kommissionsmitglied Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache im Anschluss an die Veröffentlichung. "Im schlechtesten Fall wird es wieder Phasen geben, in denen der Unterricht ausschließlich mit digitalen Medien erfolgt." Es sei richtig und wichtig, dass die Kommission sich geeinigt habe, dass Schule auch in Corona-Zeiten einen ganzheitlichen Bildungsauftrag habe: "Bei allen notwendigen Einschränkungen und Abwägungen ist es essentiell, Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen, die notwendigen Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben zu erwerben."
Gerade Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Schichten oder solche, die Deutsch als Zweitsprache erlernen, liefen derzeit Gefahr, abgehängt zu werden. Sie benötigten individuelle Unterstützung, etwa durch Lehramtsstudierende. "Dafür kann das Bildungssystem auf Erfahrungen aus bisherigen Programmen zurückgreifen, etwa aus den Ferienschulen oder dem Förderunterricht in Kleingruppen."
Fachgesellschaften: Kindergipfel soll bundesweit
gültigen Plan zur Beschulung aufstellen
Die Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (GEBF) und die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) forderten unterdessen die Bundesregierung und die Landesregierungen in einer gemeinsamen Stellungnahme "mit großer Dringlichkeit" auf, die Gruppe der Kinder und Jugendlichen erheblich stärker in den Fokus ihrer politischen Überlegungen zu stellen. "Dazu gehört auch, die Rolle von Kindern bei der Übertragung des Virus sowie die Bedeutung der gewählten Maßnahmen zur Verhinderung von Übertragung bei Kindern genauer zu erforschen." (siehe hierzu auch Nachtrag zum gestrigen Artikel "Willkommen zurück")
Die Politik stehe in engem Austausch mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessengruppen von der Tourismusbranche bis zur Deutschen Fußballliga. Kinder seien die Zukunft der Gesellschaft und hätten das Recht, in dieser besonderen Situation in adäquatem Maße repräsentiert zu werden. "Wir schlagen daher einen Austausch im Sinne eines Kindergipfels vor, um alle Optionen für eine gesunde und förderliche Entwicklung der Kinder aller Altersstufen und aus allen sozialen Schichten während der Corona-Krise auszuloten." Ziel eines solchen Kindergipfels müsse unter anderem die Aufstellung eines bundesweit gültigen Plans zur Beschulung sein, "der das Recht auf Bildung für alle Kinder und Jugendlichen sichert und eine regelhafte Betreuung der Kinder zu den üblichen Schulzeiten (08:00 – 13:00 Uhr) vorsieht – ob online oder in den Schulen."
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Laura Escanilla (Samstag, 30 Mai 2020 14:42)
Dieses Anliegen ist über alle Maßen wichtig, da es um die Zukunft unserer Gesellschaften und das Wohlergehen dieser Kinder und deren zukünftiger Kinder geht.