Die monatelangen Schulschließungen haben massive Auswirkungen
auf die Bildung von Millionen Kindern und Jugendlichen.
Wie HochschulabsolventInnen benachteiligten Schülerinnen und Schülern helfen könnten: ein Gastbeitrag von Robert Slavin
und Ekkehard Thümler.
Robert Slavin (links) und Ekkehard Thümler. Fotos: privat.
WAS SICH VOR wenigen Wochen kaum jemand vorstellen konnte, wird greifbar: Deutschlands Schüler sollen, Stand heute, spätestens nach den Sommerferien wieder ausschließlich in Präsenz unterrichtet werden.
Doch bei aller Freude: Wir wissen heute noch nicht genau, wie die Situation in unseren Schulen im neuen Schuljahr aussehen wird. Zu wieviel regulärem Unterricht werden die Kapazitäten reichen? Was ist mit Kindern, die gesundheitlicher Risiken wegen weiter im Fernunterricht bleiben müssen?
Was wir wissen: Millionen Kinder werden in ihrer Lernentwicklung deutlich zurückgefallen sein, darunter auch viele Grundschulkinder, die gerade erst begonnen haben, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Monatelang hatte die Mehrzahl der Schüler sehr viel weniger Unterstützung beim Lernen erhalten als üblich. Darunter leiden die am stärksten benachteiligten Schülerinnen und Schüler natürlich am meisten.
Viele Kinder werden auch von ihren Erfahrungen in dieser Zeit traumatisiert sein, sie werden Krankheit oder Tod eines nahen Verwandten oder den Verlust des Arbeitsplatzes ihrer Eltern erlebt haben und manche Kinder werden auch Opfer von häuslicher Gewalt geworden sein. Deshalb werden große Anstrengungen erforderlich sein, um den Schaden zu beheben, den COVID-19 an ihrer Bildung angerichtet hat.
Die Schulen können nicht weitermachen,
als wäre nichts geschehen
Niemand kann erwarten, dass Schulen nach der Wiedereröffnung einfach weitermachen, als wäre nichts geschehen. Wir müssen dringend beginnen, darüber nachzudenken, wie wir gerade den am stärksten belasteten Kindern dabei helfen können, sich schnell zu erholen, die entstandenen Verluste auszugleichen und wieder gute Leistungen zu erzielen.
Ein besonderes Augenmerk muss auch auf jene Kinder und Jugendliche gelegt werden, die vorerst nicht in die Schulen zurückkehren können. Jeder, der ein Kind hat oder ein Kind kennt oder jemals ein Kind war, weiß, dass Fernunterricht für die meisten von ihnen nicht ausreichen wird. Nicht einmal dann, wenn sie über Computer und Zugang zum Internet verfügen, gut von ihren Lehrerinnen und Lehrern unterstützt werden und Eltern haben, die bereit und in der Lage sind, einzuspringen und sicherzustellen, dass ihre Kinder das Angebot der Schule auch nutzen können. In Ausnahmefällen mag dies zwar gelingen, es gibt aber gute Gründe dafür, dass Homeschooling bislang so selten war.
Im Bildungsbereich stehen wir noch vor einem weiteren Problem, das ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden darf: Unsere Volkswirtschaften steuern auf die tiefste Rezession der Nachkriegszeit zu. Hunderttausende HochschulabsolventInnen werden in dieser Situation Schwierigkeiten haben, den Schritt auf den Arbeitsmarkt zu schaffen.
Als einen Beitrag zur Lösung dieser Probleme schlagen wir ein massives Unterstützungsprogramm für Schulen vor. In dessen Zentrum sollte Tutoring stehen, also die gezielte, individuelle Förderung insbesondere derjenigen Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten in den Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen haben. Wir sollten für diese Aufgabe viele tausend Hochschulabsolventen als Freiwillige gewinnen, die wir als Tutorinnen und Tutoren rekrutieren, gut ausbilden und für einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren in Grundschulen und weiterführenden Schulen einsetzen. Sie könnten dort mit kleinen Gruppen besonders benachteiligter Schülerinnen und Schüler zusammenarbeiten.
Bis zu fünf gut ausgebildete
Tutoren für jede Schule
Die hohe Wirkung gut konzipierter und etablierter Tutoring-Programme, wie sie etwa in den USA schon lange existieren, ist wissenschaftlich bestens belegt. In verschiedenen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass solche Maßnahmen den üblichen Lernfortschritt jedes Jahr um fünf oder mehr Monate steigern können. Damit könnten die meisten Schülerinnen und Schüler zumindest ihre schulischen Verluste ausgleichen.
Tutoring hat jedoch noch weitere Vorteile: In kleinen Gruppen können besonders enge Beziehungen zu den unterrichteten Kindern aufgebaut werden. Dies würde denjenigen unter ihnen helfen, die während der langen Zeit ohne Schule ein Trauma erlitten haben. Tutorinnen und Tutoren könnten außerdem eingesetzt werden, um gezielt auch die Eltern der Kinder zu unterstützen.
Jede Schule sollte die Möglichkeit erhalten, bis zu fünf gut ausgebildete Tutorinnen und Tutoren einzustellen, wobei sich die genaue Anzahl an den Bedürfnissen der Schulen und ihrer Kinder bemessen sollte. Ein einzelner Tutor könnte dann beispielsweise mit jeweils vier Kindern in sieben Sitzungen zu je 30 Minuten arbeiten, und so 28 SchülerInnen pro Tag erreichen. Diese Unterstützung würde so lange anhalten, bis die Kinder ihren Rückstand aufgeholt haben. Die Erfahrung der "Success for All Foundation" in den USA mit Kleingruppentutoring zeigt, dass die Kosten pro unterrichtetem Kind etwa 550 Euro pro Jahr betragen. Das ist keine Kleinigkeit, würde sich angesichts des enormen Bedarfs und der hohen Wirkung aber lohnen.
Tutoring kann darüber hinaus vielversprechende HochschulabsolventInnen für das Unterrichten begeistern. Schulleitungen sollten befähigt werden, ihre besten Tutorinnen und Tutoren zu identifizieren. Denn wer diese Aufgabe gut erfüllt hat, wird wahrscheinlich auch ein ausgezeichneter Lehrer oder eine hervorragende Lehrerin sein. Diese Personen sollten dann die Möglichkeit erhalten, eine beschleunigte Lehramtsausbildung zu absolvieren. So könnten wir in einer Zeit, in der wir unter großem Mangel an Lehrerinnen und Lehrern leiden, dringend benötigtes Lehrpersonal für unsere Schulen gewinnen.
Eine Lösung auch für Probleme, die
wir schon vor der Krise hatten
In den USA haben schon erste Schritte in diese Richtung stattgefunden. So plant der Bundesstaat Tennessee, mit der Nonprofit-Organisation "Big Brothers Big Sisters" zusammenzuarbeiten, um TutorInnen zu rekrutieren und zu trainieren. Auch das Bundesprogramm "AmeriCorps" ist als Partner für ein sehr umfassendes staatliches Unterstützungsprogramm im Gespräch. In Deutschland könnten ebenfalls geeignete Nonprofit-Organisationen oder auch der Bundesfreiwilligendienst für ein solches Vorhaben gewonnen werden.
Die von der Corona-Pandemie verusachten Schäden können natürlich nicht durch ein einzelnes Vorhaben behoben werden, dafür sind viele verschiedene Maßnahmen erforderlich. Ein umfassendes Tutoring-Programm sollte jedoch ein Teil davon sein, weil es einen besonders wirksamen Beitrag zur Bewältigung der schwierigen aktuellen Situation leisten würde. Und mehr noch: Im besten Fall könnte es auf diesem Weg gelingen, eine bedeutende Innovation für die Schulen von Morgen zu entwickeln – als eine Lösung für Probleme, die wir schon lange vor dieser Krise hatten.
Robert Slavin, 69, ist Bildungsforscher und leitet das Center for Research and Reform in Education an der Johns Hopkins University. Er hat vor über 30 Jahren die Success for All Foundation gegründet.
Ekkehard Thümler, 52, ist Senior Fellow am Centre for Social Investment (CSI) der Universität Heidelberg und Initiator des Projekts "Success for All in Deutschland", das ein deutsches Tutoring-Programm ins Leben rufen will.
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