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"Eingefahrenes stören"

Die Sozialdemokraten wollen mitten in der Corona-Krise die Debatte um Europa als Bildungsraum wiederbeleben. SPD-Bildungspolitiker
Ernst Dieter Rossmann über ein neues Erasmus, eine neue europäische Hochschulkonferenz und – eine einmalige Chance für Deutschland.

Ernst Dieter Rossmann, 69, ist SPD-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Foto: DBT/Werner Schüring.

Herr Rossmann, Europa kämpft gegen das Coronavirus und seine Folgen, und die Bildungspolitiker der SPD-Bundestagsfraktion starten eine Initiative "Neue Ideen für den Bildungsraum Europa". Haben wir nicht gerade andere Probleme?

 

Gerade jetzt ist es wichtig, über die Zukunft Europas zu reden. Natürlich brauchen wir Konjunkturpakete, um die Wirtschaft anzukurbeln, auf nationaler und auf europäischer Ebene. Doch diese Pakete schaffen allein wirtschaftliche Werte. Europa braucht aber auch eine gemeinsame Seele. Und die schaffen wir nur über die Förderung von Jugend, Bildung, Wissenschaft, Forschung und Innovation.

 

Schöne Worte. Aber Europas gemeinsame Seele war schon vor Corona kaum zu spüren. Und bei den Verhandlungen um die nächsten EU-Haushalte steht knallharte nationale Interessenpolitik im Vordergrund. 

 

Das sehe ich anders. Wir diskutieren gerade das nächste europäische Rahmenprogramm und wenn da in sieben Jahren über eine Billion Euro aufgebracht werden sollen, müssen auch die Mittel für Bildung und Forschung nachhaltig aufgestockt werden.  Aber dabei darf es eben nicht nur um Forschung und Entwicklung gehen, sondern wir müssen auch über Schüler und Auszubildende, Studierende und Erwachsene in der Weiterbildung reden, also die gesamte Bildungsbiographie auch europäisch im Blick haben. Dazu kommen dann ein verbesserter Lehreraustausch und europäische Netzwerke von Schulen und Hochschulen und in der Erwachsenenbildung.

 

Für den Bildungsaustausch gibt es seit 33 Jahren eine Marke: Erasmus. Und Corona hat Erasmus in ein Koma versetzt.

 

Ganz so ist es nicht. Der physische Austausch ist eingeschränkt, dafür tut sich auf der digitalen Ebene gerade sehr viel. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) etwa hat sehr interessante Ideen für einen digitalen Austausch vorgestellt, Online-Sprachkurse im eigenen Land zum Beispiel, aber angeboten von einer Erasmus-Hochschule in einem anderen europäischen Land. So lassen sich übrigens auch junge Menschen ansprechen, für die ein klassischer Auslandsaufenthalt bisher nur schwer oder gar nicht in Frage gekommen wäre. Insofern würde ich mir eine Erweiterung über Sprachkurse hinaus für viele andere geeignete Fächer wünschen. Aber natürlich können alle Online- oder Blended-Learning-Konzepte nicht das gemeinsame Essen, Sprechen, das gemeinsame Erleben von Freiheit, Kultur, Historie und Landschaft ersetzen. Erasmus braucht die Überwindung von Corona. Erasmus braucht aber auch eine Ausdehnung über das hinaus, was es bislang ist.

 

"Als Bildungspolitiker müssen
wir jetzt kämpfen"

 

Von welcher Ausdehnung sprechen Sie?

 

Zuerst einmal eine Ausdehnung des Budgets. Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihren Bewerbungsreden und ersten Erklärungen immer wieder die Vision eines europäischen Bildungsraums für das Jahr 2025 beschworen – inklusive einer Verdreifachung der Mittel für Erasmus. Das sind gute Ansagen, zu denen jetzt die Substanz hinzukommen muss. 

 

Ursula von der Leyen kann aber nicht für die Mitgliedsstaaten sprechen. Und vor allem die Nettozahler waren gegenüber den Budgetwünschen der Kommission schon vor Corona sehr skeptisch. Es wundert, dass Sie trotzdem noch immer von Formeln wie einer Verdreifachung der Erasmus-Ausgaben oder mehr als einer Milliarde für das neue Forschungsrahmenprogramm reden.

 

Als Bildungspolitiker muss ich das. Wir müssen jetzt kämpfen. Wenn wir uns ein gemeinsames europäisches Verständnis, eine gemeinsame europäische Identität wünschen, wenn wir die Zukunft Europas in seinen jungen Menschen sehen, in ihrer beruflichen und akademischen Ausbildung, dann müssen wir jetzt nachhaltig investieren. Wer jetzt nicht Alarm schlägt oder – positiver formuliert – die entsprechende Erwartungshaltung schafft, der darf sich hinterher nicht beklagen, wenn der Bildungs- und Forschungsbereich keine Priorisierung erfährt. Im Juli beginnt die deutsche EU-Präsidentschaft, die kommenden sechs Monate werden mit die entscheidenden sein.

 

Mehr Geld für Erasmus ist das eine, wie sollte es ihres Erachtens ausgegeben werden?

 

Erasmus von Rotterdam war ein niederländischer Humanist, und den Anspruch, der in seinen Namen zum Ausdruck kommt, dürfen wir nicht kleinmachen. Das Erasmus der Zukunft braucht deshalb eine noch stärkere kulturelle Aufladung, es geht um das Erleben von europäischer Geistes- und Sozialgeschichte für jede neue Generation junger Europäer. Deshalb dürfen wir Erasmus auch nicht vorrangig als akademisches Austauschprogramm verstehen, denn wenn wir mal ehrlich sind, ist es das bis heute geblieben. Fünfmal so viele Studierende nehmen daran teil wie junge Menschen in beruflicher Ausbildung, deren Auslandserfahrung sich noch dazu in meist deutlich kürzeren Praktika erschöpft. Das reicht künftig nicht mehr. Wir müssen also berufliche Qualifizierte viel stärker in den Blick nehmen.

 

Was bedeutet das für die soziale Exklusivität von Erasmus?

 

Es würde eine weitere soziale Öffnung bedeuten. Und die brauchen wir. Tatsächlich ist die Situation in Deutschland noch verhältnismäßig komfortabel, weil die Hilfen für die Erasmus-Aufenthalte hierzulande so großzügig ausgestattet sind, dass es geringere finanzielle Hürden gibt als in vielen anderen Ländern. Aber wir müssen hier von einer europäischen Perspektive aus denken und da sehe ich eine enorme Herausforderung darin, Erasmus für alle jungen Menschen, Studierende wie beruflich Qualifizierte, aus allen 27 Mitglieds- und demnächst sieben assoziierten Staaten möglich zu machen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Und noch etwas ist wichtig: Wir müssen Erasmus um einen Austausch für Lehrer erweitern.

 

"In allen europäischen Schulen sollten zehn Prozent
der Lehrkräfte aus anderen Mitgliedstaaten kommen"

 

Wie genau könnte dieser Austausch aussehen?

 

In Deutschland unterrichten zurzeit etwa 7800 Lehrkräfte mit einem europäischen, nichtdeutschen Pass. Das entspricht etwa 1,2 Prozent. Wir sollten anstreben, dass in allen europäischen Schulen zehn Prozent der Lehrkräfte aus anderen Mitgliedstaaten kommen. Das erreichen wir nur durch eine mutige neue Initiative. Deshalb brauchen wir Europa-Lehrer*innen, die in einem europäischen Land studiert und gearbeitet haben, dann für mehrere Jahre in ein anderes Land wechseln und dort Bildungsbotschafter für Mehrsprachigkeit und die europäische Grundbildung werden. Das wird sicher nichts bis 2025, aber wir müssen die Förderung jetzt beginnen. Ich kann mir da auch ganz neue Netzwerke auf der Ebene von Schulen vorstellen.

 

So ähnlich wie bei den europäischen Hochschulen?

 

Das ist eine interessante Analogie. Wir sollten dem französische Präsident Macron dankbar für diese Idee sein. Wichtig ist allerdings jetzt, dass die entstandenen Hochschul-Netzwerke auskömmlich finanziert werden, damit sie nicht enden als ein paar weitere der reichlich vorhandenen strategischen Partnerschaften, die die Hochschulen ohnehin pflegen. Nur als wirklich auf Dauer angelegte Netzwerke mit umfangreichen Aktivitäten können sie ein Stückweit die europäische Identität verkörpern, zugleich die Innovation fördern und auch noch, wo nötig, eine Schutzfunktion für kritisches Denken und für die Wissenschaftsfreiheit übernehmen. Dazu gehört auch, dass wir die Europäischen Hochschulen in einem nächsten Schritt über Europa ausdehnen sollten. So, wie jetzt zu jedem Netzwerk mindestens eine Hochschule aus Süd- oder Osteuropa gehören muss, könnte künftig auch Voraussetzung sein, dass mindestens eine nichteuropäische Hochschule möglichst aus einem Entwicklungs- oder Schwellenland als gleichberechtigter Partner dabei ist. Das sind wir als Europa unserer globalen Verantwortung schuldig, das stärkt auch unsere eigene Weltoffenheit. 

 

Sollten wir auch Erasmus weiter über Europa ausdehnen? Vielleicht sogar die USA dazunehmen?

 

Moment, das geht mir zu schnell. Erasmus selbst sollte im Kern die europäische Identität weiter befördern. Aber warum sollten wir als Teil eines Erasmus plus, nicht auch Stipendien fördern für junge Menschen aus europäischen Anrainerstaaten wie Marokko, Algerien oder Ägypten? Wenn die Türkei dabei ist, warum sollen es dann nicht auch weitere Länder aus der europäischen Nachbarschaft sein können? Was die USA angeht, kann ich mir nicht vorstellen, dass man sie irgendwann einmal zum europäischen Umfeld zählt. Sehr wohl aber hat die Perspektive der hoffentlich dann anders regierten Vereinigten Staaten als Teil eines von der UNO organisierten Weltaustauschprogramms einen großen Reiz, natürlich unter Einbeziehung nicht nur Nordamerikas, sondern auch Süd- und Mittelamerikas. Das würde der UNESCO als globaler Weltbildungsorganisation noch einmal eine zusätzliche Attraktivität und Sichtbarkeit verleihen. 

 

"Sollten wir von der Struktur nicht
wieder zurückfinden zur Idee?

 

Vor 21 Jahren wurde die Sorbonne-Erklärung verabschiedet, der offizielle Startschuss der europäischen Studienreform. Wo stehen wir heute?

 

Die europäische Studienreform hat dazu geführt, dass an Hochschulen, wenn das Wort Bologna fällt, kaum noch einer an die 1088 gegründete älteste europäische Universität denkt, sondern an den Dualismus von Bachelor und Master. Sollten wir 21 Jahre nach der Neustrukturierung des Studiums nicht von der Struktur wieder zurückfinden zur Idee? Die Gründung des Europäischen Hochschulraums 2010 war ein Schritt in diese Richtung, die Auswahl der ersten Europäischen Hochschulen ein weiterer. Der nächste sollte darin bestehen, dass wir aus der alle zwei Jahre stattfindenden Bologna-Konferenz eine jährliche europäische Hochschulkonferenz weiterentwickeln mit Vertretern aus Hochschulen und Politik. Diese Konferenz wäre zugleich ein Äquivalent zum schon vorhandenen Verband der europäischen Hochschulpräsidenten. Wenn wir die Konferenz namentlich von der bedeutenden Geschichte des Bologna-Prozesses lösen, führt das automatisch dazu, dass andere Anliegen stärker in den Mittelpunkt rücken.

 

Noch mehr Gremien, ist das Ihr Ernst?

 

Es geht nicht um ein formales Gremium, sondern um eine Dialogplattform, die konkrete Maßnahmen ergreifen könnte, um im Europäischen Hochschulraum drei Kernziele zu erreichen: erstens die Wissenschaftsfreiheit zu garantieren, zweitens Bildungsteilhabe für alle zu verwirklichen und drittens für mehr Bildungsmobilität, Austausch und Vergleichbarkeit einzutreten.

 

All das und noch mehr steht in dem Papier, das die AG Bildung und Forschung der SPD-Bundestagsfraktion am Dienstagnachmittag beschlossen hat. Um was genau damit zu machen eigentlich?

 

Wir wollen mit unseren Vorschlägen die Diskussion bereichern, anheizen, die Fantasie beflügeln, oder, wo nötig, auch einmal Eingefahrenes stören. In unserer Arbeit im Bundestag, in der politischen Debatte hier und mit unseren Partnern im europäischen Ausland. Mir geht es darum, Frau von der Leyen beim Wort zu nehmen und die Bundesregierung zugleich an ihre Verantwortung während der beginnenden Ratspräsidentschaft zu erinnern – und an eine einmalige Chance: Wenn es um die europäische Bildungslandschaft geht, haben bislang zwei Franzosen entscheidende Impulse gegeben; Jacques Delors mit Erasmus und Emmanuel Macron mit den Europäischen Hochschulen. Ich finde, als Deutsche sollten wir ihnen nacheifern. 



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