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Ein Versprechen, viele Fragen und zu wenige Antworten

Die Kultusminister betonen das Recht auf Bildung und das Ziel eines schulischen Regelbetriebs in erfreulicher Deutlichkeit. Einerseits. Andererseits lässt ihr heutiger Beschluss so vieles im Unklaren, dass es besorgniserregend ist.

IST DAS NUN EIN VERSPRECHEN oder doch eher Gepoker? Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat heute Nachmittag wie erwartet beschlossen, spätestens nach den Sommerferien wieder einen regulären Schulbetrieb aufzunehmen. Und die Minister machten gleich in Punkt eins ihres Beschlusses das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Bildung geltend – "endlich", wie FAZ-Journalistin Heike Schmoll in einem Kommentar betonte. Fairerweise muss man sagen: endlich und erneut. Die Kultusminister hatten schon vor einigen Tagen in ihrem ersten gemeinsamen Beschluss zur Wiederaufnahme des Regelbetriebs ein klares Bekenntnis abgegeben.

 

Doch was nach dieser programmatischen Ansage folgte, ließ auch nach ihrem aktuellen Beschluss Fragezeichen offen. So viele, dass sehr fraglich ist, ob die Kultusminister in den paar Wochen, bis das neue Schuljahr anfängt, alle nötigen Antworten finden werden.

 

So sollen die Kinder und Jugendlichen "nach geltender Stundentafel in den Schulen vor Ort und in ihrem Klassenverband oder in einer festen Lerngruppe unterrichtet werden".

 

Frage: Wenn es eine feste Lerngruppe ist und nicht ihr normaler Klassenverband, wie passt der dadurch erhöhte Personalaufwand zu dem Versprechen, gleichzeitig den Regelbetrieb mit geltender Stundentafel gewährleisten zu wollen?

 

Frage: Wie passen der Regelbetrieb und die geltende Stundentafel mit dem schon vor Corona massiven Lehrermangel zusammen, der jetzt durch die Krise nochmal verschärft wurde? Mindestens zehn Prozent der Lehrer werden nicht im Präsenzunterricht einsetzbar sein. Doch zur Versorgung der Schulen mit Lehrern vermeiden die Kultusminister in ihrer Verlautbarung jede Ansage. 

 

Was heißt eigentlich: "Wenn
es das Infektionsgeschehen zulässt"?

 

Eine Andeutung für mögliche Erleichterungen immerhin machen die Kultusminister, wenn sie von "durch die Corona-Pandemie veränderten Bedingungen für Lehr- und Lernprozesse insbesondere mit Blick auf Prüfungen und Abschlüsse im Schuljahr 2020/21" sprechen, die bei der inhaltlichen Gestaltung des Schuljahres beachtet werden müssten.

 

Soll wohl heißen: Womöglich kann die Zahl von Klassenarbeiten und anderen Prüfungen verringert werden, und  die Prüfungen können auch anders ablaufen – so, wie es beispielsweise eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung eingesetzte ExpertInnenkommission empfohlen hatte. Einige der Kommissionsmitglieder waren heute auch zum virtuellen Gespräch mit den Kultusministern eingeladen. Aber ob die KMK mit ihrer Andeutung nun ihren Rat aufgreift oder doch etwas Anderes meint, werden erst die nächsten Schritte der Kultusminister zeigen. 

 

Weiter heißt es in dem Beschluss: Die Länder stimmten darin überein, dass zur Umsetzung des Regelbetriebs "die Abstandsregel von 1,5 Metern entfallen muss, sofern es das Infektionsgeschehen zulässt".

 

Teil eins der Aussage ist logisch, weil nur ohne Abstandsregel Klassen in voller Stärke unterrichtet werden können, aber was heißt die nun schon oft gehörte Verlegenheitsformel: "Sofern es das Infektionsgeschehen zulässt"? Wer bestimmt das? Die Kultusminister gemeinsam? Jeder für sich? Die Gesundheitsminister? Die Gesundheitsämter? Die Kreise und Kommunen als Schulträger? Oder am Ende die Regierungschefs, wenn sie den Bildungspolitikern das Heft wieder aus der Hand nehmen? Und machen die Kultusminister das "Recht auf Bildung" auch dann offensiv und mutig geltend, wenn erneut landes- oder bundesweite Schulschließungen diskutiert werden sollten? Und noch eine Frage: Was ist die Ankündigung von Regelbetrieb unter all den genannten Konditionen dann eigentlich noch wert?

 

Es braucht genaue Kriterien und Eskalationsstufen 

für Einschränkungen des Präsenzunterrichts

 

Die Tragfähigkeit des Regelbetriebs entscheidet sich eben nicht nur an der Frage der Stundentafeln und der Lehrkräfte-Versorgung. Er entscheidet sich auch daran, ob die Politik bereits jetzt klare und transparente Kriterien beschließt, wann die Infektionslage ihn nicht mehr "zulässt" und welche Alternativen dann kommen. Für die Verschärfung von Anti-Corona-Maßnahmen auf Landkreisebene gibt es sie längst. Wann endlich auch für die Schulen?

 

Solange diese Kriterien und die Beschreibung der Eskalationsstufen je nach regionaler Infektionslage fehlen, werden sich Schulschließungen für die Betroffenen weiter nach willkürlichen Entscheidungen anfühlen. Und die Versuchung für die Regierungschefs, bei einer zweiten Welle einfach mal so wieder alle Schulen und Kitas zuzumachen – als starkes Signal, während man Geschäfte und Restaurants auflässt –, wäre weiter groß. 

 

Doch in ihrem Beschluss sprach die KMK heute nur davon, dass der schulische Regelbetrieb "weiterhin entsprechende Hygienemaßnahmen für alle an den Schulen Beteiligten" erfordere. Immerhin erwähnte sie auch "deren situationsadäquate Anpassung vor Ort." Der gemeinsame Rahmen für Schutz- und Hygienemaßnahmen solle aktualisiert werden und "dem Arbeitsschutz Rechnung tragen". Dies könne bedeuten, so heißt es weiter im Beschluss, "dass in Abhängigkeit von der Entwicklung des Infektionsgeschehens die Wochen-, Tages- und Unterrichtsabläufe insgesamt oder regional angepasst werden". 

 

KMK-Präsidentin Stefanie Hubig (SPD), die im Hauptberuf Bildungsministerin in Rheinland-Pfalz ist, sagte laut Spiegel Online nach der Sitzung, die Aussage, dass Unterrichtsabläufe angepasst werden müssten, gehöre "zur Ehrlichkeit... aber auch dazu." Gut so. Und Hubig versicherte, dass auch wenn diese Szenarien im gestrigen Beschluss nicht explizit genannt würden, in allen Ländern sehr wohl auch die (hoffentlich nicht nötigen!) Alternativen zum Regelbetrieb vorbereitet würden. Aber Schulschließungen müssten künftig eben die "Ultima Ratio" sein", sagte Hubig weiter, das Recht auf Bildung müsse hochgehalten werden.

 

Trotzdem kommen die Aussagen der KMK zum Fernunterricht allzu wolkig daher. Die Länder wollen, steht im Beschluss, "die Digitalisierung des Lehrens und Lernens weiter vorantreiben" und dabei "auf den in der Corona-Krise gemachten Erfahrungen aufbauen". Die "für den Distanzunterricht benötigten, verlässlichen und rechtlich sicheren Kommunikationsinstrumente und Lernplattformen" sollten weiter ausgebaut werden.

 

"Weiter vorantreiben" bedeutet noch keine
Standards für den Fernunterricht

 

Auffällig ist hier die mehrfach ähnliche Formulierung "weiter" vorantreiben/aufbauen/ausbauen. Das hört sich alles nicht so an, als bestünde der Ehrgeiz der Kultusminister darin, bis zum Beginn des neuen Schuljahrs bereits die nötigen Standards für den Fernunterricht zu etablieren. Doch genau die bräuchte es, wann immer einzelne Schulen wie gerade in Gütersloh oder Magdeburg dicht gemacht werden. Und das wird auf Dauer so bleiben – bis die Pandemie vollständig vorüber ist.

 

Anstatt Standards anzukündigen, nennen die Minister den schleppend laufenden Digitalpakt Schule und die 2016 beschlossene, damals sehr fortschrittliche, bislang allerdings nur unzureichend umgesetzte KMK-Strategie "Bildung in der digitalen Welt" als Referenzrahmen. Für einen KMK-Beschluss zum Umgang mit einer Pandemie ist das besorgniserregend. 

 

Positiv ist das Bekenntnis, dass die Länder die Lernrückstände bei den Schülern angehen wollen. Auch hierzu haben sie sich heute von den eingeladenen BildungsexpertInnen beraten lassen, betont der Beschluss und formuliert zugleich das Commtiment, dass die externe Beratung "fortlaufend" weitergehen soll. Gleich an zwei Stellen versprechen die Kultusminister, in ihrem Beschluss, sich in Sachen Pandemie und den Auswirkungen auf den Schulbetrieb nicht nur untereinander weiter regelmäßig zu beraten, was eine Selbstverständlichkeit ist, sondern auch mit externen ExpertInnen. Gut so. Offenbar ahnen sie selbst: Angesichts all der offenen Fragen nach dem heutigen Beschluss wird es dazu in den nächsten Wochen reichlich Anlass geben. 




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Kommentare: 2
  • #1

    @herrlarbig (Freitag, 19 Juni 2020)

    Der hessische Kultusminister hat sich kürzlich den Fragen der Eltern gestellt. Und wenn auch er immer wieder darauf hinweist (hinweisen muss), dass vieles unklar ist, wird doch einiges aufgegriffen, was hier im Kommentar als offene Frage erwähnt wird. Vielleicht gibt das etwas mehr Klarheit in der weiter bestehenden diffusen Situation: https://youtu.be/M3Cgf53gr5E

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Freitag, 19 Juni 2020 08:25)

    @herrlarbig: Ich glaube, dass viele Kultusminister in ihren Ländern schon weiter sind. Ich glaube aber, dass gerade in dieser diffusen Situation die KMK das Gremium sein sollte, um sich auf die nötigen Kriterien und Standards zu verständigen – auch um gemeinsam, wenn nötig gegen Regierungschefs zu stehen, falls diese erneut landesweite Schulschließungen erwägen.