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Das Ende des "Immer mehr"

Der Anteil der Abiturienten stagniert, die Bildungswege werden vielfältiger, zugleich wachsen die Gegensätze im Bildungssystem: Nur einige der Trends im Bildungsbericht 2020, der heute erscheint. Zugleich liest er sich wie eine letzte Nullmessung vor der Corona-Krise.

Bildungsbericht 2020 (Screenshot).

ER SOLL EINE Bestandsaufnahme sein, ein umfassendes Spiegelbild des deutschen Bildungssystems. Alle zwei Jahre erscheint der nationale Bildungsbericht, vorgelegt von einem Konsortium führender Bildungswissenschaftler, und von Mal zu Mal ist er seiner Zielsetzung durch eine ganz eigene Mischung aus Detailreichtum, Analyse und Ausblick gerechter geworden. Bei dem heute vorgelegten – dem achten – Bildungsbericht wäre das nicht anders gewesen. Doch dann kam Corona. Und so liest sich die hunderte Seiten lange Sammlung von Bildungsstatistiken, Tabellen, Infografiken und wissenschaftlichen Einordnungen wie die Null-Messung vor der Pandemie. Wer einst wissen will, was Deutschlands Kitas, Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetriebe unmittelbar vor der Covid-19 umtrieb, wird in "Bildung in Deutschland 2020" Auskunft finden.

 

Die Frage, die derzeit keiner beantworten kann, auch nicht die Bildungsbericht-Autoren: Welche der Trends, die sie beschreiben, werden die Krise überdauern? Den Wert des Berichts schmälert das keineswegs, im Gegenteil: Es ist ein Glück, dass jetzt eine Vor-Corona-Bestandsaufnahme auf dem Tisch liegt. An ihr wird sich die Bildungspolitik der kommenden Jahre messen lassen müssen. Allerdings macht es den Job der Bildungsberichtsautoren, allen voran ihrem Sprecher Kai Maaz, zugleich absehbar schwer heute Vormittag bei der offiziellen Präsentation: Sie wollen, sie können aufgrund der vorliegenden Daten wenig zur Corona-Krise in der Bildung sagen. Und sie werden doch vor allem darum gebeten werden.

 

Was waren die zentralen Trends im Bildungswesen? Wer den dicken Berichtsband durchblättert, wird beim genauen Hinschauen viele finden. Und sich dabei hoffentlich nicht in dem schier unerschöpflichen Zahlenschatz verlieren. Einige der aus ihrer Sicht aussagekräftigsten haben die Autoren deshalb zusammengetragen. Sie sind überraschend, mitunter auch überraschend positiv. Und teilweise eröffnen sie, obgleich sie von vor der Krise stammen, doch einen spannenden Blick auf die Bildungseinrichtungen seitdem.

 

Der Trend zu immer höheren Bildungsabschlüssen
erreicht seine Grenzen

 

Am überraschendsten, zumindest auf den ersten Blick: Der langjährige Trend zu immer mehr und immer höheren Bildungsabschlüssen hatte vor Corona seine Grenzen erreicht. Die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss stieg wieder, von 5,8 Prozent 2014 auf 6,8 Prozent 2018. Parallel sank der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Schule mit Abi oder Fachhochschulreife verließen, um drei Prozentpunkte auf 50 Prozent 2018. Auch die sogenannte Übergangsquote von der Grundschule aufs Gymnasium bewegte sich zuletzt seitwärts zwischen 43 und 44 Prozent. Zuvor war sie seit Beginn der 2000er Jahre bis 2016 um sieben Prozentpunkte angestiegen. Zu all dem passt, dass die Zahl der Studienanfänger seit 2013 auf unverändertem – allerdings hohem – Niveau  von gut  500.000 pro Jahr liegt.

 

Bildungsbericht-Sprecher Maaz, im Hauptberuf geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation, findet den Trend so überraschend allerdings dann doch nicht. "Die Grenze ist spätestens dann erreicht, wenn alle jungen Menschen, die dafür das kognitive Potenzial haben, Abitur machen", sagt er. Das sei eine so logische wie normale Entwicklung. "Und mit der bin ich ehrlich gesagt zufrieden", fügt Maaz hinzu. "Stiegen die Werte immer weiter, würde das auf eine beliebige Entwertung der Abschlüsse hindeuten, und die findet nicht statt." 

 

Das Bildungssystem ist
durchlässiger worden

 

Die Bildungsforscher nennen noch einen zweiten Grund für die Grenzen der Bildungsexpansion. Es ist ein positiver und zugleich der zweite übergreifende Trend, den die Bildungsberichtsautoren dem deutschen Bildungssystem vor Corona attestieren: Es ist durchlässiger geworden. Die Abschlüsse seien weniger an Schularten gekoppelt, und Bildungsentscheidungen, etwa die Auswahl der weiterführenden Schule, könnten leichter korrigiert werden. "Wenn Schüler auch das Abitur erwerben können, ohne das Gymnasium zu besuchen, nimmt das ein Stückweit den Druck aus den Bildungsbiographien", sagt Kai Maaz. 

 

Tatsächlich: Wenn man sich die Übergangsquoten von der Grundschule ansieht, fällt neben der erwähnten Stagnation beim Gymnasium auf, dass bedeutend mehr Kinder auf eine Schulart mit zwei oder drei Bildungsgängen wechseln: gut 30 Prozent gegenüber unter 20 Prozent zu Beginn der 2000er Jahre. Dahinter steckt erstmal ein statistisches Artefakt, weil es immer weniger eigenständige Real- und Hauptschulen, die traditionellen Schulformen des gegliederten Schulsystems, gibt. Sie gehen in den neuen Schularten auf. Doch zeigt sich in diesem Auf- und Zusammengehen ehemals mehrerer Schulformen laut den Bildungsforschern zugleich die wachsende Attraktivität der Alternativen zum Gymnasium. Ebenfalls vielversprechend ist, dass Auswertungen zufolge ein durchaus beachtlicher Anteil von Hauptschülern  – konkret: 11 Prozent – es schafft, im Laufe ihrer Schulkarriere auf eine höhere Schulform zu wechseln. Insgesamt wechseln 28 Prozent der Schüler in der Sekundarstufe I die Schulform, davon nur fünf Prozent eindeutig "abwärts" gerichtet, bei 12 Prozent ist die Wechselrichtung unklar.

 

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Stefanie Hubig, sprach von einem ermutigenden Befund. In ihrem eigenen Bundesland gebe es zum Beispiel jetzt die Realschule plus, sagt die SPD-Politikerin Hubig, die Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz ist. "Von der aus können Schüler über die Mittlere Reife ohne großen Wechsel weiter zur Schule gehen und die Fachhochschulreife erwerben."  Der parlamentarische Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, Christian Luft, sagt, die höhere Durchlässigkeit sei "ein ganz wesentlicher Erfolg der Bildungspolitik der vergangenen Jahre". Die einzelnen Bildungsbereiche verstünden sich nicht mehr so stark als "Silos". 

 

Durchlässiger bzw. offener sind auch die Hochschulen geworden. Im Jahr 2000 hatten nur 0,4 Prozent der Studienanfänger keine schulische Hochschulzugangsberechtigung. 2018 studierten schon 3,5 Prozent ohne Abitur. Dies sei zugleich ein Beispiel dafür, dass Erwachsene verstärkt die Möglichkeit der Weiterbildung im Beruf nutzen, meinen die Forscher. 

 

Die sozialen Unwuchten bleiben –
und verstärken sich teilweise sogar

 

Der Bericht beschreibt weitere positive Entwicklungen, allen voran die massiv gestiegenen Kitaquoten: 2019 befanden sich 34 Prozent der Unter-3-Jährigen in einer Kindertagesbetreuung und 94 Prozent der 3- bis 6-Jährigen. Die Zahl des pädagogischen Kitapersonals verdoppelte sich innerhalb von zehn Jahren nahezu – auf knapp 610.000. Doch der Fachkraft-Kind-Betreuungsschlüssel unterscheidet sich weiter stark von Bundesland zu Bundesland. Zugleich besuchen immer mehr Schulkinder den Ganztag, auch wenn hier mehr Tempo nötig ist.

 

Denn besorgniserregend waren schon vor Corona die sozialen Unwuchten im Bildungssystem. Es gebe zunehmend mehr Menschen mit sehr niedrigem Bildungsstand, warnen die Forscher – der dritte übergreifende Trend, auf den die Autoren bei der Vorstellung des Bildungsberichts hinweisen. Zehn Prozent der Bevölkerung hätten gar keinen Berufsabschluss. Bei Menschen, die mit 19 oder älter nach Deutschland eingewandert sind, gelte dies sogar für 39,6 Prozent. Und selbst von den in Deutschland geborenen Kinder von Einwanderern könnten 28,4 Prozent keinen Berufsabschluss vorweisen. KMK-Präsidentin Hubig sagte, der Einfluss der sozialen Herkunft sei immer noch viel zu groß und die "größte Baustelle unseres Bildungssystems".

 

Rückläufig sind unterdessen die Bestehensquoten bei Sprach- und Orientierungskursen. Nur noch 52 Prozent erreichten das mittelmäßig anspruchsvolle B1-Niveau, 33 Prozent lediglich A2 und 15 Prozent liegen sogar unterhalb dieser Stufe. Zahlen, die auch den starken Zuzug an Geflüchteten seit 2015 widerspiegeln und insofern nur Momentaufnahmen sein können. Positiv ist denn auch, dass die Zahl der Jugendlichen, die nach der Schule nicht in einer Ausbildung landen, sondern im sogenannten Übergangssektor, nach einem enormen Ausschlag im Zuge der Flüchtlingskrise zuletzt wieder deutlich gesunken war – auf allerdings immer noch viel zu viele 252.000. Trotzdem sieht Bildungsberichts-Autor Maaz in den ungleichen Chancen im Bildungssystem mit den größten "Sprengstoff".

 

Ungleiche Chancen, die sich zum Beispiel auch darin ausdrücken, dass 22,7 Prozent der Einwohner ohne Migrationshintergrund einen Studienabschluss vorweisen können, aber nur 15,9 Prozent der in Deutschland geborenen Einwandererkinder. Und noch eine nachdenklich stimmende Statistik: 96 Prozent der Abiturienten aus Akademikerfamilien mit besten Abschlussnoten gehen studieren, aber nur 89 Prozent der ebenso guten Schulabgänger aus Nichtakademikerfamlien. Noch krasser ist der Unterschied bei den Abiturienten mit den schwächsten Noten. Akademikerkinder nehmen trotzdem zu 71 Prozent ein Studium auf, von den Nicht-Akademikerkindern nur 57 Prozent. 

 

Alles wird digitalisiert,
doch die Schulen hinken hinter

 

Als vierten Trend machen die Bildungsberichtsautoren, was nun gar nicht überrascht, die "zunehmende Digitalisierung in allen Bildungsbereichen" aus. Ernüchternd ist indes all das, woran es trotzdem fehlt. So besitzen zwar 95 Prozent der 12- bis 13-Jährigen ein Smartphone, bei den 18- bis 19-Jährigen sind es 99 Prozent. Und 92 Prozent der Achtklässler nutzen digitale Medien außerhalb der Schule zu allen möglichen Zwecken. Aber: Nur 42 Prozent tun es außerhalb der Schule für "schulbezogene Zwecke", also zum Lernen. Und nur 23 (!) Prozent berichten, dass sie digitale Medien im Unterricht einsetzen. 

 

Dazu passt, dass nur zwei Prozent der Achtklässler 2018 die höchsten digitalen Kompetenzen besaßen, dafür 33 Prozent gerade mal die allereinfachsten digitalen Fertigkeiten beherrschten. Vor dem Studium erreichten nur 20 Prozent der Abiturienten die höchste Kompetenzstufe, im dritten Studienjahr dann aber schon 38 Prozent – wobei diese im Bildungsbericht angeführten Daten bereits von 2013 stammen. Klar ist aber: Der große Sprung bei den Digital-Kompetenzen kommt erst nach der Schule. 

 

Trotzdem hatten es die Bildungspolitik vor Corona nicht besonders eilig, etwas an der Digital-Situation im Unterricht zu ändern. Laut Bildungsbericht hatten längst noch nicht alle Länder konkret geplant, landesweit einheitliche Vorgaben zur "Vermittlung von Anwendungs- und methodisch-didaktischen Kompetenzen im Lehramtsstudium" zu machen. Womit der Bildungsbericht in seiner Analyse zum Digitalisierungsstand in den Schulen vor Corona den Finger genau da in die Wunde legt, wo es seit den Schulschließungen im Frühjahr so sehr wehgetan hat.

 

Die Bildungsforscher mahnen
die Politik eindringlich

 

Dabei heben die Bildungsberichtsautoren nicht nur auf die Rolle der Digitalisierung ab, sondern sie betonen auch: Die Corona-Pandemie zeige, welchen hohen Stellenwert Kitas und Schulen für die Sozialisierung hätten – und auch, wie wichtig die Familie als Bildungsort jenseits der öffentlichen Bildung sei. Natürlich, siehe oben, verstärkt die familiäre Herkunft damit auch die sozialen Unterschiede im Bildungssystem, umso mehr durch den in der Krise nochmals verschärften Mangel an ErzieherInnen und Lehrern. Je nach Bundesland fallen rund zehn bis 20 Prozent des Kollegiums für den Präsenzbetrieb aus, weil sie zur Corona-Risikogruppe zählen. Weshalb zuletzt Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der Stuttgarter Zeitung sagte, er halte den Regelbetrieb, den "wir uns alle" wünschten, für "nicht realistisch". Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) entgegnete, sie sei über Kretschmanns Äußerungen "verwundert". 

 

Die Bildungsforscher jedenfalls mahnen dringend noch deutlichere Anstrengungen der Politik an, den seit Jahren vorhandenen Mangel zu bekämpfen – und den vielen Seiteneinsteigern und befristet Beschäftigten die nötige Qualifizierung und Unterstützung zukommen zu lassen. "Neben der Problematik, den Zugang zur Bildung im Zuge der Corona-Pandemie aufrechtzuerhalten, bestehen langfristige Herausforderungen", sagt Kai Maaz." Sie haben nichts an Aktualität eingebüßt, sondern erfahren teilweise eine neue Dringlichkeit." 

 

"Die Schere ist in der Zeit der Schulschließungen auseinandergegangen", bestätigt auch Stefanie Hubig. Die KMK-Präsidentin räumte angesichts des Bildungsberichts "Handlungsbedarf in vielen Punkten" ein, die Analyse des Bildungsberichts decke sich hier mit den Wahrnehmungen der Kultusminister. "Wir teilen in den 16 Ländern viele Herausforderungen, das zeigt sich in der Corona-Zeit noch einmal deutlicher als vorher." Besonders bei der digitalen Bildung müsse der "Schwung durch Corona" jetzt in neue didaktische Konzepte münden, man müsse sich da ein "Stückweit ehrlich machen: Schule nach Corona wird nicht mehr so sein wie davor."

 

Eine Erkenntnis, die, wenn man sie ernstnimmt, einen echten Schwung auch in der Bildungspolitik voraussetzt. Ob er kommt, wird sich eines Tages besonders gut ablesen lassen im Vergleich zum Bildungsbericht 2020. Dieser Nullmessung der Bildungspolitik vor Corona. 


Der Bildungsbericht und seine Macher

Der Bildungsbericht wird verfasst von der Autorengruppe Bildungsberichterstattung, die das DIPF | Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation federführend verantwortet. Sprecher der Gruppe ist der DIPF-Direktor Kai Maaz.

 

Für den Bildungsbericht werden keine eigenen Studien erstellt, sondern vorhandene Untersuchungen und Statistiken zusammengetragen und ihre Ergebnisse kombiniert – weshalb einem manche Aussagen auch bereits bekannt vorkommen dürften. Und wer brandaktuelle Ergebnis erwartet, muss zwangsläufig enttäuscht werden. Das Besondere ist eben der Gesamtüberblick, der entsteht. 

 

Für jedes Bildungsfeld im Bericht gibt es eigene Zuständige, die die Daten zusammenstellen und analysieren, darunter führende Bildungsforscher wie Susan Seeber vom Soziologischen 

Forschungsinstitut an der Universität Göttingen, Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut und Sandra Buchholz vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. 

 

Weitere beteiligte Institutionen sind das Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen (DIE), das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) und die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder.

 

Seit 2006 erscheint der Bildungsbericht alle zwei Jahre, nunmehr zum achten Mal. Er hat allerdings einen über 40 Jahre alten Vorläufer: 1979 veröffentlichte die "Arbeitsgruppe Bildungsbericht" am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung erstmals ihren Überblick "Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland" – damals in seiner empirischen Ausrichtung eine echte Sensation. 



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