· 

Im Hörsaal zu Hause

Ist das digitale Sommersemester an den Hochschulen gescheitert – oder in Wahrheit ganz gut geglückt?

"MAMA", HÖRT MAN im Hintergrund, doch Annekatrin Hoppe muss sich konzentrieren. Es ist Anfang April, seit zwei Wochen sind in Deutschland Kitas, Schulen, Geschäfte geschlossen. Hoppe, Professorin für Arbeitspsychologie, ist im Stress; auch ihre Hochschule, die Berliner Humboldt-Universität, ist zu. Das Sommersemester soll trotz der Corona-Krise stattfinden, online. Ihre Vorlesung und ihr Seminar zu »Arbeit und Gesundheit« muss sie ins Internet verlagern, irgendwie, so schnell wie möglich.

 

Wie Hoppe ging es zum Beginn dieses Ausnahmesemesters Zehntausenden Hochschullehrern. Die Anatomie-Vorlesung – plötzlich als Videokonferenz; die Einführung in die Volkswirtschaftslehre – ein Zoom-Seminar; Hamlet – eine Textanalyse im Chat. Diese Aufgabe war ein Schock für die meisten Hochschulen, die die technische Aufrüstung ihrer digitalen Infrastruktur über Jahre verschleppt hatten. Und für viele Lehrende, die didaktisch keinerlei Erfahrung hatten, wie man Studierende auf diesem Weg erreicht.

 

Neulich erschien ein offener Brief, der wie eine Bilanz dieser Bemühungen klingt. Der Brief, initiiert von 33 Geistes- und Sozialwissenschaftlern, warnt, dass durch den Sprung in die Online-Lehre die Präsenzformate langfristig an politischer Unterstützung verlieren könnten. Die universitäre Lehre »beruht auf einem kritischen, kooperativen und vertrauensvollen Austausch«, heißt es. Das Gespräch zwischen Anwesenden sei dafür die »beste Grundlage« und lasse sich »nicht verlustfrei in virtuelle Formate übertragen«. Tausende Lehrende aller Fächer unterschrieben.

 

Viele Tausend unterschrieben aber nicht. Seitdem diskutieren die Hochschulen: Ist das digitale Semester gescheitert – oder in Wahrheit ganz gut geglückt?

 

Seminarvorbereitung
im Schichtdienst

 

Anfang April, als Annekatrin Hoppe vor den neuen digitalen Plattformen sitzt, merkt sie, was ihr an Technik und Wissen fehlt. Während ihrer Promotion hatte sie schon mal einen E-Learning-Kurs angeboten, das war’s. Jetzt hat sie sich als Erstes einen Zeitplan gemacht: drei Wochen noch, bis die erste Online-Vorlesung und das Konzept für den Rest des Semesters stehen muss. »Ostern fällt aus, die Wochenenden auch«, sagt die 41-Jährige. Seit die Kitas zu sind, betreut sie im Schichtwechsel mit ihrem Mann auch noch ihre zwei kleinen Kinder, drei und eins. Was bleibe ihr übrig, sagt sie, es könne ja keiner was für diese Situation. Hoppe klingt erstaunlich entspannt, auch neugierig auf das Experiment. Sie ist schließlich Arbeitspsychologin und forscht dazu, wie sich neue Technologien auf die Beschäftigten auswirken.

 

500 Kilometer entfernt, an der Universität Marburg, steht in diesen Tagen auch Ulrich Lotzmann vor Schwierigkeiten. Er ist Professor für Zahnersatzkunde, »Spektrum von der Einzelzahnkrone über implantatgetragenen Zahnersatz bis zur Vollprothese«, wie der 63-Jährige sagt. Theoretische Grundlagen könne man zwar online vermitteln, »nicht aber das manuelle Training und die Behandlung von Patienten«.

 

In einem normalen Semester laufen in Lotzmanns Abteilung täglich vier praktische Halbtagskurse mit insgesamt 130 Studierenden – im Grundstudium, der sogenannten Vorklinik, arbeiten die Studenten an Zahn- und Kiefermodellen, später dann an echten Patienten. All das geht jetzt wegen Corona nicht. Stattdessen drehen er und seine Mitarbeiter kleine Videos, mit denen die Erstsemester die Anatomie der Zähne kennenlernen und zu Hause üben können, wie man feine Drähte präzise biegt und mit Wachs Zahnkronen modelliert. In Online-Meetings mit ihren Dozenten erhalten die Studierenden dann Tipps, wie sie es noch besser hinbekommen können. Zu Hause zu üben sei aber allein wegen der fehlenden Ausstattung schwierig.

 

Wie kommt man an die ran, die digitale Lehre
grundsätzlich für überbewertet halten?

 

»Am Anfang der Corona-Krise war an vielen Hochschulen ein erstaunlicher Pragmatismus zu spüren. Man redet nicht lange, man tut«, sagt Oliver Janoschka. Er leitet das Hochschulforum Digitalisierung, einen vom Bundesbildungsministerium finanzierten Thinktank. Vor Corona mühten er und seine Kollegen sich darum, mit Konferenzen, Web-Kursen und Beratungsangeboten den Digital-Enthusiasmus an den Hochschulen zu befeuern. Es gebe sehr engagierte Dozenten und Rektorate. Das Problem sei, an jene heranzukommen, die digitale Lehre grundsätzlich für überbewertet hielten. Seit Corona muss Janoschkas Team keinem mehr die Bedeutung digitaler Lehre erklären. Zu den Webinaren über Online-Lehre schalten sich nun Tausende Nutzer dazu.

 

Annekatrin Hoppes erste Semestervorlesung über Zoom, die »Einführung in die Arbeitspsychologie«, besuchen Ende April fast 100 Studierende. Hoppe aber sieht kaum ein Gesicht. Um Bandbreite zu sparen, haben alle ihre Kameras und Mikros ausgeschaltet. Die Professorin sitzt in ihrem Wohnzimmer und spricht in einen schwarzen Bildschirm hinein. »Das hat mich aber nicht gestört«, sagt sie. Zumal das mit den Fragen über die Chatfunktion richtig gut geklappt habe: »Meine Kollegin und ich waren total erstaunt, wie viele und mutige Fragen kamen – und wie spontan.«

 

Hoppe wechselt sich wöchentlich mit einer anderen Professorin ab, die Zusammenarbeit nimmt beiden etwas Druck. Aus dem Krisenmodus ist Hoppe inzwischen raus, ihre nächste Vorlesung ist schon vorproduziert. Aber die Kinder sind immer noch zu Hause, »das mit der Notbetreuung wird erst mal nichts. Mal sehen, wie das mit den Seminaren läuft.« Denn die sind live.

 

Ulrich Lotzmann in Marburg hofft in diesen Wochen auf erste Lockerungen für die Hochschulen. Er ahnt aber, dass ein Normalbetrieb unrealistisch ist: »Selbst wenn wir im Labor arbeiten dürften, wäre das schwierig, weil wir wegen der Abstandsregeln nur jeden zweiten oder dritten Platz besetzen können.«

 

Also bleibt es bei den Lehrvideos. Und Lotzmann denkt schon an die Zeit nach Corona: Die Zukunft liege in der »digital unterstützten Präsenzlehre«, sagt er. Kurze Videoeinheiten, jeweils 20, 30 Minuten lang, haben es ihm angetan. Jederzeit online abrufbar, könnten sie die klassischen Präsenzvorlesungen zum Teil ersetzen, sagt Lotzmann. »Die eigentliche Vorlesungszeit kann man dann nutzen, um die Videoinhalte zu diskutieren und zu ergänzen.« Flipped Classroom nennen das die Didaktikexperten – ein jahrzehntealtes Modell, das in Deutschland aber kaum Fuß fassen konnte.

 

Je größer die Hochschule, je traditioneller ein Fach,
desto schwerer fällt die digitale Spontanrevolution

 

Nicht alle bewältigen die Herausforderung gleich gut: Je größer eine Universität, je traditioneller ein Fach, desto schwerer fällt die digitale Spontanrevolution. Umgekehrt zeigt sich: Kleineren Fachhochschulen, die oft schon mehr Erfahrung mit elektronischer Lehre haben, fällt das Umstellen leichter. Das glaubt jedenfalls Jens Hermsdorf. Er ist Präsident der Hochschule Worms – 3700 Studierende, 75 Professoren, verteilt auf die Schwerpunkte Informatik, Verkehrswesen und Betriebswirtschaft. Hermsdorf berichtet, sie hätten schon vor den Kontaktsperren 1200 elektronische Kurse gehabt. In den vergangenen Wochen seien so viele dazugekommen, dass die Server an ihre Belastungsgrenze kamen. »Wir haben schnell zusätzliche Kapazitäten eingekauft und nutzen jetzt mehrere Online-Portale parallel«, sagt Hermsdorf.

 

Ein paar Wochen später. Annekatrin Hoppe kämpft. Immerhin, sie darf ihre Kinder wieder in die Kita schicken. Berlin hat Hochschullehrer als systemrelevant eingestuft. Aber Hoppes Seminare funktionieren nicht wie erhofft. Die erforderliche Bandbreite ist nun da, doch Hoppe fühlt sich mittlerweile allein in ihrem virtuellen Seminarraum. Die Studierenden dürfen aus Datenschutzgründen ihre Kameras ausschalten – und tun das auch, durchgehend. »Am Anfang gab es immerhin ein paar, die sich zeigten«, sagt Hoppe. »Eine Studentin hat ihre Kommilitonen sogar vehement aufgefordert, ihr Video auch einzuschalten, um des besseren Austauschs willen.« Vergeblich.

 

Hoppe blickt auf schwarze Kacheln. Das stört sie: Es fehle an Interaktion, am Miteinander. Einige ihrer Studierenden diskutieren durchaus engagiert mit, aber immer dieselben. »Das ist wie in einem Präsenzseminar, nur noch einseitiger.« Warum zeigen sich die Studierenden nicht? Hoppe kann es nur vermuten: »Es hat sich zum einen so eingespielt, da wir am Anfang Bandbreite reduzieren wollten.« Andere gäben an, keine Kamera zu haben, sagt Hoppe und fügt hinzu: »Manche finden diese passive Seminarteilnahme vielleicht ganz angenehm.« Sie vermutet aber auch, dass hinter manchem schwarzen Bildschirm zwischendurch gar keiner sitzt.

 

Bei Ulrich Lotzmann läuft es besser. Seine Lehrvideos sind nachgefragt, die Studierenden wirken präsent. Madeleine Duda, 25, ist eine von ihnen, sie studiert Zahnmedizin im achten Semester. Belastend, sagt sie, sei an diesem Semester nicht der Abstand zu ihren Professoren und Kommilitonen gewesen. »Belastend war, dass uns lange keiner sagen konnte, ob und in welcher Form wir doch noch praktisch üben können.«

 

Für die große Digital-Euphorie
sind viele zu erschöpft

 

Eine Woche später kann es losgehen, das Üben am Modell ist wieder erlaubt, die Studierenden können sich auch gegenseitig behandeln, etwa wenn sie ihre Kiefergelenke und Kaumuskelfunktionen untersuchen – unter »strengen Hygienevorschriften«, wie Lotzmann betont. »Die Dozenten haben sich unglaublich reingehängt«, sagt Duda, »aber noch ein digitales Semester kann ich mir zumindest für mein Fach nicht vorstellen.« Sie wisse nicht, wie es eine Hochschule verantworten wolle, Studierende als fertige Zahnärzte zu entlassen, die nicht genügend Erfahrung an Patienten sammeln konnten. Woran sich Duda gewöhnen könnte: In normalen Semestern sei sie oft von morgens um acht bis abends um 19 Uhr in der Zahnklinik, in diesem Semester habe sie sich ihre Zeit freier einteilen können.

 

Dass die große Digital-Euphorie ausbleibt, hat auch damit zu tun, dass viele erschöpft sind. Lehrende, Studierende – und auch die Hochschulleitungen. Jens Hermsdorf von der Hochschule Worms fühlt sich in diesen Tagen weniger wie ein Professor, eher wie ein Logistiker. Er plant, kalkuliert, rechnet. »Ein Präsenzbetrieb ist derzeit nicht realistisch«, sagt er: Der größte Hörsaal in Worms fasst 400 Sitzplätze, nach Corona-Richtlinien dürften 50 Leute rein. Für die Vorbereitung der Semester-Endprüfungen hat er zwei Festhallen angemietet, mit jeweils Platz für 700 Personen. Macht in Corona-Klausurbestuhlung: 100 Plätze. Für die größten Universitäten des Landes mit ihren 50.000 Studierenden ist das undenkbar.

 

Annekatrin Hoppe hat inzwischen sechs Vorlesungen und sechs Seminarsitzungen hinter sich gebracht. Sie ist kritisch: »Es wäre viel mehr Unterstützung durch die Hochschulleitungen nötig, damit das klappt. Ein paar Tausend Euro für die Hardware reichen da nicht. Wir bräuchten Schulungen in Didaktik und Datenschutz.« Und für viele Seminare, sagt sie, eigne sich ein Online-Angebot »gar nicht«. Ulrich Lotzmann ist optimistischer: Er will seine Studierenden auch künftig online vorbereiten, dann mit ihnen über das Gelernte diskutieren – und erst danach zur Praxis übergehen.

 

»Die Hochschulen haben es gut geschafft, sehr schnell die nötige Quantität zu schaffen«, sagt der Digitalisierungsexperte Oliver Janoschka. »Das heißt vor allem: Die Technik hat gehalten. Und sie haben es geschafft, einen Teil der Präsenzveranstaltungen online zu spiegeln.« Allerdings in stark unterschiedlicher Qualität: Vom Streaming der Vorlesung über eingescannte Arbeitsblätter bis zum virtuellen Seminarraum und Online-Quiz sei alles dabei. »Jetzt kommt es darauf an, überall Standards guter digitaler Lehre zu etablieren.« Das, sagt Janoschka, werde noch ein ganz dickes Brett. Jetzt, wo das Sommersemester bald endet, ist Zeit für einen neuen emotionalen Zustand: Realismus.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der ZEIT.


Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Prof. Dr.-Ing. Eckhard Hennig, Hochschule Reutlingen (Mittwoch, 24 Juni 2020 10:16)

    Liebe Autoren,

    ich wünsche mir in der Berichterstattung eine getrennte Darstellung der Online-Lehrerfahrungen für Bachelor- und Master-Studierende.

    Meine Erfahrung als Lehrender im Bereich der Ingenieurwissenschaften an der Hochschule Reutlingen: mit Master-Studierenden funktionieren Online-Vorlesungen, Projektmeetings und Diskussionsseminare im Rahmen einer realistischen Erwartungshaltung ganz gut, z.T. sogar überraschend gut, wenn es um die Betreuung von Projektarbeiten geht, die die digitale Konstruktion technischer Objekte am Rechner betreffen. In Video-Konferenzen sind inzwischen auch häufig die Webcams der Studierenden eingeschaltet, nachdem meine Kollegen und ich mehrfach darum gebeten haben. Diese Erkenntnisse sind nicht unbedingt überraschend, da Master-Studierende mit dem Hochschulbetrieb ausführlich vertraut sind und wir Lehrende unsere Studierenden oft bereits seit Jahren persönlich kennen. Außerdem können sie offensichtlich rechnen und haben festgestellt, dass die Bandbreiteanforderungen auch mit Video von vielen Teilnehmenden nicht besonders hoch sind (wer YouTube-Katzenvideos zu Hause per WLAN auf seinem Handy streamen kann, kann auch an Webex/Zoom/Teams-Meetings mit eingeschalteten Kameras teilnehmen).

    Mit Bachelor-Studierenden, insbesondere der unteren Semester, ist es jedoch eine reine Katastrophe. 30 - 40 Teilnehmer in einer Videositzung, keine einzige Kamera eingeschaltet, überwiegend keine Klarnamen, praktisch null Beiträge im Chat, auch auf mehrfache Nachfrage meinerseits in der Regel keine Redebeiträge zu Diskussionsthemen oder Übungsaufgaben ... ist da überhaupt irgendjemand anwesend, und wenn ja, sind das eigentlich "meine" Studierenden? Noch ein solches Semester möchte ich nicht erleben.

    Ob das Digitalsemester "funktioniert" hat - zumindest aus der technischen, logistischen und didaktischen Sicht -, werden wir erst nach den Prüfungen im Sommer beurteilen können. Aus der für mich aber ebenso wichtigen sozialen Perspektive kann ich schon seit Wochen sagen: es ist ein Desaster.

    Viele Grüße

    Eckhard Hennig