Wenn die Hochschulrektoren tagen, begegnen einem Menschen mit Zuwanderungsgeschichte fast nur beim Geschirrabräumen. Höchste Zeit, dass sich auch Unis mit ihren Vorurteilen auseinandersetzen.
EIGENTLICH ERSTAUNLICH, welchen Wirbel ein Zitat auslösen kann, das bei genauerem Hinsehen eine Selbstverständlichkeit benennt. Dass es auch in Deutschland "latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte" gebe, hatte SPD-Chefin Saskia Esken Anfang Juni den Zeitungen der Funke Mediengruppe gesagt – und erntete dafür so heftige Proteste, dass sie sich Tage später gezwungen sah klarzustellen: Es sei nicht ihre Absicht gewesen, die Polizeibeamten "unter Generalverdacht" zu stellen.
Dabei hatte Esken das gar nicht getan. Sie hatte nie behauptet, dass alle Polizisten oder auch nur die Mehrheit der Beamten Rassisten seien. Das Erschreckende ist: Käme jemand daher und würde verkünden, dass es keinerlei Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte gebe, würde er damit vermutlich weniger Entrüstung verursachen als Esken mit ihrem Satz. Und das ist das eigentliche Problem.
Anstatt auf die #BlackLivesMatter-Proteste in den USA wie auf Ereignisse von einem anderen Stern zu schauen, stünde es nicht nur der Polizei, sondern auch anderen gesellschaftlichen Institutionen hierzulande gut an, die eigenen Vorurteile und etablierten Benachteiligungsmechanismen offensiv zu hinterfragen. Denn natürlich gibt es sie, weil es sie in unserer Gesellschaft gibt. Es gibt sie auch an den Hochschulen. Und womöglich sind sie dort sogar ausgeprägter als in manchen anderen Ländern.
Rund 95 Prozent der Hochschulrektoren
haben einen deutschen Pass
Ein paar Zahlen: 79 Prozent der Fachhochschulrektoren und 76 Prozent der Unipräsidenten waren laut Erhebungen Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) 2019 männlich. Rund 95 Prozent hatten einen deutschen Pass. Und wer einmal auf einer Versammlung der Hochschulrektorenkonferenz war, der weiß: Menschen mit Zuwanderungsgeschichte begegnen einem dort fast nur beim Geschirrabräumen.
Das soll keine Kritik an den Rektoren sein. Denn sie rekrutieren sich aus einer Professorenschaft, deren Demographie nahezu identisch ist. Und: Die übergroße Mehrheit der Hochschullehrer stammt noch dazu aus Akademikerfamilien.
Natürlich hat das Folgen. Zum Beispiel die, dass viele Profs jegliche Debatten um "mehr Diversität" immer noch als Gefahr für "Qualitätsstandards" und "Exzellenz" begreifen anstatt als deren Voraussetzung. Und nicht wenige dieser Hochschullehrer führen ihre eigene Karriere allein auf ihre herausragenden Leistungen zurück und in keiner Weise auf ihre privilegierte Herkunft. Ist das wirklich nur Ignoranz?
Zum Glück steigt der Frauenanteil in der Professorenschaft. Aber gilt das auch für die Zahl der Hochschullehrer mit türkischen, russischen oder nigerianischen Nachnamen? Und wenn nein, woran liegt das? Und wozu führt es unter den Studierenden? Wie wohl fühlen sich junge Menschen, die anders aussehen, heißen oder denken als die überwältigende Mehrheit ihrer Professorinnen und Professoren, wirklich an den Hochschulen? Wie willkommen fühlen sie sich, wie unterstützt in ihren Karriereaspirationen?
Fest steht: Nur durch die entschiedene Ablehnung körperlicher oder verbaler Gewalt oder durch das Beschwören formaler Chancengleichheit werden Hochschulen noch nicht zu inklusiven Orten.
Dieser Beitrag erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
Abbildung: SVG SILH, CCO.
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Christiane (Montag, 29 Juni 2020 11:12)
Vielen Dank für diesen Beitrag! Wenngleich der Verweis auf einen deutschen Pass tatsächlich etwas irreführend ist, sieht man in den Kommentaren beim Tagesspiegel deutlich, wie viel noch zu tun ist insbesondere hinsichtlich des Verständnisses von strukturellem (!) Rassismus (gibt es einen Grund, dass der Untertitel hier fehlt?), (struktureller) Diskriminierung, der Reflektion eigener Privilegien und der Problematik von "Selbstrekrutierung". Auch wenn der Intersektionalitätsansatz oft noch mehr Verwirrung stiftet, finde ich ihn wesentlich für die Auseinandersetzung mit (Anti-)Diskriminierung, Diversity und Chancengleichheit an Hochschulen, die meiner Meinung nach auch die perfekten Institutionen/Organisationen sein könnten, um zu zeigen, wie es gehen kann - wenn sie denn wollten.
Jan-Martin Wiarda (Montag, 29 Juni 2020 11:29)
@Christiane: Vielen Dank! Was den deutschen Pass angeht: Wir haben sonst keine weiteren Daten, was die Diversität in Bezug auf die Zuwanderungsgeschichte angeht, und das ist schon ein wesentlicher Teil des Problems. Natürlich kann man sich daran aufhängen, wenn man möchte, und sagen, dass sich unter den 95 Prozent Deutschen ganz viele mit Migrationshintergrund befinden. Stimmt aber, wie wir wissen, nicht. Und der niedrige Anteil internationaler Rektoren sagt neben vielem anderen schon recht viel aus, finde ich.
Viele Grüße!
Melanie Bittner (Montag, 29 Juni 2020 12:53)
Detailliertere Informationen zu internationalen Professor*innen gibt es aus dem sehr spannenden BMBF-Projekt MOBIL
"Internationale Mobilität und Professur" https://www.erziehungswissenschaften.hu-berlin.de/de/mobilitaet
Darüber hinaus würde ich an die Rektor*innen doch gerne die kritische Frage richten, was sie an Ihren Einrichtungen tun, damit sich die heute schon viel diverseren Studierenden anerkannt fühlen: Was tun sie, um gute Lernmöglichkeiten für alle zu realisieren? Was tun sie, um gegen Diskriminierung vorzugehen? Was tun sie, damit ihre Nachfolger*innen irgendwann auch weniger homogen sein werden?
Und Herr Wiarda, ich frage nicht rhetorisch, sondern würde mich über eine Antwort freuen: Warum machen Sie nicht reale Geschlechtervielfalt durch Ihre Sprache sichtbar? Ich weiß nicht, ob es im Tagesspiegel möglich ist, aber in Ihrem eigenen Blog?
Sirika (Montag, 29 Juni 2020 14:27)
Vielen Dank für Denkanstoß, der längst überfällig ist. Was in dem Artikel nur latent ankling - aber meines Erachtens unbedingt erwähnt werden muss - ist, dass insbesondere die Hochschulen in angelsächsischen Ländern gezeigt haben, wie es auch anders gehen kann, und was für eine Bereichung viele unterschiedliche Perspektiven für den wissenschaftlichen Austausch aber auch den Wettbewerb der Institutionen untereinander sein können. Dies gilt sowohl für das wissenschaftliche Personal, als auch für die Mitarbeiter*innen in der Verwaltung. Diese Diversität geht mir - nach vielen Jahren Arbeit an englischsprachigen Universitäten im Ausland - im homogenen deutschen Uni-Alltag oft ab. Gefühlt sind Universitäten hier mittlerweile weit weniger divers als die Gesellschaft, deren Entwicklung Universitäten ja (auch) mit vorantreiben sollen und die Gefahr, von ausländischen Universitäten noch mehr abgehängt zu werden ist meines Erachtens sehr groß.
Josef König (Dienstag, 30 Juni 2020 08:12)
Du hast ja so recht. Aber leider stellst Du nur rhetorische Fragen, denn Du gibst auf sie keine Antworten und unterbreitest keine Vorschläge.
Jan-Martin Wiarda (Dienstag, 30 Juni 2020 08:13)
@ Josef König: Das stimmt, aber aus zwei Gründen soll das auch so sein. Erstens handelt es sich um eine kurze Kolumne im Tagesspiegel, die vor allem Denkanstöße liefern soll. Zweitens gibt es schon eine Menge Ideen, wie sich Diversität fördern lässt, es ist er eine Frage des Bewusstseins. Welche Idee dann vor Ort am besten umsetzbar ist, kann und sollte ich hier nicht sagen.