Bremens Bildungssenatorin Bogedan macht den länderübergreifenden Aufgabenpool verantwortlich für das schlechte Mathe-Abi in diesem Jahr. Damit hilft sie sich selbst kurzfristig aus der Patsche – auf Kosten des Bildungsföderalismus.
WAS WAR DA LOS? Zwei Bundesländer heben nachträglich die Abiturnoten in Mathe an: Sachsen um einen, Bremen gar um zwei Punkte. Bremen übrigens schon zum zweiten Mal nach dem vergangenen Jahr.
Die Ergebnisse der Mathe-Abiturprüfungen seien "erneut auffällig gewesen", sagte Bremens Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD) gestern, der Notendurchschnitt "schlechter als üblich".
War Corona schuld? Waren die Abiturienten verunsichert durch die Pandemie, konnten sie nicht richtig lernen, haben die besonderen Hygiene-Vorschriften sie nervös gemacht? Bogedan sagt: Nein, es habe sich "weniger um ein Corona-bedingtes Phänomen" gehandelt.
Tatsächlich wäre eine solche Begründung auch wenig stichhaltig gewesen, denn wie zuerst der Spiegel gestern berichtete, melden mehrere Bundesländer sogar bessere Abitur-Durchschnittsnoten als im vergangenen Jahr. Berlin zum Beispiel, aber auch Hamburg.
Bogedan hat ihren Schuldigen
gefunden – außerhalb Bremens
Was war dann das Problem? Bogedan sagt: Offenbar seien die Aufgaben "sehr schwierig gewesen". Also Selbstkritik der Bildungsbehörde? Mitnichten. Die Senatorin betont nämlich zugleich, die Aufgaben hätten "zum größten Teil aus dem zentralen Abi-Pool der Bundesländer" gestammt. Womit sie den aus ihrer Sicht Schuldigen benannt hat: das Berliner Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).
Aus dem IQB-Pool entnehmen die meisten Bundesländer seit drei Jahren einige Klausuraufgaben in Mathe, Deutsch, Englisch und Französisch. Und schon vergangenes Jahr hatte es Ärger gegeben. Tausende Schüler protestierten im Mai 2019 in mehreren Bundesländern gegen das ihres Erachtens zu schwierige Abi, Online-Petitionen wurden gestartet, wobei die inkriminierten Aufgaben keineswegs nur aus dem IQB-Pool stammten. In Hamburg aber schon. Und so griff der dortige, sehr einflussreiche SPD-Bildungssenator das IQB scharf an. Das Ziel des Pools sei ja eigentlich, dass die Abiturprüfungen einheitlich seien, sagte Ties Rabe damals der ZEIT. "Allerdings kann es nicht sein, dass Hamburgs Schüler die Opfer sind." Hamburg hatte 2019 nämlich als einziges Bundesland seine gesamte Mathe-Abiturprüfung mit Pool-Aufgaben bestückt – und hob dann als zweites Bundesland neben Bremen die Mathe-Abinoten nachträglich an.
Dieses Jahr korrigierte Hamburg seine Noten nicht nach oben. Bogedan hingegen knüpfte gestern nahtlos an Rabes Kritik vom Vorjahr an. "Gemeinsam mit den Kultusministern weiterer Bundesländer" habe Bremen das IQB nach den Erfahrungen im vergangenen Jahr zum Handeln aufgefordert, "leider ist dort bisher so gut wie nichts passiert."
Ist Bremens Landespolitik also gänzlich unschuldig an dem Mathe-Tief, sind die Bremer Abiturienten IQB-Opfer, die durch die großzügige Notenanhebungs-Geste der Senatorin gerettet werden mussten?
Bremen kann sich nicht
aus der Verantwortung stehlen
Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Tatsächlich entsendet Bremen nämlich wie die anderen 15 Bundesländer jeweils einen Vertreter in die IQB-Arbeitsgruppe, die die Mathe-Abituraufgaben erarbeitet, überwiegend Lehrkräfte mit reichlich Prüfungserfahrung. Für jedes Pool-Fach gibt es eine eigene Arbeitsgruppe, beraten werden sie von Wissenschaftlern aus dem jeweiligen Fach und der Fachdidaktik. Das von Bogedan kritisierte IQB erfüllt eine reine Koordinations- und Beratungsaufgabe.
Die Entscheidung über die Aufgabenkonzeption liegt bei den 16 Ländern, und jedes dieser Länder stellt dafür zunächst eigene Aufgabenvorschläge zur Verfügung, die dann in den Arbeitsgruppen bearbeitet werden. Das IQB teilt mit: "Nur in Ausnahmefällen" kommt es vor, dass ein Land aus personellen Gründen vorübergehend nicht die Möglichkeit hat, eine geeignete Fachexpertin oder einen geeigneten Fachexperten in eine AG Aufgaben zu entsenden." Für die Mathe-Abiaufgaben 2020 seien aber sowohl Vertreter aus Bremen als auch aus Sachsen mit an Bord gewesen.
Doch mit der Pool-Aufgabenerstellung endet noch nicht die Mitverantwortung der Bremer Bildungsbehörde. Jedes Land kann nämlich für jedes der vier Pool-Fächer bislang selbst entscheiden, welche Aufgaben daraus es verwendet und wie viele landeseigene Abituraufgaben es zusätzlich stellt. Die Bremer Bildungsbehörde hat hierfür wie jedes Kultusministerium eine eigene Kommission eingerichtet.
Womit klar ist: An dem Bremer Mathe-Debakel 2020 mag es Schuldige geben, aber das IQB ist es definitiv nicht. IQB-Chefin Petra Stanat, die nicht zu lauten Tönen neigt, sagte denn heute auch in Richtung Bremen: "Es ist zwar einfach, den Pool verantwortlich zu machen, aber eben auch etwas zu einfach."
Ist Bogedans eigentliches Problem mit
dem Abi-Pool, dass er zu gut funktioniert?
Bogedans sächsischer Amtskollege Christian Piwarz (CDU) hat dies übrigens anders als Bogedan auch nicht gemacht. Das Dresdner Kultusministerium teilte vergangene Woche mit, man habe in diesem Jahr mehr Aufgaben unverändert aus dem gemeinsamen Aufgabenpool der Länder entnommen, und einige Aufgabenstellungen seien für die Abiturienten "in ungewohnten Kontexten" formuliert worden. Offenbar sei es "im Rahmen der Kommunikation zur Implementierung der Standards in diesem Schuljahr noch nicht hinreichend gelungen, solche Aufgabenstellungen in den Fokus der Prüfungsvorbereitung zu stellen".
Die etwas verschwurbelt daherkommende sächsische Selbstkritik ist auch insofern pikant, als Bogedan in ihrem Angriff aufs IQB auf Sachsen verweist. Das Land habe bisher als Primus gegolten, und ihm sei es mit den Aufgaben genauso wie Bremen ergangen, so lautete die Botschaft der Senatorin gestern. Nur dass Sachsens Kultusministerium seiner Verantwortung eben nicht ausweicht.
Worin liegen denn nun in Bremen die Gründe für die miesen Mathe-Noten? Vielleicht ist es ja doch ganz einfach. Aber anders, als Bogedan es glauben machen möchte. Der Abi-Aufgabenpool ist dazu gedacht, das Abitur bundesweit vergleichbarer zu machen. Bremen gilt als Leistungs-Schlusslicht in Deutschland. Womöglich kommt das schlechte Abschneiden der Hansestadt bei den Pool-Aufgaben ja schlicht daher, dass sie ihre Funktion erfüllen und mehr Leistungstransparenz schaffen?
Eine Erklärung, die den schwarzen Peter direkt an Bogedan und den Bremer Senat zurückgeben würde. Eine Erklärung, die noch dazu dringenden Handlungsbedarf in der Bildungspolitik der Hansestadt signalisieren würde.
Aber was macht Bogedan? Sie kündigt an: Bremen werde, wie andere Bundesländer auch, die Pool-Aufgaben "konsequenter anpassen bzw. wieder mehr eigene Aufgaben konzipieren, die wir mit einzelnen Bundesländern austauschen." Es ist eine erstaunlich unverblümte Absage an den gemeinsamen Abi-Pool, die Bogedan noch mit folgendem Satz garniert: "Die Maßgabe, ab dem kommenden Schuljahr die Pool-Aufgaben des IQB nehmen zu müssen, wird auf KMK-Ebene ausgesetzt."
Mit ihrem Manöver untergräbt Bogedan
die Bemühungen nach mehr Vergleichbarkeit
Was zwar stimmt, aber, auch wenn Bogedan dies impliziert, nichts mit der Kritik am Abi-Pool zu tun hat. Die KMK will, so ist zu hören, nur wegen der Sorge, dass Schulen wegen Corona nicht allen Stoff durchnehmen können, regionale Lösungen ermöglichen. Eine vorübergehende Entscheidung.
Viel wichtiger ist dagegen, dass die Kultusminister – wiederum unter Mitarbeit von Bogedans Behörde – an einem neuen Bildungs-Staatsvertrag arbeiten. Und in dem Zusammenhang wollen sie dem Abi-Pool sogar eine weitaus größere Bedeutung geben: Anders als bislang dürften die Aufgaben dann nicht mehr von den Ländern sprachlich oder sonst irgendwie angepasst werden, auch die Bearbeitungszeiten, die erlaubten Hilfsmittel und sonstigen Prüfungsbedingungen sollen vereinheitlicht werden. Und von 2023 an sollen in allen Ländern mindestens 50 Prozent der schriftlichen Abi-Aufgaben in Deutsch, Mathematik und Englisch bzw. Französisch aus dem Pool stammen. Wie gesagt: Bisher ist es nur ein Entwurf. Aber er geht in eine komplett andere Richtung, als Bogedan es als angebliche KMK-Politik suggerieren möchte.
In der Gesamtschau mag ihr Kalkül dennoch kurzfristig aufgehen. Sie lenkt den Blick auf das IQB, schiebt ihm die Verantwortung an den Abiturnoten zu – und entzieht sich unangenehmen Fragen nach der Verantwortung der Bremer Landespolitik.
Der Preis ist jedoch hoch: Mit ihrem Unterfangen untergräbt sie die länderübergreifenden Bemühungen, endlich mehr Vergleichbarkeit beim Abitur zu schaffen. Eine Vergleichbarkeit, die das Bundesverfassungsgericht Ende 2017 ultimativ verlangt hatte und die von Kultusminister, auch von Bogedan, daraufhin bis 2021 versprochen wurde.
Heute meldete sich den auch prompt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. "Ganz abgesehen davon, dass jeder nachträgliche, nur in einzelnen Bundesländern vorgenommene Eingriff in die Notengebung zu weiteren Ungerechtigkeiten führt", sagt Heinz-Peter Meidinger, "stellt sich jetzt doch die Frage, was ein länderübergreifender Aufgabenteil wert ist, der eigentlich für mehr Vergleichbarkeit sorgen soll, anschließend aber durch Notenlifting konterkariert wird." Wenn Bogedan jetzt ankündigte, dass ihr Bundesland generell den länderübergreifenden Aufgabenpool aussetze, "dann gibt es nur eine Schlussfolgerung: Der Aufgabenpool steht kurz vor dem Scheitern!"
Gute Arbeit, Frau Bogedan, möchte man ihr zurufen. Denn auch Bremens Bildungssenatorin weiß genau: Weil es in der föderalen Bundesrepublik ein Bundeszentralabitur sicher nicht geben wird, ist der Weg des Abiturpools der einzig gangbare.
Es muss Schluss sein mit dem Notenlifting. Vor allem aber muss Schluss sein mit dem IQB-Bashing, weil einem schon das bisschen an erreichter Vergleichbarkeit zuviel ist. Jede Schwäche am Aufgabenpool haben die Kultusminister selbst zu verantworten. Und es ist ihre Verantwortung, ihn so aufzustellen, dass er funktioniert. Ja, am Ende ist es wirklich ganz einfach: Wer Vergleichbarkeit verspricht, muss sie selbst konsequent schaffen. Und dann auch ihre Folgen im eigenen Land aushalten.
KMK widerspricht Bogedan – und
die klingt plötzlich selbstkritischer
KMK-Generalsekretär Udo Michallik sagte am Nachmittag, der überwiegende Teil der Länder habe beim diesjährigen Mathe-Abitur "keine Probleme gemeldet, in dem einen oder anderen Land haben sich die Resultate sogar leicht verbessert." Schwankungen bei Abiturergebnissen habe es "mit ziemlicher Sicherheit auch in früheren Zeiten gegeben, nur wird ihnen heute ein höheres Maß an Aufmerksamkeit gewidmet." Eine Entwicklung, die auch mit der Einführung des gemeinsamen Aufgabenpools zu tun habe. Allzu schnell würden dann die Abiturergebnisse auf ihn zurückgeführt, obwohl es auch andere Gründe für Notenschwankungen gebe. "Das ist eine zu einfache Erklärung", sagt Michallik unverkennbar direkt auf Bremens Bildungssenatorin gemünzt.
Aus Bogedans Behörde hieß es heute denn auch auf Anfrage, es sei keineswegs so, dass die Senatorin sich "nicht an die eigene Nase" fasse. E werde Maßnahmen zur Verbesserung der Mathe-Fachlichkeit an den Bremer Schulen geben. Die Notwendigkeit sei offenbar.
Auch Bogedan selbst klang am späten Nachmittag deutlich selbstkritischer. "Bei der Auswahl der Abituraufgaben in Bremen sind wir von der KMK-Maßgabe der KMK ausgegangen, ab 2021 die Aufgaben des Pools möglichst unmodifiziert in den Ländern einzusetzen", sagte sie. "Auf dieses Ziel haben wir hingearbeitet und dabei insbesondere die sprachliche Komplexität der und den notwendigen Zeitrahmen der Aufgaben unterschätzt."
Manche Bundesländer hätten, nachdem die Abiturtermine wegen der Corona-Pandemie verschoben werden mussten, den Pool überhaupt nicht mehr genutzt, fügte Bogedan hinzu, in anderen Bundesländern seien stärkere Modifikationen vorgenommen worden. "Da wir im Grundsatz – wie die anderen Bundesländer auch – hinter der Idee des Pools und einer ländergemeinsamen Abiturprüfung stehen, muss aus unserer Sicht dringend etwas unternommen werden, damit die Aufgaben des Pools eine höhere Akzeptanz finden."
Die Frage ist: Wer, wenn nicht die Kultusminister sind dafür verantwortlich, dieses "etwas" zu unternehmen?
KMK-Generalsekretär Michallik sagt jedenfalls: "Durch die Diskussionen um das letztjährige und das diesjährige Mathematikabitur wird das Ziel einer größeren Vergleichbarkeit keineswegs in Frage gestellt. Vielleicht zeigen sich darin gerade die notwendigen Anfangsschwierigkeiten, die es braucht, bis der Pool seine normierende Wirkung entfalten kann."
Und was ist mit der von Bogedan zitierten KMK-Maßgabe, ab dem kommenden Schuljahr die Pool-Aufgaben des IQB nehmen zu müssen – die nun laut der Senatorin ebenfalls auf einen KMK-Beschluss hin ausgesetzt werden soll?
Laut Auskunft des KMK-Generalsekretärs existiert eine solche Maßgabe gar nicht bislang. "Nach aktueller Beschlusslage der Kultusministerkonferenz steht der Abituraufgabenpool den Ländern seit der Abiturprüfung 2017 als Angebot zur Verfügung", sagt Michallik. Die Länder könnten also Aufgaben entnehmen, müssten es aber nicht. "Einen darüber hinausgehenden Beschluss gibt es derzeit noch nicht, folglich kann er auch nicht ausgesetzt werden."
Bogedan verweist auf Nachfrage auf "ein Gremium der KMK, die AG Abiturkommission", die angesichts der Covid-19-Pandemie empfohlen habe, "den Ländern die Möglichkeit zu eröffnen, die Aufgaben des Pools 2021 – entgegen der ursprünglichen Vereinbarung – in zwingenden Fällen modifizieren zu können, ohne das Anspruchsniveau zu verändern."
Außerdem könnten den Lehrkräften Abi-Aufgaben zur Auswahl gestellt werden, um sicherzugehen, "dass sie mit den im Unterricht notwendigerweise gesetzten Schwerpunkten am besten vereinbar seien. Genau diese Strategie verfolgen wir in Bremen für den nächsten Abiturdurchgang."
Auch das klingt ganz anders als noch gestern – hat vor allem gar nichts mit dem IQB zu tun.
Der KMK-Generalsekretär betont derweil, die Kultusministerkonferenz halte "am gemeinsamen Ziel, größere Vergleichbarkeit und mehr Transparenz herzustellen, fest. Der Abiturprüfungspool ist ein zentraler Bestandteil dieser Maßnahmen." Die Länder arbeiteten weiter daran, seine Wirksamkeit zu erhöhen, zum Beispiel durch die Angleichung von Rahmenbedingungen. "Weiter hält die Kultusministerkonferenz an dem Ziel der modifikationsfreien Entnahme von Poolaufgaben fest. Auch dieser Beschluss steht."
Nein, auch "diese Vorgänge in der KMK" würden nicht in Frage gestellt, versicherte Bogedan heute ebenfalls auf Nachfrage. Was die weiter wachsende Bedeutung des Abi-Aufgabenpools angeht, wie er im Zuge des geplanten Bildungsstaatsvertrages vorgesehen ist, sagte Bogedan allerdings: Es sich bei dem Entwurf um "eine Momentaufnahme in der Diskussion um den Umgang mit den Aufgaben der Pools in den verschiedenen Fächern. Diese Diskussion ist noch im Gange." Zurzeit fokussierten sich alle Anstrengungen auf die Durchführung und Machbarkeit von Abiturprüfungen angesichts der Covid-19-Pandemie.
In der Summe alles stimmig und nachvollziehbar, was die Senatorin, nach eigener Beteuerung eigentlich eine Befürworterin eines bundesweit vergleichbaren Abis, heute äußerte. Womit von der Stoßrichtung ihres gestrigen IQB-Ablenkungsangriffs allerdings so rein gar nichts übrigbleibt. Ob es das wert war?
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