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Doppelter Wendepunkt

Die Lehrerverbände nehmen stillschweigend Abstand von der Abstandsregel – und geben ein nie da gewesenes Bekenntnis für digital gestützten Unterricht ab.

ES WAR EINE FLUCHT nach vorn. Der Deutsche Lehrerverband (DL) und seine Mitgliedsverbände haben vergangene Woche einen "10-Punkte-Plan für Unterricht mit (und nach) Corona" präsentiert, und diese Wortmeldung war wichtig. Wichtig, weil in den Wochen zuvor der Eindruck entstanden war, einige der Verbände wären vor allem dagegen: gegen eine grundsätzliche Rückkehr zum Regelbetrieb an den Schulen unter Corona-Bedingungen, gegen die deshalb nötige teilweise Aufhebung der Abstandsregel. So hatte DL-Präsident Heinz-Peter Meidinger für diesen Fall öffentlichkeitswirksam Lehrerklagen prophezeit.

 

Dass die Lehrerverbände ihre Prioritäten bald ebenso öffentlichkeitswirksam würden klarziehen müssen, war zuletzt absehbar, und sie haben es mit ihrem 10-Punkte-Plan getan: Die unbedingte Forderung, die Abstandsregel aufrechtzuerhalten, kommt in dem Papier nicht mehr vor, das Wort wird überhaupt nicht erwähnt.

 

Das ist kein Zufall, sondern ein stillschweigender Abschied von der Fundamentalopposition, verstärkt um das von den Verbänden jetzt als "Plan A" präsentierte Modell eines "digital unterstützten Präsenzunterrichts". Kein Schichtunterricht mehr, sondern täglicher Präsenzunterricht für alle Schüler – genauso, wie die Kultusminister es planen, zumindest solange es das Infektionsgeschehen zulässt. Der Plan B, die phasenweise Ablösung des Präsenzunterrichts durch Fernunterricht, wird von den Lehrerverbänden ebenfalls nur als "Notfall"-Alternative präsentiert.

 

Wobei, auch das zeichnet ihre Stellungnahme aus, sie differenzieren. Sie unterscheiden nämlich zwischen Schularten und Alter der Schüler. Je jünger, desto unbedingter wollen sie im Zweifel beim Präsenzunterricht bleiben, und je älter, desto eher zum Plan B wechseln – so jedenfalls ist ihr  etwas verklausuliert formulierter Punkt 3 gemeint, wie der Lehrerverband auf Nachfrage bestätigt. Was gut zur aktuellen Studienlage passt.

 

Konsequent ist, dass die Verbände mit ihrem grundsätzlichen Bekenntnis zum täglichen Präsenzbetrieb zugleich klare Forderungen formulieren, welche Schutzmaßnahmen diesen Plan A ermöglichen müssen, von regelmäßigen freiwilligen Corona-Tests über einen Visierschutz bis hin zu "praxistauglichen und aerosolvermindernden Lüftungskonzepten". Und sie haben Recht, dass solche Maßnahmen "die Fürsorgepflicht des Staates als Arbeitgeber gegenüber seinen Lehrkräften" gebiete. Womit der Ball jetzt wieder bei den Kultusministern liegt, die zuletzt über die störrischen Lehrervertreter die Köpfe geschüttelt hatten. Die Verbände haben sich bewegt. Jetzt müssen die Kultusminister den Schutz liefern – und zwar konkreter und verpflichtender, als es das ebenfalls vergangene Woche beschlossene, sehr lockere KMK-Hygienekonzept als Rahmen vorgibt. 

 

Die Pandemie markierte einen Wendepunkt in
der Wahrnehmung digital gestützten Unterrichts

 

Der 10-Punkte-Plan der Lehrerverbände ist indes in noch ganz anderer Hinsicht bemerkenswert. Tatsächlich reicht er nämlich, wie der Titel der Stellungnahme andeutet, weit über Corona hinaus: In Teilen liest sich die Stellungnahme wie ein nie da gewesenes Bekenntnis zu den Chancen der Digitalisierung für den Schulunterricht– für den Schulunterricht nach Corona wohlgemerkt. 

 

Dass die Pandemie hier einen Wendepunkt markiert hat, ist offensichtlich. In einer repräsentativen Umfrage des IT-Branchenverbands Bitkom hatten noch im März 2019 43 Prozent der befragten Lehrer auf die Frage, ob sie gern häufiger digitale Medien im Unterricht einsetzen würden, mit "Nein" geantwortet, die Gruppe der aufgeschlossenen Pädagogen war allerdings mit 54 Prozent größer. Ergebnisse wie diese zeigten eindrücklich, wie gespalten die Lehrerschaft vor Corona war, was die Digitalisierung anging. Eine andere Bitkom-Umfrage im selben Jahr ergab, dass nur 12 Prozent der Lehrkräfte spezielle Online-Lernplattformen einsetzten. 

 

Und dann kam Corona. Bereits in der repräsentativen Umfrage "Deutsches Schulbarometer Spezial" Anfang April 2020 bezeichneten 59 Prozent der befragten Lehrer die Schulschließungen als einen Katalysator für den Digitalisierungsprozess an der eigenen Schule und waren davon überzeugt, dass seit Beginn der Schulschließungen digitale Lernformate und digitale Kommunikation genutzt werden, die ohne Pandemie vermutlich erst spät oder gar nicht umgesetzt worden wären. Und fast jede zweite Lehrkraft äußerte die Erwartung, dass sie selbst künftig häufiger digitale Lernformate einsetzen werde.

 

Die Stimmung in der Lehrerschaft hat sich gewandelt, sie ist beim Thema Digitalisierung weniger polarisiert als noch vor ein oder zwei Jahren – und das macht die Lehrerverbände jetzt so mutig, ihren 10-Punkte-Plan zu einem Plädoyer für einen pädagogischen Neustart auszubauen. Wenn sie einen "digital unterstützten Präsenzunterricht" als Regelfall beschreiben, dann meinen sie damit auch den Regelfall nach Corona. Oder anders formuliert: Ein Zurück zum Normalbetrieb vor der Pandemie soll es nach dem Willen der Lehrerverbände gar nicht mehr geben. Didaktische Konzepte seien neu zu erarbeiten, fordern die Verbände, denn, wie es gleich ebenfalls gleich unter Punkt 1 heißt: "Moderner Unterricht verlangt den Einsatz von digitalen Medien."

 

Das ist eine starke Ansage. Genau wie der Vorschlag, es sollten "digitale Sprechstunden zwischen Lehrkräften, Eltern und Schülern" etabliert werden, zwei Stunden in der Woche "für potentiell versetzungsgefährdete Schüler und deren Eltern sowie für interessierte Eltern und Schüler". Ein konkretes Beispiel, wie Schule nach Corona dauerhaft anders, transparenter und kommunikativer sein könnte. 

 

Die Lehrerverbände haben der Debatte um die Schule während und nach der Pandemie einen Gefallen getan. Und sich selbst auch. 


Digital-Turbo

Das Bekenntnis der Lehrerverbände zu einer neuen Digitaldidaktik ist das eine, aber liefert die Politik auch rechtzeitig die nötige Technik? 

 

Viel zu lange sind vor allem die Mittel aus dem Digitalpakt nur kleckerweise in den Schulen angekommen, weil die Antragsverfahren allzu aufwändig waren. Doch die Milliarden werden jetzt gebraucht, in den nächsten Wochen und Monaten.

 

Und tatsächlich hat die Politik reagiert: Das Bundesbildungsministerium von Anja Karliczek (CDU) erlaubt ab sofort, dass 

Schulträger schon mit den Digital-Investitionen beginnen können, bevor das von ihnen geforderte Medienkonzept fertig ist. Hauptsache, sie reichen es bis zum Abschluss der Investitionsmaßnahme nach. Das dürfte wie ein Digital-Turbo wirken. Kritiker warnen schon vor Verschwendungsarien. 

 

KMK-Präsidentin Stefanie Hubig (SPD) betont derweil per Pressemitteilung, sie habe diese Initiative bei Karliczek angeregt. Fest steht: Wenn die Milliarden jetzt endlich schneller fließen – und auch noch sinnvoll ausgegeben werden– können sich die beiden die Lorbeeren gern teilen.