Medizinstudierende wissen unheimlich viel, aber können sie das Gelernte auch in kniffligen Situationen anwenden? Am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf proben sie die Zukunft des Medizinstudiums – mit Schauspielern als Patienten und echten Fällen, die es in sich haben.
HEUTE MORGEN ging es nicht mehr. Seit drei Tagen hat sie diese furchtbaren Bauchschmerzen, und wenn es Corona nicht gäbe, wäre sie schon längst zum Arzt gegangen. So aber hat Martina Jansen, 69, gewartet und gehofft, dass die Dinge von selbst wieder in Ordnung kommen. Was sie natürlich nicht taten. Heute Morgen hat sie sich dann doch in die Notaufnahme geschleppt, und da sitzt sie nun auf einem Stuhl, etwas zittrig, ziemlich kurzatmig, und starrt in die Webcam.
Lea Jagels beobachtet ihre erste Patientin auf dem Bildschirm. Jagels, 28, weißer Kittel, runde Brille, ist angehende Ärztin und hat heute ihren ersten Tag im Krankenhaus. Ihr Oberarzt hat entschieden, dass sie wegen der Pandemie keinen direkten Patientenkontakt haben soll, und da sitzt auch sie nun, ebenfalls etwas zittrig, vor ihr das iPad, und soll ihre erste Sprechstunde per Telemedizin abhalten. "Ist der Schmerz zwischendurch besser, kommt und geht er?" fragt sie in ihr Mikro. "Nee, der bleibt einfach", sagt Martina Jansen, und man kann die mühsam unterdrückte Verzweiflung in ihrer Stimme hören.
Zehn Minuten hat Lea Jagels, um herauszufinden, was Martina Jansen krank macht. Oder zumindest eine erste Hypothese zu entwickeln und weitere Untersuchungen anzuordnen. Und gleichzeitig ihrer Patientin das Gefühl vermitteln, dass sie bei ihr gut aufgehoben ist. Zehn Minuten, dann muss sie sich von Jansen verabschieden, denn der nächste Patient wartet schon.
Jagels ist tatsächlich Medizinstudentin mitten in ihrem Praktischen Jahr. Aber Martina Jansen ist nicht echt. Sie heißt in Wirklichkeit Ulrike Johannson und ist Schauspielerin. Nur für heute ist sie in die Rolle der Patientin mit den rätselhaften Unterbauchschmerzen geschlüpft, die vor einer Weile wirklich in der Notaufnahme des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) aufgetaucht ist.
32 Studierende, acht Schauspieler,
128 Patientengespräche
Den ganzen Tag über wird das "Assessment Center UKE" laufen, es ist ein deutschlandweit einzigartiges Projekt, wie schon die Zahlen verraten. 32 Medizinstudierende, acht Schauspieler, 128 Patientengespräche, die einem einzigen Zweck dienen: Die angehenden Ärztinnen und Ärzte unter möglichst realitätsnahen Bedingungen auf ihren späteren Alltag vorzubereiten. Und realitätsnah in Zeiten der Pandemie heißt eben: per Telemedizin. "Wir wollten uns dem Virus nicht geschlagen geben", sagt Sigrid Harendza. Anstatt das lange geplante Assessment Center wegen der Pandemie ausfallen zu lassen, hat sie mit gesponsertem Geld zehn iPads gekauft und die Live-Sprechstunde kurzerhand ins Internet verlegt.
Harendza ist Oberärztin am UKE, außerdem Professorin für Innere Medizin und Medizinische Ausbildungsforschung und -entwicklung an der Universität Hamburg. Die Frage, wie künftige Ärzte neben dem durchstrukturierten Studium mehr Praxiserfahrung sammeln können, bewegt die mehrfache Lehrpreisträgerin seit vielen Jahren. Und das Ergebnis vieler Jahre Projektarbeit in Kooperation mit unterschiedlichen Partnern ist auch das Assessment Center UKE, das trotz des Namens keine Prüfung sein soll.
"Die Medizin-Studierenden kommen mit so viel Wissen aus dem Studium, doch dafür, ihr Wissen am Patienten anzuwenden und zu üben, bleibt in vielen Fällen zu wenig Zeit", sagt Jan Griewatz, Medizindidaktiker von der Universität Tübingen. Fachleute sprechen von der sogenannten Kompetenzorientierung, die spätestens seit dem letzten großen Reformplan des Medizinstudiums ganz groß geschrieben wird. Doch die konkrete Umgestaltung der Curricula gestaltet sich schwierig oder lässt noch auf sich warten.
Derzeit bedeutet Praxis im Studium und im sich anschließenden Praktischen Jahr meist, mit den fertigen Ärzten mitzulaufen und ihnen zu assistieren. Ab und zu müssen die Studierenden auch mal eine Prüfung am Krankenbett absolvieren und selbst Diagnosen stellen – aber nie tragen sie die alleinige Verantwortung, und selten müssen sie Fälle von der Anamnese der Patienten über Untersuchungen bis zur Therapieentscheidung durchdenken.
"Mir geht's nicht gut",
sagt der Mann nur
Bei Harendza ist das anders. Jeden Morgen um 9 Uhr trifft sie sich zur Übergabevisite mit den Oberarztkollegen in der UKE-Notaufnahme, und die besonders spannenden und lehrreichen Fallgeschichten nimmt sie mit ins Assessment Center, inklusive der Blutwerte, EKGs, Sonografien. Zweimal im Praktischen Jahr können sich die Studierenden anmelden, um sie im Assessment Center zu bearbeiten, viele machen mehrmals mit.
Niclas Blessin, 26, zum Beispiel. Vor einem halben Jahr war er ihm Live-Assessment-Center dabei, das habe ihm "so viel gebracht", sagt er, dass er auch die Telemedizin-Sprechstunde mitnehmen wollte. Gerade befindet er sich in seinem zweiten der insgesamt vier Patientengespräche an diesem Morgen. Auf dem Bildschirm sieht er das Gesicht von Paul Boué, Mitte 50, ein wortkarger Typ, der das Gespräch mit dem Satz "Mir geht’s nicht so gut" eröffnet. Den Rest muss Blessin durch hartnäckiges Nachfragen allmählich aus Boué herausarbeiten. Dass ihm seit Tagen übel ist zum Beispiel. Dass dieses Völlegefühl nicht mehr weggeht. Dass er einen hohen Blutdruck hat und abends ein Medikament nimmt, um seinen Cholesterinspiegel zu senken. Ach ja, und dann ist da noch das Pflaster auf seiner Hand. Vor zwei Wochen hat Boué sich versehentlich geschnitten, als er im Keller nach der Bohrmaschine suchte.
Blessin nickt immer wieder und dokumentiert alle relevanten Informationen. Nach seinen vier Patientengesprächen wird er in ein paar Stunden mit sieben weiteren Studenten zusammensitzen, die dieselben Patienten gesehen haben, und gemeinsam werden sie über die Fälle diskutieren. Bei Paul Boué, gespielt vom Hamburger Theater- und Filmschauspieler Frank Thomé, werden sie eine chronische Entzündung der Gallenblase diagnostizieren, er muss bald operiert werden.
"Das ist ein Riesenunterschied", sagt Blessin, "ob Sie einen Patienten live sehen oder nur über den Bildschirm." Aber er weiß, dass die Telemedizin künftig eine größere Rolle spielen wird, in der Schweiz, sagt Blessin, sei das schon heute so. "Darum war die Erfahrung für mich ja so wertvoll, ich habe mich selbst ganz anders erlebt als im Patientengespräch vor Ort." Dass seine Gegenüber Schauspieler sind, macht für Blessin keinen Unterschied. "Die Schauspielpatienten versetzten sich überaus überzeugend in ihre Rollen hinein, bis in die kleinen Ticks, man nimmt ihnen das Ohne Weiteres ab."
Am Ende beraten die Studierenden gemeinsam,
wie es mit jedem Patienten weitergeht
Dieses Simulieren eines ganzen ärztlichen Arbeitstages, sagt Harendza, das sei das Besondere an dem Assessment Center. Mehrere Patientengespräche, die Notwendigkeit für die angehenden Ärztinnen und Ärzte, Abläufe zu priorisieren und Untersuchungen anzuordnen. Ganz wichtig auch die Verschränkung mit der Wirklichkeit über die echten Patientengeschichten: Die Studierenden erhalten nach der Sprechstunde alle Original-Testergebnisse. Die brauchen sie auch. Denn später folgt ja wie gesagt noch das Übergabegespräch in der großen Runde, in der jeder einen der Patienten ausführlich vorstellen muss. Spätestens dann muss die Entscheidung stehen, wie die weitere Behandlung laufen soll. Zur Not müssen die Studierenden so lange diskutieren und klinisch argumentieren, bis sie sich verständigen. Experten nennen das "Clinical Reasoning".
"Keine Frage", sagt Harendza. "Dieser Tag ist anstrengend für die Studierenden. Vor allem aber lernen sie, sich selbst und ihren Umgang mit Patienten zu reflektieren." Dazu gehört auch, dass die Schauspieler am Ende die Gespräche bewerten. Wie gut haben sie sich betreut gefühlt? Sind die Studierenden auf sie eingegangen, haben sie sich von den Medizinern ernstgenommen gefühlt mit ihren Sorgen und Beschwerden?
Was die Hamburger machten, könnte angepasst "an vielen Stellen in der medizinischen Ausbildung" oder bei einer Neugestaltung des dritten Staatsexamen eingesetzt werden– an der Schwelle zum Beruf also, sagt Jan Griewatz. "So könnte man evidenzbasiert und unter realitätsnahen Bedingungen die Medizinstudierenden auf ihre Praxistauglichkeit testen."
Wobei Harendza noch nicht einmal sicher ist, ob sie sich den Einsatz im Rahmen der dritten Abschlussprüfung wünscht. Eine Veränderung der Examina sei eine Möglichkeit, sagt sie. "Wichtiger ist mir aber, dass die Studierenden die Gelegenheit bekommen, ohne Leistungsdruck mehr über sich und ihre Kompetenzen im Umgang mit Patienten zu lernen."
Seit 2019 finanziert die Joachim-Herz-Stiftung zusammen mit dem UKE und der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg den Aufbau eines Centrums zur Entwicklung und Prüfung ärztlicher Kompetenzen, bis Ende 2023 hat Harendza Zeit, das Assessment Center und die Trainings- und Prüfungsformate weiterzuentwickeln – dann entscheidet sich per Evaluation, ob aus dem Centrum eine Dauereinrichtung wird.
Die Schauspieler geben den Studierenden
ein ehrliches Feedback
Lea Jagels, die 28 Jahre alte Medizinstudentin, ist nach dem Gespräch mit Martina Jansen alias Ulrike Johannson doch noch richtig in Stress geraten. Zwar hatte sie schnell einen Verdacht, was die 69-Jährige haben könnte, aber dann war schon der nächste Patient dran, und die angeforderten Testbefunde kamen einfach nicht. Ein technisches Problem, eines der wenigen bei dieser Online-Premiere. Für Jagels aber doch auch wieder in Ordnung. "Im wirklichen Leben geht ja auch mal was schief", sagt sie und erzählt, dass sie und die anderen Studierenden bei Jansen/Johannson eine Divertikulitis diagnostiziert haben, eine Entzündung kleiner Ausstülpungen des Dickdarms. Sehr schmerzhaft und bei älteren Menschen eine häufige Erkrankung. "Der ganze Tag hat sich total realistisch angefühlt", sagt Jagels. "Eine bessere Vorbereitung auf das dritte Staatsexamen kann ich mir gar nicht vorstellen."
Ulrike Johannson hat lange an verschiedenen Theatern gearbeitet, jetzt bespricht sie auch Hörbücher und Dokumentarfilme, sie arbeitet als Synchronsprecherin – und sie freut sich jedes Mal, wenn Sigrid Harendza anruft und fragt, ob sie wieder beim Assessment Center dabei ist. Ein bisschen Fließband sei das schon, sagt sie. "16 mal am Tag die verzweifelte, schmerzgepeinigte Patientin spielen." Manchmal muss sie sich winden, wenn einer der Studenten eine Frage stellt, auf die sie im von Frau Harendza geschickten Steckbrief keine Antwort findet. "Dann sage ich lieber gar nichts und steige noch ein bisschen tiefer in die Emotion ein."
Die Begegnungen mit den Studierenden machten ihr Spaß, außerdem sei ihr wichtig, dass eine Arbeit Sinn mache, sagt Johannson. "Und diese macht Sinn. Bei einigen fühle ich mich gut aufgehoben, die fragen einfühlsam, spüren nach. Bei anderen könnte man umfallen, und die würden es nicht merken." Gut, dass die durch das Assessment Center ein ehrliches Feedback bekämen.
Mancher Student, der fachlich zur Spitze gehört, hat hier schon mal eine mittelmäßige Bewertung abbekommen, erzählt Sigrid Harendza. "Dieses Gefühl kennen manche aus dem Studium gar nicht, aber durch das Feedback können sie anschließend noch an ihren Fertigkeiten weiter arbeiten." Ein Glück, dass sie es im Assessment Center lernen. Bevor draußen in der Notaufnahme die echten Patienten warten.
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