Kultusminister Piazolo legt ein Vier-Stufen-Modell für den Schulbetrieb unter Corona-Bedingungen vor – inklusive Schwellenwerten. Kanalisiert das endlich die irrlichternde Debatte?
HEUTE IST Mecklenburg-Vorpommern als erstes Bundesland ins neue Schuljahr gestartet, weitgehend im Regelbetrieb und damit genauso, wie die Kultusminister es im Juni beschlossen hatten.
Die den Schulstart begleitende Debatte irrlichtert erwartungsgemäß vor sich hin. "Schulschließungen sind extrem wirksam", zitiert der SPIEGEL heute einen Big-Data-Experten, um dann in einer Interviewfrage selbst festzustellen, dass die Daten, die der Studie des Wiener Forscherteams zugrunde liegen, größtenteils aus der Zeit bereits geschlossener Schulen stammen. Einen "gewissen Beobachtungsbias" nennt das der interviewte Statistiker, den es bei jeder Studie gebe. Der bekannte Bildungsjournalist Christian Füller wetterte vor dem Wochenende bei Twitter gegen ein fachübergreifendes Plädoyer unter Mitwirkung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGFE) für eine "kontrollierte Öffnung der Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungseinrichtungen". Füller schreibt: "Eine brettharte Erklärung in (dem) Moment, wo jeder weiß: Regelbetrieb? Gehts noch!"
Die Vize-Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Katja Suding, springt derweil der DGFE, der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und den weiteren Unterzeichnern zur Seite. "Wir dürfen unseren Kindern das Recht auf Bildung nicht länger vorenthalten." Für den notwendigen Regelbetrieb in den Schulen müssten alle medizinischen Erkenntnisse und bewährten Hygienemaßnahmen genutzt werden, sagt Suding."Weiterer Unterrichtsausfall hätte massive Konsequenzen für die Bildungschancen mehrerer Generationen." Die gar nicht für die Schulen zuständige Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) schaffte es mit ihrer Forderung nach einer Maskenpflicht in Schulen gestern Abend sogar in die Tagesschau.
An der insgesamt wenig Neues bringenden Debatte ist vor allem eines bemerkenswert: dass angesichts der zuletzt merklich gestiegenen Corona-Infektionszahlen überhaupt erneut so engagiert wie kontrovers über die Rolle von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie diskutiert wird – und wenig bis gar nicht etwa über die Auswirkungen geöffneter Restaurants, Kneipen oder Geschäfte.
Victoria stemmte sich bis zuletzt
gegen Schulschließungen
Dass das auch anders geht, zeigt der Blick nach Großbritannien. Dort brachte ein Regierungsberater den Gedanken ins Spiel, womöglich müsste man die Pubs schließen, damit die Schulen öffnen könnten. Genau, wie es zum Beispiel der von einer zweiten Welle schwer getroffene australische Bundesstaat Victoria praktiziert hatte: Restaurants, Bars und Cafés mussten dort schon vor drei Wochen dichtmachen, während sich die Politik bis zuletzt gegen die Schließung der Schulen und Betreuungseinrichtungen stemmte. Sie werden erst in dieser Woche als Ultima Ratio auf einen Notbetrieb beschränkt.
Eine Mitschuld für die in Deutschland recht lockersitzenden Debatten über Schulschließungen tragen die Kultusminister selbst. Sie haben es bislang fast alle versäumt, ihre Regierungschefs zu dem dringend nötigen, klaren Commitment zu bewegen, bis zu welchem Infektionsgeschehen Kitas und Schulen auf jeden Fall im Präsenzbetrieb weiterlaufen können. Und weil das so ist, meinen manche, schon 1000 Neuinfektionen am Tag reichten aus, um die Kinder wieder nach Hause zu verbannen. Für Schüler, Eltern und Lehrer entsteht dadurch eine Willkür öffentlicher Debatten, die zu Beginn des neuen Schuljahrs mehr als kontraproduktiv, ja kaum erträglich ist. Allein die bisherige Aussage der Kultusminister, solange "es das Infektionsgeschehen zulässt", reicht nicht mehr.
Bayern: Schulschließungen erst bei mehr
als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner
Ausgerechnet Bayerns Staatsregierung hat das jetzt erkannt – mit einem Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) an der Spitze, der seit Beginn der Pandemie nicht gerade als Verfechter der Bildungs- und Teilhaberechte von Kindern aufgefallen war. Doch hat sein Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) am Samstag ein Vier-Stufen-System für Schulen unter Corona-Bedingungen vorgelegt, das sich seine Kollegen in anderen Bundesländern schleunigst zum Vorbild nehmen sollten.
Erstens: Über Schulschließungen wird auf auf Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte entschieden, also keine landesweiten präventiven Schulschließungen mehr, wenn die Infektionszahlen insgesamt steigen. Zweitens: Erst in Stufe 4 des Modells, wenn es in einer Region oder Stadt mehr als 50 Neuinfektion pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen gibt, müssen Schulen den Präsenzunterricht beenden. Bereits ab 20 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner (Stufe 2) wird auch im Unterricht eine Maskenpflicht eingeführt. Bei mehr als 35 Neuinfektionen (Stufe 3) wird die eigens für die Schulen aufgehobene Abstandsregel wieder eingeführt – mit der Folge, dass Klassen auf mehrere Räume verteilt oder in ein Mischmodell aus Präsenz- und Fernunterricht wechseln müssten.
Keine Frage: Auch das von Piazolo vorgestellte und von Söder unterstützte Modell ist nicht perfekt. So differenziert es nicht zwischen dem Alter der Kinder, obwohl junge Schüler mit dem Fernunterricht deutlich größere Probleme haben und zudem als weniger ansteckend gelten. Auch würde man sich parallel die Zusage wünschen, dass wie in Australien im Notfall ebenfalls erst Restaurants und Geschäfte geschlossen würden und dann erst die Schulen.
Und doch: Auch wenn die Umsetzung dieses Vier-Stufen-Modells einen hohen Aufwand für die Schulen bedeutet und die Flexibilität aller Beteiligten fordert, bietet es doch genau das Maximum an Transparenz und Verlässlichkeit, das alle Beteiligten derzeit so dringend brauchen. Das vor allem die Kinder und Jugendlichen brauchen.
Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) hat heute nachgezogen und einen dem bayerischen Modell ähnlichen Vier-Stufen-Plan vorgestellt. Das macht Hoffnung. Gleichzeitig kann es nämlich nur mit einem solch klaren Modell gelingen, die immer wieder gleichen Debatten über den vermeintlich richtigen Zeitpunkt von Schulschließungen abzubiegen. Womit mehr Zeit bliebe für die weitaus produktivere Frage: wie jedes der im Stufen-Plan beschriebenes Szenario in möglichst guten Unterricht umgemünzt werden kann.