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Öffentliche Abmahnung

Die Regierungschefs fordern von ihren Kultusministern demonstrativ bundesweit vergleichbare Hygienemaßstäbe in den Schulen. Dabei sind die geltenden Corona-Schulregeln gar nicht so verschieden. Was trotzdem noch fehlt – und was Merkel und die Ministerpräsidenten sonst noch für die Schulen planen.

JETZT NERVT DER BILDUNGSFÖDERALISMUS sogar die Regierungschefs. Die Kultusminister sollen bundesweite, vergleichbare Maßstäbe für Hygienemaßnahmen im Schulbetrieb liefern, haben Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die 16 Ministerpräsidenten gestern der Kultusministerkonferenz (KMK) aufgetragen. Diese seien für die "breite Akzeptanz" der Maßnahmen wesentlich, heißt es in dem nach der Schaltkonferenz gestern Nachmittag gefassten Beschluss.

 

Das ist keine implizite Kritik an dem im Juli in der KMK beschlossenen "Rahmen für aktualisierte Infektionsschutz- und Hygienemaßnahmen", das ist eine öffentliche Abmahnung. Tatsächlich haben die Kultusminister den Rahmen nämlich teilweise so weit gesteckt und unkonkret formuliert, dass die Praxis des Unterichtsalltags unter Corona-Bedingungen sich von Land zu Land merklich unterscheidet.

 

Das muss kein Nachteil sein, solange die in jedem Bundesland beschlossenen Maßnahmen funktionieren und realitätsnah sind. Doch genau das ziehen viele Schulleiter und Lehrer, aber auch Eltern immer wieder in Zweifel. Und rufen deshalb nach der bundesweit einheitlichen Lösung. Ob die besser funktionieren wird vor Ort, ist eine andere Frage. Aber der Ruf entspricht dem Zeitgeist.

 

So groß ist das Durcheinander
in Wirklichkeit gar nicht

 

Beim informellen Bildungsgipfel vor zwei Wochen, als Merkel, SPD-Chefin Esken und Bundesbildungsministern Karliczek mit einer Abordnung von sieben Kultusministern konferierte, spielte die Maskenpflicht eine gewichtige Rolle. Merkel habe immer wieder nachgefragt, berichten Teilnehmer. Dabei zerstreuten die Kultusminister den Eindruck, bei dem Thema mache jeder, was er will. Tatsächlich ist das auch nicht so.  Spätestens nach einigen Schwenks kristallisiert sich heraus, dass eine Maskenpflicht in Fluren und anderen Begegnungsflächen überall die Regel wird, im Unterricht aber vorläufig nicht. 

 

Auch Nordrhein-Westfalen, in dem seit Beginn des neuen Schuljahrs für ältere Schüler die Maskenpflicht am Platz gilt, schafft diese – wie von Anfang an beabsichtigt – am 31. August wieder ab. Umgekehrt ist etwa Schleswig-Holstein, das anfangs das Tragen einer Maske in Fluren & Co nur dringend empfahl, kürzlich doch auf eine Pflicht umgeschwenkt. Auch bei anderen zentralen Hygienefragen (Umgang mit der Abstandsregel, Kohortenbildung etc.) sind sich die Kultusminister komplett einig.

 

So widersprach auch Merkel in der Pressekonferenz nach der Schalte gleich wieder dem – durch den gefassten Beschluss noch forcierten Eindruck –, die Länder würden gerade erst mit einem einheitlichen Vorgehen in den Schulen beginnen. "Aber dass es ein Bedürfnis nach einem bundesweit einheitlichen Vorgehen, auch in Abhängigkeit vom Infektionsgeschehen, gibt, das kann wieder auch regional unterschiedlich sein, wurde überhaupt nicht infrage gestellt. Insofern bin ich mit dem Ergebnis sehr zufrieden."

 

Der Punkt, auf den Merkel offenbar hinauswollte, der bislang fehlt und wirklich vorteilhaft wäre: ein bundesweit vergleichbarer Stufenplan, ab welchem Infektionsgeschehen die Hygienemaßnahmen wie verschärft werden. In mehreren Bundesländern, angefangen mit Bayern, existiert ein solcher Plan bereits. Doch auch hier mussten die Kultusminister der Kanzlerin vor zwei Wochen genau erklären, warum etwa in Bayern die Stufen teilweise anders sind als in Sachsen oder Schleswig-Holstein. 

 

Kitas und Schulen haben dieselbe
Priorität wie die Wirtschaft

 

Ein solcher gemeinsamer Stufenplan, auch das gehört zur Wahrheit, wird in der KMK längst diskutiert. Insofern rennen die Regierungschefs mit ihrer plakativ-öffentlichen Mahnung Türen ein, die längst einen Spaltweit offen stehen. 

 

Dass die Regierungschefs die Hygienefrage in den Schulen gestern überhaupt so betonten, hat mit ihrem Commitment zu tun, das Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in der Pressekonferenz so formulierte: Das Ziel müsse sein, "auf der einen Seite die (Infektions-)Zahlen wieder herunterzubringen und gleichzeitig keinen zweiten Lockdown zu haben. Das heißt, es gilt, gezielt zu reagieren, keinen zweiten generellen Lockdown zu haben und zu gewährleisten, dass Wirtschaft, aber vor allem auch Schule und Kita funktionieren. Das sind sozusagen die Oberbegriffe, mit denen wir uns beschäftigt haben."

 

Die Priorität "vor allem auch Schule und Kita", genannt im selben Atemzug mit der Wirtschaft, ist ein in den vergangenen Wochen vollzogener Paradigmenwechsel der Bundespolitik, der umso gewichtiger wird vor dem Hintergrund der vielkritisierten, allzu zögerlichen Öffnung der Bildungseinrichtungen nach dem Shutdown im Frühjahr. Die Regierungschefs signalisieren: Wir haben verstanden, dass der gesellschaftliche und individuelle Preis der anhaltenden Schließungen zu hoch war – vor allem für die Kinder selbst.  An diesem Commitment, das wissen die Ministerpräsidenten, werden sie jetzt gemessen werden.

 

Was sonst noch beschlossen wurde

 

Weshalb sie weitere Maßnahmen für Kinder und ihre Familien beschlossen haben. Erstens das bereits im GroKo-Koalitionsausschuss besprochene zusätzliche Digitalpaket. Zweitens fünf weitere Tage Kinderkrankengeld pro Elternteil (zehn Tage für Alleinerziehende) im Jahr 2020 – für den Fall das komplette Kitas und Schulen oder einzelne Gruppen und Klassen zeitweise wegen Infektions- oder Verdachtsfällen schließen müssen. 

 

Sinnvolle Maßnahmen, wobei man eine Aussage zu einem Sofort-Bauprogramm für die Schulen vermisst. Nicht nur, um den über Jahrzehnte aufgelaufenen, enormen Sanierungsstau ein bisschen abzubauen, sondern vor allem um viele Klassenräume kurzfristig mit kleinen, aber wichtigen Nachrüstungen an Fenstern und Lüftungsanlagen geeignet für den Corona-Betrieb im Herbst und Winter zu machen. Hier ist schon über die Sommerferien wenig bis nichts passiert. Und langsam wird die Zeit allzu knapp. Doch das ignorierten die Regierungschefs gestern.

 

Ansonsten könnte anstelle öffentlicher Abmahnungen in Richtung KMK ein klares Bekenntnis zum Bildungsföderalismus – das Merkel mit ihrem Pressestatement dann immerhin auch ein bisschen abgab – nicht schaden. Denn gerade der Bildungsföderalismus ermöglicht ja, bundesweite Schulschließungen zu vermeiden, indem in jedem Land ein Stufenplan gilt, der gern bundesweit vergleichbar sein kann, aber die Maßnahmen abhängig vom lokalen Infektionsgeschehen definiert. Warum sollten  in Schulen in Mecklenburg-Vorpommern die Jugendlichen eine Maske im Unterricht tragen, wenn zum Beispiel in Bayern die Infektionszahlen über eine kritische Grenze springen?

 

In der Vergangenheit hatten die Regierungschefs allerdings, sobald die Pandemie Fahrt aufnahm, die Tendenz, selbst bei unwichtigen Fragen einen Geleitzug bilden zu wollen – aus Angst, die Öffentlichkeit könnte dem föderalen Bundesstaat sonst wieder Chaos und Disfunktionalität vorwerfen. Das hat aber der Föderalismus nicht verdient. Wenn man es schlau anfängt, sind es genau seine Stärken, die mit regional passenden Maßnahmen durch die Krise helfen. Natürlich auf der Grundlage gemeinsamer Standards. An denen muss tatsächlich gearbeitet werden, auch im Schulwesen. Aber den Geleitzug bundesweiter Schulschließungen – auch in Regionen, wo die Infektionszahlen niedrig sind – darf es nicht mehr geben. 



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Kommentare: 1
  • #1

    Karla K. (Samstag, 29 August 2020 11:07)

    Da möchte ich (zum vorletzten Absatz) nachfragen:

    Warum ist Bildungsföderalismus erforderlich, um regional differenziert agieren zu können?