Neue Bewerberdaten zeigen: Trotz Corona wollen mehr als 60.000 internationale Studienanfänger nach Deutschland. Doch lässt Deutschland sie?
DIE ZAHLEN sind fast schon spektakulär gut. Trotz Coronakrise wollen mindestens 60.000 junge Menschen zum Studieren nach Deutschland kommen. Das geht aus Statistiken der Arbeits- und Servicestelle für internationale Studienbewerbungen ("uni-assist") hervor.
Vor wenigen Tagen lief die "uni-assist"-Deadline fürs Wintersemester 2020/21 ab. 59.250 internationale Bewerber streben demnach ein Studium in Deutschland an und haben mindestens eine Bewerbung über den Verein eingereicht, der für seine fast 190 Mitgliedshochschulen die zentrale Anlaufstelle für sogenannte Bildungsausländer ohne deutschen Schulabschluss ist. Tatsächlich ist die Menge der internationalen Studienbewerber sogar noch größer, da nicht alle Hochschulen an "uni-assist" angeschlossen sind (siehe Kasten).
Die "uni-assist"-Bewerberzahlen liegen knapp 20 Prozent unter Vorjahr. Oder aber: Auf vier Fünfteln des Niveaus von vor der Krise – vor monatelang geschlossenen Grenzen, wirtschaftlichen Verwerfungen in vielen Herkunftsstaaten, Kontaktbeschränkungen und Hochschulen im Digital-Modus.
Um die Zahlen weiter einzuordnen: Trotz Corona übertreffen die internationalen Bewerberzahlen damit über die Werte des Wintersemesters 2017/2018 und sämtlicher Jahren davor. "Wir wissen nicht, ob wir mit 10, 20, 50 oder gar 80 Prozent weniger internationalen Studienbewerbern rechnen müssen", sagte noch im Mai der stellvertretende Generalsekretär des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), Christian Müller. Jetzt sieht es so aus, als könnte die Internationalisierung der deutschen Hochschulen, zumindest was die Studierenden angeht, glimpflich davonkommen.
Könnte. Denn Bewerberzahlen mögen ein Ausdruck der Attraktivität Deutschlands als Studienziel inmitten einer weltumspannenden Krise sein. Gerade die im internationalen Vergleich erfolgreiche Pandemiebekämpfung bedeuten einen wesentlichen Standortvorteil gegenüber den sonst bei ausländischen Studierenden beliebten USA oder Großbritannien. Doch folgt aus den Bewerbungen noch lange nicht, dass die internationalen Studienanfänger auch alle kommen werden.
Streiks und geschlossene Konsulate
Ein Grund hat mit "uni-assist" selbst zu tun. Der Verein befindet sich seit Monaten in einem Tarifkonflikt um Gehaltseinstufungen und die Entfristungsregeln für die Beschäftigten. Seit Juni fielen 16 Streiktage an, eine Urabstimmung unter den gewerkschaftlich organisierten Mitarbeitern ergab zuletzt sogar ein Votum für einen Dauerstreik. Bislang wurde der nicht angekündigt, doch schon jetzt verzögert sich die Bearbeitung der Bewerbungen und ihre Übergabe an die Hochschulen um mindestens vier bis sechs Wochen. So hat es "uni-assist" vor wenigen Tagen seinen Mitgliedern mitgeteilt.
Und dann die Sache mit der Visumsvergabe. Die Mehrheit der internationalen Bewerber stammt aus Ländern, für die eine Visumspflicht gilt. Allein aus Indien wollen 8.300 junge Menschen in Deutschland studieren, aus China 4750 und aus Syrien 3100.
Zwar zählt das Bundesinnenministerium "ausländische Studierenden, deren Studium nicht vollständig vom Ausland durchgeführt werden kann", schon seit dem 2. Juli zu "Reisenden aus Drittstaaten, die einen wichtigen Reisegrund haben". Sie dürfen selbst dann kommen, wenn es für ihre Heimatländer weiter coronabedingte Einreisebeschränkungen gibt. Für die Hochschulen existiert sogar ein Formblatt, um zu bescheinigen, dass die Studierenden vor Ort sein müssen.
Doch der "eigentliche Engpass", warnte Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), bestehe in der Bearbeitung der Anträge: "Die HRK hat Sorge, dass in vielen Ländern durch nur eingeschränkt tätige oder gar geschlossene deutsche Konsulate erhebliche Probleme bei der Beantragung und Bewilligung von Visa entstehen werden." Aus Sicht der HRK sei es daher wichtig, die hierfür "notwendigen Ressourcen" bereitzustellen. Im Klartext: Liebes Auswärtiges Amt, bitte tu was.
Die Mahnung Alts ist schon zwei Wochen alt. Doch angesichts der so unerwartet positiven Bilanz bei den internationalen Studienbewerbern ist sie noch aktueller geworden. Fest steht: An der Coronakrise ist sie nicht zerbrochen, die Begeisterung ausländischer Studienanfänger für ein Studium in Deutschland. Hoffentlich übersteht sie jetzt auch die deutsche Bürokratie.
Debatte um Online-Studierende
Offiziell werden die "uni-assist"-Bewerberzahlen heute Vormittag veröffentlicht. In der Gesamtschau liegen sie mit 77.700 sogar noch höher und nur um etwa 15 Prozent unter Vorjahr. Allerdings sind darin dann auch deutsche Staatsangehörige enthalten, die sich mit einem ausländischen Schulabschluss um ein deutsches Hochschulstudium bewerben. Die 59.250 internationalen Bewerber stammen aus 183 Herkunftsländern.
Da nicht alle Hochschulen ihre internationalen Studienbewerbungen in Kooperation mit "uni-assist" bearbeiten, dürfte die tatsächliche Zahl internationaler Studienbewerber sogar noch um etliche tausend höher liegen.
Die deutschen Visumsregeln für internationale Studierende unter Corona-Bedingungen sind auch im weltweiten Vergleich recht großzügig. Allerdings bleibe Studierende, die keinerlei Präsenzpflicht für ihr Studium vorweisen können, also in reinen Online- oder
Fernstudiengängen eingeschrieben sind, die Einreise verwehrt, hatte vor zwei Wochen die Antwort das Bundesbildungsministerium auf eine Anfrage des Grünen-Bundestagsabgeordneten Kai Gehring bestätigt.
Daraufhin hatte es kurzzeitig Empörung in der Hochschulszene gegeben, Gehring sprach von einer "Doppelmoral" etwa von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU), die zuvor eine inzwischen zurückgenommene US-Regelung kritisiert hatte. Die Trump-Regierung hatte internationale Studierende, die wegen Corona nur an Online-Kursen teilnehmen könnten, aus dem Land ausweisen wollen.
Genau das sieht die deutsche Regelung aber nicht vor. Wer schon im Land ist, darf bleiben. Und für die Neuankömmlinge können die Hochschulen mit besagtem Formblatt sehr einfach jegliche Präsenzanteile bescheinigen – und die dürften im kommenden Semester deutlich höher liegen als im fast rein digitalen Sommersemester.
Kommentar schreiben
Oliver Locker-Grütjen (Dienstag, 01 September 2020 16:57)
Es ist wunderbar, dass Deutschland und seine Hochschulen eine deutliche Präferenz bei internationalen Studienanfängern hat. Dies ist einerseits dem qualitativ hervorragenden Hochschulsystem, dem professionellen Umgang der Hochschulen in der Pandemie, andererseits aber auch dem politischen Handeln in der Pandemie und der Sicherheit im deutschen Gesundheitssystem zu verdanken.
Dennoch bleiben große Herausforderungen, die nicht bloß durch eine „Präsenzbestätigung“ o.ä. gelöst werden können. Flüge für Studierende existieren nicht oder sind immens teuer. Erstsemester benötigen Netzwerke „in vivo“ und dies stetig und auch in wechselnden Kohorten und großen Gruppen: wie soll das gelöst werden?
Es bleibt: wir müssen auch internationalen Studierenden in der Pandemie ein bestmögliches Blended-Semester anbieten und gerade zum Frühjahr hin mit einer „Explosion der Präsenz“ das back to life (hoffentlich) zelebrieren.