Kommt die zweite Corona-Welle, müssen Bildungseinrichtungen so lange wie möglich offen gehalten werden. Alles andere wäre unfair.
ICH HABE MICH GEIRRT. Ende Juli schrieb ich: Die Kultusminister sollten verlässliche Schwellenwerte für den Schulbetrieb definieren. Überschreiten die Corona-Neuinfektionen in einer Region ein bestimmtes Niveau, müssen Schüler und Lehrer zum Beispiel Masken im Unterricht tragen. Steigen die Zahlen weiter, gilt irgendwann wieder die Abstandsregel, die Gruppen werden verkleinert und ein Teil des Unterrichts wird wieder ins Digitale verlagert. Und wenn es noch schlimmer kommt, müssten die Schüler irgendwann wieder ganz zu Hause lernen.
Es ging mir dabei darum, dass Schüler, Eltern und Lehrer mehr Transparenz erhalten, dass anstelle willkürlich erscheinender Schulschließungen ein nachvollziehbares Verfahren tritt – das die Schulen so lange wie möglich offenhält.
Tatsächlich haben inzwischen mehrere Kultusminister, Bayern voran, ein solches System eingeführt, andere wollen folgen. Als harte Grenze hat sich eine sogenannte 7-Tages-Inzidenz von 50 Fällen auf 100.000 Einwohner herauskristallisiert.
Was das praktisch bedeutet, zeigt Bayerns Hauptstadt München, die seit zehn Tagen an der 50er-Grenze kratzt. Dort drohten vergangene Woche Kitaschließungen und die teilweise Rückkehr zum Fernunterricht – während sich parallel 54 Gasthäuser auf die "WirtshausWiesn" vorbereiteten – inklusive Livemusik und viel Bier. Auch Bayern München wollte trotz der Corona-Zahlen am Wochenende mit dem Segen der Stadtverwaltung vor 7500 Fans gegen Schalke auftreten – bis der Münchner OB die Genehmigung widerrief.
Immerhin. Doch auch so entsteht in München und anderswo der Eindruck, dass die scharfen Grenzwerte nur für Kinder und Jugendlichen gelten. Was das Pochen auf Schwellenwerte für Kitas und Schulen nicht nur hochgradig unfair macht, sondern auch widersinnig und absurd.
Der Rest der Gesellschaft
macht so weiter wie bisher
Unfair, weil entgegen allen anderslautenden Beteuerungen von Spitzenpolitikern inklusive Merkel und Söder ("offene Kitas und Schulen haben jetzt die höchste gesellschaftliche Priorität") doch die Kinder wieder die größten Einschränkungen tragen müssen. Widersinnig deshalb, weil parallel zu den wieder steigenden Infektionszahlen insgesamt der Anteil der nachweislich infizierten Unter-15-Jährigen seit Wochen sinkt und sinkt – trotz offener Kitas und Schulen.
Absurd aber wird die Sache, solange die Politik parallel einen zweiten generellen Shutdown ausschließt. Dann dann böte sich im Falle einer zweiten Welle – von deren Bevorstehen mehr und mehr Experten ausgehen – nämlich folgendes Szenario: In kürzester Zeit überschreitet die Mehrheit der Regionen die 50er-Grenze, womit faktisch doch wieder fast flächendeckende Kita- und (teilweise) Schulschließungen angesagt wären.
Währenddessen macht der Rest der Gesellschaft mehr oder weniger so weiter wie bisher. Und weil er dies tut, sinken auch die Fallzahlen nicht, und die Kinder und Jugendlichen müssten über Wochen oder gar Monate zu Hause hocken. Die soziale Belastungen wären erneut so gravierend wie die bildungspolitischen: Noch immer ist die Mehrheit der Schulen weder technisch noch didaktisch auf täglichen Digitalunterricht vorbereitet.
Am Montag trifft sich Bundeskanzlerin Merkel mit den Kultusministern der Länder zu einem Schulgipfel. Es soll erneut um die Digitalisierung gehen, um gemeinsame Vorhaben und Finanzzusagen. Wie wäre als Ergebnis des Tages auch der folgende Appell an alle Regierungschefs der Länder: Künftig darf es für Kitas und Schulen nur noch einen Schwellenwert geben, und der lautet: Erst wenn Restaurants, Friseure oder Einkaufszentren geschlossen sind, sind auch die Bildungseinrichtungen dran.
Dieser Beitrag erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
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