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"Schulen schließen, damit die Gesellschaft weitermachen kann wie bisher? Umgekehrt muss es laufen!"

KMK-Präsidentin Stefanie Hubig über den Coronaschutz in Schulen, die Digitalisierungsprogramme von Bund und Ländern – und Bildungsaufgaben, die über die Pandemie hinausreichen.

Stefanie Hubig, 51, ist seit 2016 Ministerin für Bildung des Landes Rheinland-Pfalz. Vorher war die promovierte Juristin Staatssekretärin im Bundesjustizministerium. Im Jahr 2020 ist Hubig Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Foto: Ministerium/Georg Banek.

Frau Hubig, die Enttäuschung war groß nach dem informellen Schulgipfel im Kanzleramt vergangene Woche. Aufgewärmte Beschlüsse, und anstatt dass Bund und Länder den gemeinsamen Aufbruch in der Bildungspolitik beschworen, war bürokratisch-schwammig von "Handlungsfeldern" die Rede, die man gemeinsam definiert habe. Ein bisschen wenig, oder?

 

Das erste Treffen im Kanzleramt zwei Wochen vorher, das war die informelle Runde. Da saßen neben Kanzlerin Merkel, SPD-Chefin Esken und Bundesbildungsministerin Karliczek nämlich nur einige wenige Kultusministerinnen und Kultusminister mit am Tisch. Die Pläne, die dabei entstanden waren, auf die mussten wir uns ja dann in größerer Runde erst noch alle einigen, und genau das war der Grund für das Treffen mit allen Kultusministerinnen und Kultusministern in der vergangenen Woche. Es ist doch klar, dass wir Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern, die alle Länder betreffen, auch nur unter Beteiligung aller Länder treffen können. Von daher bin ich alles andere als enttäuscht, sondern sehr zufrieden, dass wir jetzt alle mit an Bord sind.  

 

Sie beschreiben die Komplexitäten des deutschen Bildungsföderalismus und widerlegen nicht den Eindruck, dass bei der zweiten Runde im Kanzleramt kaum Neues herausgekommen ist.

 

Moment! Wir haben erreicht, dass der Bund bei der Finanzierung von Laptops bzw. Tablets für alle Lehrkräfte in Vorleistung geht. Das ist wichtig, denn die 500 Millionen dafür sollen aus dem EU-Konjunkturpaket kommen, weswegen vor dem nächsten Frühjahr kein Euro die Schulen erreicht hätte. Auch die Bildungsflatrate für alle Schüler haben wir festgeklopft. Noch wichtiger aber, und das ist bei der Berichterstattung fast völlig untergegangen: Wir haben uns auf einen langfristigen Plan zur Digitalisierung des Lehrens und Lernens verständigt, der weit über Corona hinausreicht. Ich spreche vor allem von Kompetenzzentren, die das Digitale in die Lehrerbildung bringen werden, und von einem Bund-Länder-Programm zur Entwicklung sogenannter Intelligenter Tutorieller Systeme (ITS) und von mehr lizenzfreien digitalen Bildungsmedien. 

 

"Es kann nicht darum gehen, ständig neue Millionen-
oder gar Milliardenbeträge in die Debatte zu werfen, die
sich für die Öffentlichkeit toll anhören, aber möglicherweise komplett substanzlos wären." 

 

Klingt nach business as usual: Die Länder leiern dem Bund ein paar hundert Millionen für neue Vorhaben aus den Rippen, und dann beginnt die Arbeit von Bund-Länder-AGs, die über Monate hinweg die entsprechenden Verwaltungsvereinbarungen aushandeln. Die grüne Bildungspolikerin Margit Stumpp hat vergangene Woche kommentiert: "So energisch Merkel und Esken in der ersten Runde des Treffens noch waren, so konsequent wurden sie nun ausgebremst. Während die KMK-Präsidentin im Vorfeld richtigerweise noch die Grenzen des Bildungsföderalismus diagnostizierte, wurde sie von ihren Kolleginnen und Kollegen aus den Kultusministerien wieder zurückgepfiffen."

 

Wir haben, wie ich finde, richtungsweisende Abmachungen getroffen zwischen Bund und Ländern, die weit über das hinausgehen, was wir in den vergangenen 10 oder 15 Jahren vereinbart haben. Es bringt niemandem etwas, wenn wir uns jetzt jeden Tag irgendein neues Vorhaben einfallen lassen und uns verzetteln. Wir sollten uns darauf konzentrieren, die Dinge, die wir in Angriff genommen haben, auch zügig umzusetzen. Es kann nicht darum gehen, ständig neue Millionen- oder gar Milliardenbeträge in die Debatte zu werfen, die sich für die Öffentlichkeit toll anhören, aber möglicherweise komplett substanzlos wären. Unser Ziel ist, die Digitalisierung langfristig in Schule und Unterricht zu verankern…

 

…während andere Staaten das Verankern schon vor den von Ihnen genannten 10 oder 15 Jahren erledigt haben.

 

Ist das wirklich so? Wenn ich nach internationalen Vorbildern frage, höre ich fast immer nur Dänemark, vielleicht noch Estland, Lettland oder Litauen, aber eigentlich nie von einem Staat, der von seiner Größe und seiner föderalen Struktur auch nur in Ansätzen mit Deutschland vergleichbar wäre. Nehmen Sie als Beispiel den Digitalpakt: Der hat überhaupt erst vor einem Jahr begonnen, auch wenn uns das wegen Corona viel länger vorkommen mag. Wir haben vor dem Hintergrund der Pandemie jetzt viel mehr Tempo machen können, aber trotzdem ist Bildung, auch digitale Bildung, immer eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und da müssen alle zusammenwirken: Bund, Länder, die Kommunen, aber auch die Unternehmen, die die Infrastruktur schaffen oder die Endgeräte bereitstellen sollen. Und das dauert bei aller Beschleunigung eben auch. Das liegt in der Natur der Sache. 

 

Dann lassen Sie uns doch noch einmal genauer hinschauen bei den in der vergangenen Woche festgeklopften Vorhaben. Fangen wir mit den kurzfristigen an. Die Lehrer-Laptops: Auch wenn das Geld vom Bund vorfinanziert wird, können die Hersteller überhaupt so schnell die nötigen Geräte liefern? Ganz Deutschland, nein, die ganze Welt stellt doch wegen Corona gerade auf digitales Lernen und Homeoffice um. 

 

Meine Erwartung ist schon, dass das in diesem Schuljahr klappt. Je schneller, desto besser. Aber wir bewegen uns in keinem rechtsfreien Raum, das heißt, wir müssen angesichts der Größenordnung europaweite Vergabeverfahren durchführen, anschließend müssen wir Rahmenverträge mit den Lieferanten abschließen. Das dauert. Aber was den angeblich leergekauften Markt angeht: Klar, wenn wir insgesamt eine Milliarde für Endgeräte von Schülern und Lehrkräften ausgeben, wenn dazu noch viele weitere Millionen aus dem regulären Digitalpakt für Laptops und Tablets fließen, dann kann das zu Engpässen führen. Allerdings haben wir die gleichen Warnungen auch schon vor ein paar Monaten gehört, als es um die Endgeräte für die Schülerinnen und Schüler ging, und inzwischen kommen die Laptops und Tablets Stück für Stück in den Schulen an. 

 

Als nächstes haben Sie die Bildungsflatrate für alle Schüler erwähnt. Als ich vor einigen Wochen dazu recherchierte, kamen mir die Pläne dazu noch reichlich wolkig vor.

 

Das Bundesbildungsministerium hat uns mitgeteilt, dass es gute Gesprächen mit den vier großen Telekommunikationsunternehmen geführt habe und dass die Umsetzung unmittelbar bevorstehe. Das Ziel ist, dass jede Schülerin und jeder Schüler die Möglichkeit zu einer zehn Euro teuren Flatrate erhält, über die auf Bildungsangebote, nicht aber auf Netflix & Co zugegriffen werden kann, und dass bei sozial bedürftigen Schülern die Finanzierung der Flatrate über das Bildungs- und Teilhabepaket laufen wird. 

 

So ganz genau, wann und wie es losgeht, wissen Sie also auch noch nicht. 

 

Ich freue mich darauf, dass die Bundesregierung und die Konzerne uns sicher zeitnah alle noch offenen Informationen geben werden. 

 

"Das Beste ist es, wenn man alle 20 Minuten für
drei bis fünf Minuten stoßlüftet. Wo man gar nicht lüften kann, auch das haben uns die meisten Experten gesagt, helfen auch die Geräte nichts."

 

Bleiben wir bei zeitnah: Als einer der sieben von Bund und Ländern identifizierten "Handlungsstränge", ich übernehme die Formulierung, wurde von Regierungssprecher Steffen Seibert vergangene Woche "ein von der KMK erarbeiteter einheitlicher Rahmen für die schulischen Infektionsschutzmaßnahmen" genannt.

 

Den Begriff "Handlungsstrang" finde ich persönlich nicht besonders glücklich. Und an der Stelle besteht auch im Gegensatz zu dem, was manche in die Formulierung von Herrn Seibert hineingelesen haben, kein Handlungsbedarf mehr seitens der Länder. Wir Kultusministerinnen und Kultusminister haben bereits ein einheitliches Hygienekonzept vorgelegt, und in dessen Ergänzung sind wir gerade dabei, auch beim Thema Lüften möglichst viel Einheitlichkeit herzustellen für die bevorstehende kalte Jahreszeit. Das Umweltbundesamt hat uns in dem Zusammenhang eine klare Handreichung für alle Schulen zugesagt.

 

Apropos: Kurz nach dem Schulgipfel im Kanzleramt gab es ein KMK-Expertengespräch "Lüften in Schulräumen", dessen Ergebnisse von mehreren Lehrerverbänden als enttäuschend und vollkommen unzureichend kritisiert wurde. Nur Bayern, das 50 Millionen Euro zum Kauf von Luftfilteranlagen und CO2-Ampeln angekündigt hatte, nehme seine Fürsorgepflicht ernst. "Ich sehe nicht ein, warum ausgerechnet beim Gesundheitsschutz an Schulen geknausert und gespart wird, wenn in anderen Bereichen die Millionen deutlich lockerer sitzen!", sagte zum Beispiel Heinz-Peter Meidinger, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. 

 

Richtig ist, dass wir uns haben beraten lassen und zwar alle gemeinsam. Was die Kritiker in dem Zusammenhang vielleicht zur Kenntnis nehmen sollten, ist, dass wir zu dem Expertengespräch verschiedene Wissenschaftler eingeladen hatten, die allesamt gesagt haben: Das Beste ist es, wenn man alle 20 Minuten für drei bis fünf Minuten stoßlüftet. Wo man gar nicht lüften kann, auch das haben uns die meisten Experten gesagt, helfen auch die Geräte nichts, da sollte man die entsprechenden Räume dann schlichtweg nicht nutzen.

 

Man könnte freilich auch in die Räume, die sich lüften lassen, zur Ergänzung Lüftungsgeräte hineinstellen. 

 

Das kann man tun, und wenn Länder oder Schulträger das wollen, hindert sie keiner daran. Aber ich will noch einmal betonen: Die Wissenschaftler haben die Grundlagen unseres in der KMK verabredeten Hygienekonzepts für richtig befunden und bestätigt, dass ein regelmäßiges Stoßlüften nicht nur den besten Schutz liefert, sondern auch praktikabel ist. Stehen die Fenster im Winter drei bis fünf Minuten lang offen, senkt das die Raumtemperatur um zwei bis drei Grad. Dann sind wir immer noch weit von den offenbar von einigen befürchteten sibirischen Verhältnissen entfernt. 

 

Übertreiben Sie nicht, wenn Sie von der vermeintlich so großen Einigkeit der anwesenden Experten berichten?

 

Alle anwesenden Experten waren sich, so habe zumindest ich das wahrgenommen, einig, dass das Mittel der Wahl das Stoßlüften ist – wenn die Fenster weit genug aufgehen. Wo die Meinungen auseinandergingen, war die Frage, ob Lüftungsgeräte dann helfen, wenn gar kein Fenster zu öffnen ist. Und da hat die Mehrheit der Experten gesagt: Wenn gar keine Frischluft da ist, bringen auch die besten Luftfilter wenig. 

 

"Man konnte manchmal den Eindruck bekommen,
wir diskutieren als Gesellschaft immer nur über weitere Beschränkungen für die Schulen."

 

Bleiben wir noch kurz bei Heinz-Peter Meidinger. Der warnte am vergangenen Wochenende, die Zahl von 50.000 zurzeit in Quarantäne befindlichen Schülern werde sich in den kommenden Monaten "noch mehr als verdoppeln, wahrscheinlich sogar vervielfachen."

 

Ich möchte mich an solchen Prognosen nicht beteiligen, aber selbst wenn Herr Meidinger Recht behalten sollte: Ich plädiere sehr dafür, auf die Gesamtzahl der über zehn Millionen Schüler in Deutschland zu sehen. Verdoppelte sich die Zahl der Schüler in Quarantäne, läge ihr Anteil trotzdem bei nicht einmal einem Prozent. Wir sind uns alle einig, dass es für den Bildungserfolg und für die soziale Teilhabe der Kinder und Jugendlichen von entscheidender Bedeutung ist, dass wir den Präsenzunterricht aufrechterhalten. Natürlich werden wir die nächsten Monate immer wieder mit teilweisen oder auch einmal kompletten Schulschließungen beim Auftreten von Infektions- oder Verdachtsfällen rechnen müssen, was ja nun auch überhaupt kein Wunder ist, wenn die Infektionszahlen insgesamt steigen. Wir müssen und wir werden die Schulen in dieser Situation unterstützen. Was sich aber seit Beginn des neuen Schuljahres gezeigt hat: Die Hygienekonzepte greifen, die Rückverfolgung der Infektionen funktioniert. 

 

Aber hängt die Rückverfolgung nicht genau davon ab, dass die Ausbrüche in den Schulen nicht zu zahlreich werden? Ist irgendwann eine Grenze erreicht?

 

Je mehr Fälle es werden, desto schwieriger wird die Rückverfolgung – das ist richtig. Das Robert-Koch-Institut hat gerade erst und, wie ich finde, sehr eindrücklich darauf hingewiesen, dass die meisten Infektionen bei privaten Feiern passieren. Da sollten wir genauer hinschauen und das haben die Ministerpräsidenten bei ihrem Treffen mit der Kanzlerin diese Woche auch getan. Man konnte manchmal den Eindruck bekommen, wir diskutieren als Gesellschaft immer nur über weitere Beschränkungen für die Schulen, obwohl wir doch derzeit sehen, dass die Infektionen grundsätzlich nicht von den Schulen ausgehen, sondern von außen in sie hineingetragen werden. 

 

Hand aufs Herz: Worauf müssen sich die Kinder und ihre Familien in den nächsten Monaten einstellen?

 

Es gilt das, was wir auch zu Beginn der Pandemie gesagt haben: Wir müssen natürlich immer ein Stück auf Sicht fahren. Aber gleichzeitig, und das ist der Unterschied zum Frühjahr, haben wir jetzt viel mehr Erfahrung. Wir haben Stufenpläne erarbeitet, so dass bei regional steigenden Infektionszahlen auch auf regionaler Ebene zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden. Das kann von einer noch stärkeren Trennung von Gruppen über eine Maskenpflicht für ältere Schüler bis hin zu einem rollierenden System reichen, in dem sich Präsenz- und Fernunterricht erneut abwechseln. Wobei die letzte Option aus meiner Sicht wirklich erst dann gezogen werden darf, wenn gar nichts Anderes mehr geht. 

 

Der FDP-Familienminister von Nordrhein-Westfalen, Joachim Stamp, hat vor einigen Wochen sinngemäß gesagt: Solange er Minister ist, wird es keine flächendeckende Schließung von Bildungseinrichtungen mehr geben. 

 

Was er damit, glaube ich, deutlich machen wollte, ist der hohe Stellenwert, den offene Kitas und Schulen für alle Bildungs- und Familienministerinnen und -minister haben. Wir müssen alles daran setzen, dass wir nicht erneut in eine Situation hineinkommen wie im März. Manche Leute wollen, so scheint es manchmal, dringend die Schulen schließen, damit der Rest der Gesellschaft wie bisher weitermachen kann. Ich finde, es sollte genau umgekehrt laufen: Wir müssen darüber diskutieren, wie wir in anderen gesellschaftlichen Bereichen schärfere Regeln einführen können, damit die Kitas und Schulen offen bleiben. 

 

"Wenn wir in eine Situation kämen, in der Schulschließungen doch unausweichlich wären, dann
würde es auch niemanden helfen, wenn die Verantwortlichen von der Stange gingen."

 

Aber werden wir eine ähnliche Garantie wie die von Joachim Stamp auch von der KMK-Präsidentin Stefanie Hubig bekommen?

 

Eine Pandemie ist eine schwierige Zeit, um Garantien zu geben. Wir sind uns als Kultusminister aber alle einig, dass Schulschließungen nur die allerletzte Maßnahme sein dürfen. Wir wollen und wir müssen Kitas und Schulen offenhalten, damit frühkindliche Bildung und Unterricht stattfinden können, zumal Bildungseinrichtungen nach wie vor nicht die Hotspots sind. Wenn wir in eine Situation kämen, in der Schulschließungen doch unausweichlich wären, dann würde es auch niemanden helfen, wenn die Verantwortlichen von der Stange gingen. 

 

Nervt Sie als Kultusminister eigentlich, dass sich Bundesbildungsministerin Karliczek, die gar nicht zuständig ist, ständig zur Corona-Situation in den Schulen äußert? Gerade erst sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: "Als Bundesbildungsministerin mache ich mir insbesondere Sorgen, dass die Pandemie wieder den Unterricht in den Schulen gefährdet."

 

Wir arbeiten sehr konstruktiv und gut mit dem Bund zusammen, dafür bin ich dankbar. Man ist sich dort der Mitverantwortung beim wichtigen und gesamtgesellschaftlichen Thema Bildung bewusst, gleichzeitig – da bin ich mir sicher – weiß die Bundesministerin auch, wo ihre Mitverantwortung und Zuständigkeit endet. Dass sie sich Sorgen macht, wie viele andere Menschen auch, das sei ihr doch zugestanden.   

 

Dann lassen Sie uns den Blick in die mittelfristige Zukunft richten. Sie haben die Kompetenzzentren für digitale Bildung erwähnt, die Bund und Länder einrichten wollen. Was können wir uns darunter vorstellen? Und ist "mittelfristig" nicht zu spät, wenn Deutschland in einer PISA-Zusatzauswertung Platz 76 von 78  bei der digitalen Ausbildung der Lehrkräfte belegt?

 

Die Staatssekretäre von Bund und Ländern werden in den nächsten Monaten alle Details aushandeln. Wir wollen da etwas richtig Gutes hinbekommen. Und auch wenn die Kompetenzzentren im Koalitionsvertrag der Großen Koalition standen, war es nicht so, dass da bisher viel Vorarbeit auf Seiten des Bundes geleistet wurde. Es gab jetzt den spontanen Beschluss, dass wir das Thema angehen wollen, und wir haben daraufhin in der KMK innerhalb sehr kurzer Zeit ein erstes Positionspapier verfasst. Die Bewertung "zu spät" hilft in dieser Frage nicht weiter. Zumal die PISA-Sonderauswertung ja das Jahr 2018 behandelt und seitdem hat sich die Welt weitergedreht. Aber ja, es gibt Handlungsbedarf, wir packen das an. Ich warne aber auch davor, hier jetzt Schnelligkeit vor Gründlichkeit zu setzen.

 

Ein paar mehr Einzelheiten zu den Kompetenzzentren wären aber schon hilfreich.  

 

Ich bitte an der Stelle noch um Geduld und Verständnis, dass ich mich zu den Details noch nicht öffentlich äußern möchte.

 

In dem von Ihnen erwähnten KMK-Positionspapier ist von einem übergreifenden "Deutschen Zentrum für Digitale Bildung" die Rede und von "landesspezifischen" Instituten, die die "phasenübergreifende digital gestützte didaktische Aus- und Fortbildung von tätigen und zukünftigen Lehrkräften" im Bereich der Digitalisierung organisieren sollen. Ihr Arbeitstitel: "Digital Experience Labs for Teaching Aspects – DELTA". Für den Aufbau wurden einmalig zwischen 320 und 480 Millionen Euro veranschlagt, für den Betrieb weitere 80 bis 160 Millionen – pro Jahr, finanziert über ein gemeinsames Bund-Länder-Vorhaben.   

 

All das müssen Länder und Bund jetzt aushandeln. Zu den Summen werde ich noch nichts sagen, aber wir werden in den nächsten Monaten auf eine Verabredung mit dem Bund hinarbeiten. 

 

Und was hat es mit den Intelligenten Tutoriellen Systemen, den ITS, auf sich?

 

Wir wollen einen Schritt weitergehen, als wir es mit digitalen Schulbüchern bereits tun. Das Ziel sind adaptive Lernangebote – Programme, die jedem Schüler bezogen auf seinen persönlichen Fortschritt ein passendes Feedback geben. Wenn eine Schülerin zum Beispiel mit dem Bruchrechnen Probleme hat, merkt das System, dass ihr vielleicht Grundlagen der Multiplikation fehlen, und wiederholt das dann mit der Schülerin anhand verschiedener Aufgaben. Die Lehrkraft bekommt derweil vom System die entsprechende Rückmeldung, sie bekommt sogar die Arbeiten von Schülern schon vorkorrigiert durch die Software und dazu womöglich weitere Vorschläge für Übungsaufgaben.  

 

"Wir haben gezeigt, dass wir nicht trotz, sondern wegen unseres Bildungsföderalismus zügig und vor allem in einem großen Konsens vorankommen können – was entscheidend ist bei gesellschaftlich so zentralen Themen." 

 

Klingt nach einer schönen neuen Schulwelt – oder nach einem didaktischen Albtraum. Je nach Perspektive. 

 

Ganz wichtig ist der Hinweis, dass wir hier nie von einem Ersatz für den bisherigen Unterricht sprechen, sondern lediglich von einer Ergänzung. Digital gestützter Unterricht wird Lehrkräfte nicht überflüssig machen, sondern sie bei ihrer Arbeit unterstützen, so dass sie mehr Zeit für die individuelle Förderung haben. Was wiederum gerade jenen Schülerinnen und Schülern zugute kommt, die zu Hause nicht die nötige Unterstützung erhalten. 

 

Und wer soll diese ITS entwickeln?

 

Wir könnten da zum Beispiel auf Strukturen aufbauen, die durch die Qualitätsoffensive Lehrerbildung entstandenen sind. Wir könnten die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Schulpraxis weiter stärken und eventuell ergänzen um Partner aus der Wirtschaft: Schulbuch- und Bildungsverlage, IT-Unternehmen. Das müssen Koproduktionen sein, denn für einen allein ist die Entwicklung solcher Programme viel zu teuer. Am Ende werden aus meiner Sicht alle davon profitieren: die Schulen, die Universitäten und auch die Verlage, die das technische Know-How erwerben, um in diesem neuen Markt mithalten zu können

 

Der nächste Termin im Kanzleramt steht bereits: Im Januar 2021 will man wieder zusammenkommen – um dann bei allen Plänen Vollzug zu melden?

 

Das hielte ich offen gestanden für sehr ambitioniert – für zu ambitioniert. Wir wollen in der KMK ja in diesem Jahr auch noch einige andere zentrale Projekte zum Abschluss bringen, vor allem den Bildungsstaatsvertrag und den geplanten Bildungsrat. Aber bis Januar sollte schon klar sein, wohin die Reise geht und was die nächsten Schritte sind bei den großen Digitalprojekten, die wir uns vorgenommen haben. 

 

Gäbe es diese Projekte, wenn Corona nicht über die Welt gekommen wäre?

 

Ganz sicher nicht. Wir Länder haben die Gelegenheit, die sich aus dieser schlimmen Pandemie ergab, gemeinsam mit dem Bund so gut genutzt, wie es nur ging. Wir haben gezeigt, dass wir nicht trotz, sondern wegen unseres Bildungsföderalismus zügig und vor allem in einem großen Konsens vorankommen können – was entscheidend ist bei gesellschaftlich so zentralen Themen. Jetzt werden wir dafür sorgen, dass der Druck im Kessel bleibt, auch wenn Corona hoffentlich irgendwann vorbei ist.  



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Kommentare: 1
  • #1

    Gerd Faulhaber (Donnerstag, 01 Oktober 2020 10:09)

    Lieber Herr Wiarda,

    danke für dieses Interview, insbesondere Ihre Fragestellungen. Das ist richtig guter Journalismus; unabhängig, gründlich, fair.
    Und was mir nach dem Lesen des Interviews spontan eingefallen ist. Der Kaiser ist ziemlich nackt.