Wie der Start der NFDI die Organisationsfähigkeit der Fachgemeinschaften herausfordert. Ein Gastbeitrag von
Petra Gehring und Stefan Lange.
JETZT WIRD in der Geschichte der deutschen Wissenschaftspolitik ein neues Kapitel aufgeschlagen: Die Nationale Forschungsdateninfrastruktur nimmt ihre Arbeit auf. Im Oktober läuft die Förderung der ersten neun von der DFG ausgewählten Konsortien an. Parallel wird der NFDI e.V. als Dachorganisation offiziell gegründet.
Die NFDI ist ein von Bund und Ländern zunächst bis 2028 gefördertes netzwerkartiges Gebilde, bestehend aus Konsortien, die aus der Wissenschaft heraus gebildet werden, um die Bereitstellung, Verknüpfung und Nutzung von Forschungsdaten zu organisieren. Ein Direktorat und ein wissenschaftlicher Senat steuern diesen Prozess. Von Bund und Ländern wird die NFDI mit jährlich 90 Millionen Euro gefördert. Eine stetige Selbstergänzung ist in den Aufbauprozess durch zwei zeitversetzte zusätzliche Ausschreibungswellen für weitere Konsortien eingebaut.
Ist insofern jetzt die Zeit für die Wissenschaft, sich nach der aufregenden ersten Gründungsphase zurückzulehnen und zu sagen: "Läuft"? Die Antwort: Ganz sicher nicht. Es wäre sogar fatal, wenn Forscherinnen und Forscher nun auf Autopilot schalten würden. Nach dem Motto: Das wenig sexy klingende Thema "Dateninfrastrukturen" ist jetzt in guten Händen und geht uns so lange nichts mehr an, bis "die" NFDI bzw. (fachlich) "mein" Konsortium mir irgendwann Dienste, Standards und Lösungen liefert für etwaige Probleme bei der Bewältigung meiner Forschung.
Stefan Lange ist stellvertretender Leiter der Geschäftsstelle des Rates für Informationsinfrastrukturen (RfII).
Foto: privat
Petra Gehring lehrt Philosophie an der TU Darmstadt und ist Vorsitzende des Rates für Informationsinfrastrukturen (RfII).
Foto: Alexander Vejnovic.
So ist die NFDI nicht gedacht und so kann sie auch nicht funktionieren. Es ist ein Kennzeichen des NFDI-Prozesses, dass er schon seinem Design nach eine Unternehmung ist, die auf Lernen setzt, wobei alle gefordert sind. Entstehen soll etwas Neuartiges. Und zwar schrittweise: indem sich von potenziellen Konsortialpartnern geborenen Ideen mit den von den Gutachtern getroffenen Auswahlentscheidungen sinnvoll zu einem guten Ganzen ergänzen, das in jedem Entwicklungsstadium nach Möglichkeit alle Aktiven der Republic of Science (Polanyi) beteiligt. Die NFDI soll sich als eine wissenschaftsweite Allmende entwickeln. Jeder Verdacht, es handele sich hier um ein weiteres Exzellenzprojekt, mit dem sich eine wissenschaftspolitisch aktive "akademische Elite" selbst versorgt, würde den anspruchsvollen Prozess gefährden.
Unter diesem Gesichtspunkt sind drei Herausforderungen für ein Gelingen der NFDI hervorzuheben.
Die Rolle der NFDI-Konsortien
Ein Konsortium ist nicht allein ein Diensteportfolio für Communities, sondern es ist schon in seiner Entstehung und erst recht in seiner Arbeit immer auch ein Stück Community-Building. Das betrifft Mission und Governance, vor allem aber auch die ständige Professionalisierung aller am Forschungsprozess Beteiligten im Umgang mit Informationsinfrastrukturen und Datenmanagement. Ein Top-Down-Ansatz, der lediglich "für" eine Community technische Möglichkeiten erschließt, Stakeholder benennt und Lösungen "anbietet", wird nicht ausreichen. Was stattdessen zählt: die Nutzereinbindung über die Jahre hinweg immer weiter und immer neu zu gestalten.
Es müssen Partizipationsmechanismen entwickelt werden, die auch Durchlässigkeit für künftige Bedarfe, Trends, Mechanismen, Konzepte und Pfadentscheidungen berücksichtigen. Die Konsortien müssen einerseits Verfahren, andererseits Aus- und Weiterbildungsformate entwickeln, sie müssen ihre Community im Sinne einer Schwarmintelligenz ertüchtigen, damit sie zum praktischen Gelingen einer Forschungsdateninfrastruktur beitragen kann. Nur auf diesem Wege kann eine Handlungsfähigkeit der NFDI in der Breite und aus der Breite heraus organisiert werden.
Hierbei kann es – das hat die erste Auswahlrunde gezeigt – auch für sehr große Communities wie die Ingenieur-, die Kultur, Sozial- und Wirtschaftswissen¬schaften vielversprechende Ansätze geben. Schon jetzt erkennbar ist allerdings, dass die Fachkulturen unterschiedlich gut auf die Aufgabe vorbereitet sind, ihre Forschenden für die aktive Mitarbeit in Infrastrukturfragen zu begeistern. Wer also kann Mitverantwortung organisieren und die Konsortien der NFDI mit den Communities verzahnen? Hier sind Konsortien auf die Bereitschaft der Forschenden angewiesen.
Die Rolle der Fachgesellschaften
Eine NFDI zu gestalten zeigt, wie unterschiedlich die Funktionen von Fachgesellschaften sein können. Konsortialanträge haben augenscheinlich wenig Probleme, Netzwerke von Infrastrukturpartnern auszuweisen (namentlich etwa Bibliotheken, Fachinformationsdienste, Daten- und Rechenzentren). Anders sieht es aber aus in der Frage, ob sich über die Einbindung von Fachgesellschaften tatsächlich die sogenannte Community erreichen lässt, also die ganze Breite der aktiv Forschenden. Der NFDI-Prozess wirft neues Licht auf ein altbekanntes Problem: die (unterschiedliche) Selbstorganisationsfähigkeit von Communities und ihr Potenzial, mittels Fachgesellschaften bzw. -verbänden als korporativ handlungsfähige Akteure gegenüber Institutionen der Wissenschaftsförderung, Wissenschaftspolitik sowie Hochschulen und außeruniversitären Wissenschaftsorganisationen auftreten zu können. Dass Fachgesellschaften hierzu in der Lage sein sollten, betonte die interdisziplinäre DFG-Forschergruppe Governance der Forschung bereits 2007 und nannte diese Verantwortungsübernahme eine Rahmenbedingung für eine leistungsfähige öffentlich finanzierte Forschung.
Der NFDI-Prozess mag nun Communities entgegenkommen, die über Fachverbände verfügen, in welchen die Mitglieder tatsächlich aktiv und präsent sind und in denen sich die disziplinären Forschungsdynamiken widerspiegeln. Solche Communities können (und sollten) ihren lebendigen Verband als Brücke zu den vielen, in der Fläche verteilt arbeitenden Forschenden nutzen. Wo jedoch Fachgesellschaften eher ein verkrusteter Überbau sind oder im Grunde abseits einer Mehrheit der Forschenden stehen, muss sich ein NFDI-Konsortium andere Brücken suchen. Auch sollte es dort, wo mehrere Fachvereinigungen in ein und derselben Domäne unterwegs sind, keine konkurrierenden "Verbände-Konsortien" geben. Ebenso wenig, wie eine territoriale Schlagseite (Nord ohne Süd, West ohne Ost) hilfreich ist, darf eine Landkarte von Verbands¬konflikten die NFDI prägen.
Zu hoffen ist, dass die NFDI auch in bislang durch Fachgesellschaften und Verbände nur lose integrierten Communities neue Selbstorganisations- und Repräsentationskräfte freisetzt. Dies ist bedeutsam. Denn sich in einer starken Fachgesellschaft zusammenzuraufen und artikulieren zu können, ist in Zeiten des digitalen Methodenwandels ein echter Mehrwert.
Qualität in der Digitalität als übergeordnetes Ziel
Die angesprochenen Organisationsfragen sind im NFDI-Prozess kein Selbstzweck. Natürlich soll eine NFDI die Handlungsfähigkeit erhöhen, digitale Erschließung und Standardisierung vorantreiben, sie soll knappe Ressourcen standortunabhängig effizient nutzen helfen. Die NFDI soll Silos öffnen, interdisziplinären Methodentransfer erleichtern und neue Formen der durchgängigen Datenanalytik ermöglichen. Sie kann, gestützt auf starke Konsortien und handlungsfähige Fachgesellschaften, auch ein Machtfaktor sein: Eine Stimme der Wissenschaft in Digitalangelegenheiten – etwa gegenüber Unternehmen, deren Datenplattformen, Dienste und Werkzeuge derzeit den Markt (und auch den Forschungsalltag) in einer nicht wünschenswerten Weise – ja: alternativlos – dominieren.
Letztlich steht und fällt die NFDI aber nicht nur mit dem Anliegen der Unabhängigkeit, sondern mit der Qualität der in ihren Diensten verfügbaren und tatsächlich zirkulierenden Daten. "Datenqualität" – das Thema wird selten explizit diskutiert. Gemeint ist jedoch nicht weniger als (unter digitalem Vorzeichen) alles, was die Wissenschaftlichkeit wissenschaftlicher Ergebnisse ausmacht: die Qualität der Datenerhebung und -prozessierung, der Metadaten, kurz: der "Methoden". Mehr noch als gute Algorithmik wird die Datenkultur dasjenige sein, was digitale Wissenschaft von anderen – zum Beispiel kommerziellen und journalistischen – Formen digitaler Datenverwendung unterscheidet.
Die international anerkannten FAIR-Prinzipen, denen zufolge Daten findbar, zugänglich, interoperabel und nachnutzbar sein müssen, sind in dieser Richtung ein wichtiger, aber kein zureichender Orientierungspunkt. Streng genommen sorgt FAIR für Prozessierbarkeit und damit für intensive Datennutzung, überlässt die Qualitätsfrage aber der Nutzerin und dem Nutzer. Natürlich gibt es nicht "die" guten und "die" schlechten Daten – sondern Daten sind qualitätsvoll in Relation zu der Forschungsfrage, die sie beantworten sollen. Eben darum aber müssen Fachgemeinschaften und Infrastrukturen sich gemeinsam kümmern – auch und gerade in Fragen der Qualifizierung des wissenschaftlichen und wissenschaftsunterstützenden Nachwuchses.
Letztlich muss die Ausgestaltung der NFDI nicht nur die Kommunikation und die Partizipationsfähigkeit innerhalb von Forschercommunities stärken, sie muss auch Anstöße für neue Qualitätsdiskussionen geben. Traditionelle Qualitätsdebatten gilt es, in digitale Kontexte hinein zu übersetzen. Auch hierbei hängt alles von der Agilität der Fachgemeinschaften ab. Die NFDI fordert Handlungsfähigkeit. Wo diese Voraussetzung fehlt, ist es Zeit, dass die Communities sich bewegen.
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