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Europa mit begrenztem Horizont

Kleinkrämerische Haushaltsverhandlungen um "Horizon Europe": Das Bild, das die Europäische Union bietet, die schon seit zehn Jahren Wissenschaftsregion Nummer 1 auf der Welt sein wollte, ist erbärmlich.

Das EU-Parlament in Straßburg. Foto: Pxhere.

ES GAB DA MAL diese ehrgeizige Strategie, die alle EU-Regierungschefs kurz nach der Jahrtausendwende in Lissabon beschlossen hatten. Die Europäische Union solle bis 2010 zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt" werden. Das Mittel der Wahl unter anderem: massive Investitionen in Forschung und Entwicklung. Zehn Jahre später kam das nächste Programm, "Europa 2020" hieß es; neu konnte man es nicht wirklich nennen, denn es wiederholte im Wesentlichen die gewaltigen Worte aus Lissabon – setzte den Ambitionen aber mit 2020 ein anderes Zieldatum.

 

Jetzt hat die EU auch dieses neue Zieldatum längst eingeholt, und das Bild, das die Union bietet, die schon seit zehn Jahren Wissenschaftsregion Nummer 1 auf der Welt sein wollte, ist erbärmlich. Das Forschungsrahmenprogramm "Horizon Europe", das von 2021 an gelten soll, haben die Regierungschefs gegenüber den Forderungen von EU-Parlament (120 Milliarden) und EU-Kommission (94,1 Milliarden) in einer Art und Weise zusammengestaucht, die selbst in normalen Zeiten schwer erträglich wäre. Angesichts des nach Corona nötigen wirtschaftlichen Wiederaufbaus, der ganz sicher nur über die Investitionen in Köpfe gelingen wird, ist der Geiz fahrlässig, ja gefährlich.

 

Klar: Mit Großbritannien fehlt ein wichtiger EU-Nettozahler. Dennoch kann man das Argument, die 80,9 Milliarden, die die Regierungschefs "Horizon Europe" gönnen wollen, seien ja immer noch deutlich mehr als die – das Vereinigte Königreich herausgerechnet – 67 Milliarden Euro des Vorläuferprogramms "Horizon 2020", bestenfalls als spitzfindig bezeichnen. Zumal fünf der knapp 81 Milliarden gar nicht aus dem regulären Budget stammen sollen, sondern aus dem Corona-Aufbauprogramm.

 

Protestbewegung für die Galerie,
Forschungsministerin fürs Geschichtsbuch

 

Dass in Deutschland eine breite Protestbewegung entstanden ist, dass von der Hochschulrektorenkonferenz über sämtliche Landesregierungen bis hin zu den Chefs der großen Forschungsorganisationen Max Planck, Helmholtz & Co alle lautstark ihre Einwände, Warnungen und Appelle präsentiert haben, ist aller Ehren wert, aber doch mehr für die Galerie.

 

Fürs Geschichtsbuch ist hingegen, mit welcher Selbstverständlichkeit Anja Karliczek (CDU) die Kürzungen akzeptiert hat, ja das EU-Parlament schon Anfang September aufforderte, den Plänen der Regierungschefs zuzustimmen, weil sonst das Programm möglicherweise nicht mehr rechtzeitig verabschiedet werden könne. Wer, wenn nicht die Forschungsministerin eines der reichsten EU-Mitgliedstaaten, müsste und könnte – noch dazu während der laufenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft – die lange überfällige Debatte über Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Innovationspolitik anstoßen?

 

Das Flaggschiff der EU-Wissenschaftspolitik
trifft es mit am stärksten

 

Stattdessen kleinkrämerisches Geschiebe selbst zwischen den EU-Forschungsministern, und ausgerechnet das Flaggschiff der EU-Wissenschaftspolitik und eines der wenigen Symbole einer dynamischen EU insgesamt, der Europäische Forschungsrat ERC, trifft es mit am stärksten. Da tröstet wenig, dass jetzt wenigstens das ebenfalls renommierte Marie-Skłodowska-Curie-Programm für den Nachwuchsforscher-Austausch doch noch 200 Millionen Euro mehr bekommen soll als bis vor kurzem geplant.

 

Das europäische Parlament stemmt sich zwar gegen den Haushaltsplan, aber das Verlangen gerade der stärker von Corona getroffenen Mitgliedsstaaten, bald an das EU-Geld zu kommen, ist groß – und der Druck auf die Parlamentarier einzulenken damit auch. 

 

Fest steht: Solange die EU einen Großteil ihrer Ressourcen in die Struktur- und Agrarpolitik steckt, solange die Mitgliedsstaaten nicht in der Lage sind, zugunsten von Wissenschaft und Forschung zu priorisieren, kann sich der Staatenbund jedes beliebige Zieldatum setzen. Solange wird die Europäische Union auch 2030, 2040 oder 2050 innovationspolitisch den USA, Südkorea oder China hinterherhinken.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.

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Kommentare: 3
  • #1

    Fred Feuerholz (Mittwoch, 07 Oktober 2020 09:46)

    Wer erwartet denn von dieser Frau Ministerin noch eine führende Rolle? Vermutlich wird sie aber trotz der Leistungen auf ganzer Linie dennoch die Wahlperiode überstehen.

  • #2

    AS (Mittwoch, 07 Oktober 2020)

    Volle Zustimmung. Es ist nicht nachzuvollziehen, wie kleinkrämerisch mit den Ressourcen Wissen und Innovation in der EU umgegangen wird. Dies demonstriert leider mit Nachdruck, welchen geringen Stellenwert die Zukunft gegenüber den Nöten der Gegenwart in der EU besitzt. Frau Karliczek hinterlässt leider keinen guten Eindruck. Ihr Rat angesichts von Kürzungen "noch effizienter" in der Forschung vorzugehen und "Synergien zu nutzen" wirkt hilflos und wie aus dem Phrasenbuch für Berater abgeschrieben.

  • #3

    Laubeiter (Donnerstag, 08 Oktober 2020 16:11)

    Die EU kann nicht allein die Forschung in den EU-Ländern tragen, das müssen auch die Länder tun. In welchen EU-Ländern steigen denn die nationalen Forschungsbudgets? Mit CH, UK und IS sitzen drei Nicht-EU Länder mit Spitzenforschung und Teilnahme an EU-Programmen nicht am Tisch, wenn die EU über die Forschungs-Budgets entscheidet. Ich find es seltsam, wenn Ex-Kommissar Moedas beklagt, es werde gekürzt.