Die Lehrkräftebildung ist ein Lackmustest für den Bildungsföderalismus. Ein Gastbeitrag von Mark Rackles.
Foto: Pixabay.
WER IN DIESEN HERBSTLICHEN TAGEN des Bildungs-föderalismus in den 16 Schulgesetzen blättert und die föderale Vielfalt in ihren diversen Zielsetzungen, Grundsätzen und Bildungsaufträgen bestaunt, wird im hessischen Schulgesetz auf einen bundesweiten Solitär stoßen: in § 3 Nr. 16 findet sich als Grundsatz der einzigartige Satz: "Auf die Einheit des deutschen Schulwesens ist Bedacht zu nehmen".
Der Streit um eben diese "Einheit des deutschen Schulwesens" wurde mit der Entscheidung zum Bildungsföderalismus offenbar in die bildungspolitische DNA der jungen Bundesrepublik fest eingeschrieben. Bereits vor exakt 55 Jahren veröffentlichte Ralf Dahrendorf seine berühmte Artikelfolge in der ZEIT (im Anschluss dann als Buch "Bildung als Bürgerrecht"), in der er unter anderem die Frage nach einem "Bundes-Kulturminister" stellte und die Notwendigkeit einer "Aktiven Bildungspolitik" und einer Bildungsplanung betonte.
Bildungsföderalismus
unter Druck
Mehrere Jahrzehnte und viele Grundsatzdebatten später scheinen wir in einer politischen Dauerschleife gefangen, in der sich die Länder regelmäßig der eindeutigen öffentlichen Meinung nach mehr Zentralisierung im Bildungsbereich (zuletzt ifo-Bildungsbarometer im September 2020) ausgesetzt sehen. Der Druck hat in den vergangenen Jahren eher zugenommen, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dies mit der damals von den Ländern gefeierten Föderalismusreform I (2006) zusammenhängt. Das Kooperationsverbot in Bildungsfragen war eine Abkehr vom kooperativen Föderalismus mit fatalen Folgen für die Bildung.
Mark Rackles, 54, ist Politologe und Betriebswirt und war von 2011 bis April 2019 Staatssekretär für Bildung in Berlin. Außerdem war er bis 2018 acht Jahre lang stellvertretender Vorsitzender der Berliner SPD. Foto: privat.
Es gehörte zu den eher unterhaltsamen Momenten meiner Zeit in der KMK, als wir Ländervertreter uns gemeinsam mit dem Bund den Kopf zerbrechen mussten, wie wir trotz des Kooperationsverbots politisch sinnvolle Projekte wie zuletzt den Digitalpakt aufsetzen konnten. Der eigentliche Schaden – und darum soll es hier gehen – besteht jedoch darin, dass die Länder im Bildungsbereich die länderübergreifende Perspektive verloren haben und es keine eingeübte Praxis der verbindlichen Kooperation gibt.
Beispiel Lehrkräftebildung
Das lässt sich beispielhaft am chronischen Lehrkräftedefizit in Deutschland veranschaulichen. Ich
habe aktuell eine Studie unter dem Titel "Lehrkräftebildung 2021 – Wege aus der föderalen Sachgasse" veröffentlicht, die anhand harter Zahlen belegt, dass wir in Deutschland kein temporäres oder regionales Problem in der Lehrkräfteversorgung haben. Wir haben ein strukturelles Problem, das alle Länder (alle, auch Bayern und Baden-Württemberg!) betrifft.
Seit 20 Jahren übersteigt der Bedarf das Angebot an Lehrkräften um bis zu 40 Prozent. Sowohl 2018 als auch 2019 lag der Einstellungsbedarf des deutschen Schulsystems um ein Viertel über den vorhandenen Ausbildungskapazitäten in den Ländern. Die Situation der Lehrkräftebildung ist sowohl in der ersten Phase (an den Hochschulen) als auch der zweiten Phase (im staatlichen Vorbereitungsdienst) defizitär. Es wird weder bedarfsdeckend (der Höhe nach) noch bedarfsgerecht (bezogen auf Schularten bzw. Fächer) ausgebildet. Meine (gut belegbare) These lautet: Eine Bedarfsplanung und Steuerung finden effektiv nicht statt.
Natürlich wird jetzt jedes Land mehr oder weniger glaubwürdig sagen können, dass es plant und steuert. Genau hier liegt jedoch das Kernproblem: Das System ist nicht bedarfsdeckend, weil 16 unabgestimmte Länderlogiken keine bundesweite Bedarfsdeckung generieren können. Der eigentliche – und gravierende – Strukturfehler der Lehrkräftebildung besteht auf Seiten der Länder bzw. der KMK in der fehlenden Anerkennung, dass es sich beim größten Arbeitsmarkt des öffentlichen Dienstes auch auf der Angebotsseite (Ausbildung) um einen bundesweiten Markt handelt. Die zwingend notwendige bundesweite Planung, Abstimmung oder gar Steuerung sind jedoch nicht vorhanden. Das System der Lehrkräftebildung folgt auf der Ausbildungsseite den länderspezifischen Einzellogiken (nochmals gebrochen um die Vielzahl weiterer Logiken auf Ebene der Hochschulen) und ist damit in sich inkonsistent.
Ein überkomplexes und
defizitäres Ausbildungssystem...
Es verwundert dann wenig, dass sich über die Jahre hinweg ein kaum überschaubares Dickicht entwickelt hat: 16 Länder leisten sich 49 verschiedene Abschlussprüfungen mit Lehramtsbezug an über 120 ausbildenden Hochschulen. In Deutschland führen aktuell 4.745 verschiedene Studiengänge zum Lehramt. Ein immer komplizierteres System, das zudem ein ungutes Paradox aufweist: Es beginnen zwar mehr junge Menschen ein Lehramtsstudium als vor zehn Jahren, es schließen aber deutlich weniger mit einem Lehramtsabschluss ab!
...auch
im Süden
Nur zur Bekräftigung in Richtung Süden: Diese Defizitbeschreibung betrifft alle Länder. Zwar hat Baden-Württemberg 2019 als einziges Land (ganz knapp, aber immerhin) bedarfsdeckend ausgebildet, gleichzeitig gehört es aber zu den vier Ländern, die zwischen 2011 und 2019 Lehramts-Studienplätze gegen den Trend abgebaut haben. Die Zahl der Absolvent*innen im Vorbereitungsdienst ging zwischen 2011 und 2019 ebenfalls deutlich zurück. Betrachtet man die Zahl der Absolvent*innen im Vorbereitungsdienst und den realen Einstellungsbedarf (der über 10 Jahre gemittelt bei 4,5 Prozent des Personalbestands liegt), dann ist das Ländle ebenso defizitär wie 14 andere Bundesländer und lediglich das oft gescholtene Bremen erfüllt hier seine Hausaufgaben. Nicht alle Länder haben das gleiche Defizit, aber alle Länder haben ein Defizit in der Lehrkräftebildung.
Handlungsbedarf auf Seiten
der KMK und der Länder
Es wäre ein erheblicher Fortschritt für die Lehrkräftebildung, wenn Länder und KMK festhalten könnten, dass man sich mit Blick auf die dokumentierten Zahlen der Absolvent*innen sowohl der Höhe als auch der Verteilung nach in einer Sackgasse befindet, aus der man nur gemeinsam herauskommt. Ein solcher Minimalkonsens wäre ein notwendiger Ausgangspunkt für weitergehende Überlegungen, welche Strukturprobleme man mit welchen Mitteln angeht.
Ich war selbst jahrelang Mitglied der Amtschefkommission und weiß nur zu gut, wie schwierig es ist, substantielle Grundsatzdebatten innerhalb der KMK zu führen; gemeinsam mit Ländern wie Hamburg gab es vereinzelte, eher erfolglose Versuche. Zudem ist man als Länderakteur selbst im System gefangen und gerade im Bildungsbereich auf eine Art im Tagesgeschäft der Schulpraxis gebunden, die schlicht kaum Raum – geschweige denn Zeit – für konzeptionelle Überlegungen lässt.
Daher formuliere ich im zweiten Teil der Studie 17 konkrete Handlungsempfehlungen, die sich vornehmlich an die Verantwortlichen in den Ländern richten und die Debatte verkürzen und auf bestimmte Aspekte konzentrieren. Um die Komplexität des Problems und der Lösungsansätze zu reduzieren, können die Handlungsempfehlungen auf vier Forderungen verdichtet werden:
1. Eigenbedarf ausbilden
Jedes Land muss sich zu der eigentlichen Selbstverständlichkeit verpflichten, dass es selbst mindestens in Höhe des Eigenbedarfs ausbildet und sich dabei an zwei Kennzahlen orientiert: Die absolute Untergrenze der Ausbildung liegt bei 2,9 Prozent des Personalkörpers aller Lehrkräfte im Land und entspricht dem reinen Ersatz altersbedingter Abgänge. Die eigentliche Ausbildungsquote sollte aber bei 4,5 Prozent des Personalbestands liegen (dies entspricht dem Einstellungsbedarf im 10-Jahresdurchschnitt aller Länder). Damit bildet man seriös den Mehrbedarf an pädagogischen Verbesserungen und Schwankungen in den Schüler*innenzahlen ab.
2. Länderübergreifend agieren
Alle Länder müssen sich einer länderübergreifenden Prognostik und Kapazitätsplanung verpflichten. Die für die Erfassung und Steuerung der Lehrkräftebildung benötigten Daten müssen künftig durch die Länder nach einheitlichen Kriterien, Parametern und Methoden jährlich erhoben werden. Die KMK muss auf Basis der geprüften Ländermeldungen eine mit der HRK abgestimmte bundesweite Kapazitätsplanung erstellen, die vor Veröffentlichung systematisch einer dritten Instanz (Beirat) zur Stellungnahme vorzulegen ist.
3. Finanzausgleich regeln
Zur Absicherung der länderübergreifenden Kapazitätsplanung wird ein Finanzausgleich zwischen den Ländern vereinbart. Analog zu den bestehenden sogenannten Gastschüler*innen-Abkommen sollten die Länder Verwaltungsabkommen schließen, mit denen die pauschalisierten Ausbildungskosten für ein Lehramtsstudium in den Fällen ausgeglichen wird, in denen die Absolvent*innen außerhalb des Sitzlandes der Hochschule den Vorbereitungsdienst abschließen und von einem anderen Bundesland übernommen werden.
4. Staatsvertrag abschließen
Der bislang fehlende länderübergreifende Handlungsrahmen in der Lehrkräftebildung muss ein Mindestmaß an verbindlichen Strukturvorgaben und Standards setzen. Inhaltlich sind hier gemeinsame Mindeststandards bezüglich der Prognostik, der Kapazitätsplanung und der Bedarfsdeckung (verbindliche Zielzahlen) notwendig. In der Praxis haben sich Ländervereinbarungen oder reine KMK-Empfehlungen als Selbstverpflichtung nicht bewährt, wie etwa die nicht eingehaltenen "Gemeinsamen Leitlinien der Länder zur Deckung des Lehrkräftebedarfs" aus 2009 bezeugen.
Notwendige Verbindlichkeit
nur mit Staatsvertrag
Damit rückt die Forderung nach einem Staatsvertrag der Länder in den Vordergrund der Überlegungen. Nur diese Form der Vereinbarung hat den notwendigen Grad an Verbindlichkeit, der für alle weiteren Folgeregelungen nötig ist. Eine einfache Ländervereinbarung wäre nur die mutlose Fortschreibung der bisherigen Praxis unverbindlicher Rhetorik. Zudem ist der Prozess eines Staatsvertrags auch immer ein parlamentarischer Prozess, dessen Ergebnis eine hohe Legitimation und Verbindlichkeit aufweist. „Zu hohe Hürde!“, mögen Einzelne denken. Diesen Zauderern sei aber in Erinnerung gerufen, dass die Länder schon viele Staatsverträge geschlossen haben; auch zu hürdenreichen Themen wie etwa dem „Studienakkreditierungsvertrag“. Zudem krankt manche KMK-Debatte am Image des ‚Closed Shop’; Bildung lebt vom Diskurs, Bildungspolitik vom parlamentarischen Diskurs. Mehr Verbindlichkeit und Kooperation in diesem speziellen Feld der Bildungspolitik und Bildungspraxis sind mindestens so folgenreich für die Qualität im Klassenraum wie die so gerne diskutierte Verständigung über Abituraufgaben. Wer Qualität in der Lehrkräftebildung sagt, muss länderübergreifend denken und handeln.
Handlungs- und Haltungsproblem
statt Kompetenzdefizit
Ursächlich für die defizitäre Lehrkräfteversorgung in Deutschland ist kein Kompetenzproblem zwischen Bund und Ländern in der Bildung. Wir haben ein Strukturproblem innerhalb der eindeutig zuständigen Ländergemeinschaft. Jede Auseinandersetzung um einen Nationalen Bildungsrat mit dem Bund lenkt von der Verpflichtung der Ländergemeinschaft ab, genau dieser Zuständigkeit (also ihrer alleinigen Verantwortung) nachzukommen. Wir brauchen keine "nationale" oder "zentrale" Abstimmung, sondern eine länderübergreifende Abstimmung in der Lehrkräftebildung.
Auch in Zukunft gilt: Bildung ist Ländersache, nicht Landessache. Zwischen dem bayerischen "Mia san Mia" auf der einen Seite und der Dahrendorfschen Vision eines Bundes-Kulturministeriums bzw. dem aktuellen Ruf nach Zentralisierung gibt es die Handlungsebene des kooperativen Bildungsföderalismus. Als Ralf Dahrendorf vor 55 Jahren eine aktive Bildungspolitik einforderte, da hatte er die länderübergreifende Kooperation im Sinn. Diese ist heute gerade im Hinblick auf die Deckung des Lehrkräftebedarfs notwendiger denn je.
Die KMK wird Mitte Oktober die Chance haben und zeigen können, ob sie zumindest im Bereich der Lehrkräftebildung einen – verbindlichen – Schritt weiterkommt. Eventuell sollte der hessische Kultusminister Alexander Lorz die anstehende Debatte um einen Länderstaatsvertrag mit Paragraph 3, Absatz 16 seines Schulgesetzes einleiten: "Auf die Einheit des deutschen Schulwesens ist Bedacht zu nehmen". Es wäre dem Schulwesen, den Lehrkräften und Schüler*innen zu wünschen.
Kommentar schreiben
Lehrerkind (Donnerstag, 08 Oktober 2020 17:25)
Ganz herzlichen Dank für diesen Beitrag und die hier dargelegten Ideen!
Gerade die Brechung der Ausbildungslogiken auf der Ebene der Hochschulen und dort nochmals auf der Ebene einzelner Fächer führt dazu, dass das Desideratum einer bedarfsgerechten Ausbildung von Lehrkräften weit hinter andere Desiderata zurückfällt, wie z.B. den Erhalt von Studiengängen (in Fächern mit geringer Auslastung durch Nicht-Lehramtsstudierende) oder den Erhalt eines wie auch immer definierten "hohen" wissenschaftlichen Standards der Ausbildung (in Fächern mit hoher Auslastung durch Nicht-Lehramtsstudierende). Nicht umsonst sind z.B. die Quereinsteiger-Optionen in Baden-Württemberg inzwischen begrenzt auf die Fachbereiche Physik und Informatik. Wenn Lehramtsstudierende nur Verschiebemasse sind in den Untiefen des Kapazitätsrechts, kann es mit der bedarfsgerechten Ausbildung von Lehrkräften nichts werden.