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Und nun?

Die Zahl der gemeldeten Corona-Neuinfektionen ist auf das höchste Tagesniveau seit Beginn der Pandemie gestiegen. Was bedeutet das? Der Versuch einer Einordnung.

DIE TÄGLICHEN CORONA-ZAHLEN haben am Donnerstag mit 6638 gemeldeten Neuinfektionen den höchsten Stand seit Beginn der Pandemie erreicht, berichtet das Robert-Koch-Institut – höher noch als zu Beginn des Lockdowns. In dem Zusammenhang sind drei ergänzende Einordnungen nötig.

 

Erstens: Die aktuellen Zahlen sind wegen der weitaus höheren Testraten nicht vergleichbar mit dem Frühjahr. Das ifo geht davon aus, dass die täglichen Corona-Infektionen im März/April um 10.000 höher gelegen hätten, wäre damals schon so viel getestet worden wie heute. Dieser atemlose Alarmismus, der sich in den Medien schon wieder abzeichnet, ist insofern wenig hilfreich – erst recht nicht, wenn es darum geht, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Allerdings bedeutet die mangelnde Vergleichbarkeit mit den Frühjahrszahlen keine Entwarnung.

 

Denn zweitens: Der Blick auf praktisch alle Nachbarstaaten Deutschlands zeigt, dass ohne vergleichbare Lockdowns wie im Frühjahr die Zahlen schnell auf noch ganz andere Höhen steigen werden. Die exponentielle Entwicklung hebt ab, wenn die Gesundheitsbehörden mit der Nachverfolgung nicht mehr hinterherkommen. In Deutschland ist dies offenbar gerade jetzt der Fall. Insofern sind auch Warnungen, es dürfe auf keinen Fall mehr als 20.000 Neuinfektionen am Tag geben, ein wenig blauäugig. Sie werden vermutlich schon bald kommen. 

 

Drittens: Die entscheidende Frage ist, wie die Gesellschaft damit umgeht, wenn dann absehbar auch die Zahlen der schwer Erkrankten und gestorbenen Covid-19-Infizierten wieder kräftig steigen. Auf relativ niedrigem Niveau tun sie es ja längst, mit – bei den Krankenhauseinweisungen – Wachstumsraten von 40, 50 Prozent im Vergleich zur Vorwoche. Noch auf niedrigem Gesamtniveau (1005 in der vergangenen Kalenderwoche) wie gesagt, aber das Bedenkliche ist bei exponentiellen Wachstum immer die Dynamik. Derzeit heißt die politische Devise noch: Wir wollen keinen zweiten Shutdown, weil dessen wirtschaftliche und soziale Konsequenzen enorm wären. Aber kippt irgendwann die gesellschaftliche Stimmung? Wird die Politik sich dann noch dagegen stemmen? Wer kann wirklich sagen, was für die nächsten Wochen die richtige Strategie ist? Augen zu und durch? Wenn ja, bis zu welchem Punkt?

 

Ganz sicher sind die am Mittwoch von den Ministerpräsidenten vereinbarten verschärften Corona-Maßnahmen eher ein Zeichen dafür, dass sie noch nicht verstanden haben, dass sie jetzt – vielleicht – noch eine letzte Chance haben, um die wirklich harten Schnitte herumzukommen. Ganz sicher aber nicht, indem sie jetzt mit Gastronomie-Sperrstunden am späten Abend, einer erweiterten Maskenpflicht oder Zahlenbeschränkungen für private Feiern hantieren. Auch Kanzlerin Merkel zeigte sich unzufrieden und mahnte ihre Länderkollegen, da müsse mehr kommen. 

 

Genauso ist es: Wenn die Ministerpräsidenten es wirklich ernst damit meinen, die Wirtschaft und vor allem Bildungseinrichtungen aufhalten zu wollen, dann müssen sie dringend nachlegen.


Nachtrag am 15. Oktober, 13.15 Uhr:

 

Leopoldina reagiert auf Länderbeschlüsse und warnt

 

Jetzt hat sich auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina kritisch zu den gestern von den Ministerpräsidenten getroffenen Corona-Entscheidungen geäußert. Diese seien nicht ausreichend, um das Infektionsgeschehen zu kontrollieren und einzudämmen.

 

In den meisten europäischen Nachbarländern sei das Infektionsgeschehen bereits außer Kontrolle geraten, auch in Deutschland seien viele Infektionsketten in Hotspots schon jetzt nicht mehr nachzuverfolgen. "In den kommenden Tagen und Wochen kann die Eindämmung der Pandemie nur noch dann gelingen, wenn die Bundesländer verpflichtende und einheitliche Schutzmaßnahmen vereinbaren und durchsetzen. Sie müssen bereits ab 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen verpflichtend gelten und nicht nur als Empfehlung formuliert sein", sagte Leopoldina-Präsident Gerald Haug.

 

Das föderale System in Deutschland habe sich in der Pandemie bisher als belastbar und in mancher Hinsicht als vorteilhaft erwiesen. In der jetzt flächendeckend eskalierenden Situation gelte es jedoch, "nachvollziehbar und koordiniert zu handeln, um Gefahren für die Allgemeinheit abzuwenden und einen neuen Lockdown zu verhindern". Auch wenn sich das Infektionsgeschehen in manchen Bundesländern bisher geringer als in bestimmten Risikogebieten darstelle , sei es notwendig, einheitliche Regeln einzuführen, die auf bundesweit gültigen Grenzwerten basierten. Nur so werde das Vertrauen in die politischen Entscheidungen und die Einsicht in die Notwendigkeit der Maßnahmen gestärkt.

 

Die Bereitschaft der Bevölkerung, die Maßnahmen mitzutragen, sei laut aktueller Umfragen nach wie vor hoch. Alle Regeln müssten einheitlich und überall bekannt sein sowie verständlich und transparent kommuniziert werden. Die Leopoldina warnt: "Wenn die Politik angesichts absehbar exponentiell steigender Infektionszahlen nicht vorausschauend handelt, werden das öffentliche Leben und die Wirtschaft stärker eingeschränkt werden, als es notwendig gewesen wäre. Zudem werden die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen sinken, wird das Gesundheitssystem überlastet und werden individuelle Freiheitsrechte noch stärker eingeschränkt."

 

Notwendig seien vor allem korrekt über Mund und Nase getragene Masken, regelmäßiges Lüften, Vermeiden von Menschenansammlungen und lautem Sprechen. Diese Schutzmaßnahmen müssten im gesamten öffentlichen Raum einschließlich Arbeitsstätten und Bildungseinrichtungen gelten. Zudem verwies die Leopoldina auf weitere in ihrer sechsten Ad-hoc-Stellungnahme zur Coronavirus-Pandemie empfohlene Maßnahmen.

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