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Bequemes Unwissen

In der Grundschule läuft die Integration von Geflüchteten fast von allein, heißt es häufig. Das täuscht. Ein Gastbeitrag von Anant Agarwala.

Foto: Andrew Ebrahim, Unsplash.

ALS 2015 HUNDERTTAUSENDE geflüchtete Kinder und Jugendliche Deutschland erreichten, dauerte es nicht lange, bis auch der letzte entfernt involvierte Politiker die Phrase von "Bildung als Schlüssel zur Integration" zum Besten gegeben hatte. Von konkreten Ideen, wie genau das gelingen solle, hörte man dann allerdings wenig. Nur so viel schien klar: Ob Deutschland und die Flüchtlinge "das" schafften, würde vor allem davon abhängen, ob die Schulen das schafften. Besonders die vielen eingewanderten Jugendlichen galten als Herausforderung: Ihnen blieben nur wenige Jahre, um Deutsch zu lernen, Stoff nachzuholen und Prüfungen zu bestehen. Und das bei häufig kaum vorhandener Schulbildung. 

 

Eine Faustformel, die man aus vielen Schulen über ihre Integrationserfahrungen hört, lautet deshalb: Je jünger die Schülerinnen und Schüler sind, wenn sie in einer deutschen Schule ankommen, desto besser klappt es. Aus der Politik hört man bis heute häufig, dass es in der Grundschule mit dem Spracherwerb quasi 


Anant Agarwala, geboren 1986, ist Redakteur bei der ZEIT (momentan in Elternzeit). Er hat in Hamburg und Münster Germanistik und Kommunikationswissenschaften studiert und die Deutsche Journalistenschule in München besucht. Foto: Stephanie Füssenich.


wie von selbst laufe. Schließlich müssten auch einheimische Kinder erst noch das Alphabet, bildungssprachliche Wendungen und Fachbegriffe lernen. Beste Aussichten auf Integration also. Es klingt plausibel: Je jünger ein geflüchtetes Kind ist, wenn es an eine deutsche Schule kommt, desto mehr Jahre bleiben ihm, um die Sprachnachteile wettzumachen. Und desto schwammartiger arbeitet das Gehirn, es saugt Eindrücke aus der Umwelt einfach so auf, lernt spielerisch, nicht systematisch, begreift nachahmend, nicht paukend.

 

Erste Befunde zum Erfolg geflüchteter Schülerinnen und Schüler scheinen zu bestätigen: Die Jüngeren haben bessere Aussichten. Eine Untersuchung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zeigt, dass mit jedem zusätzlichen Lebensjahr bei der Einreise in Deutschland die Wahrscheinlichkeit abnimmt, mindestens auf einer 


Realschule zu landen. In Zahlen ausgedrückt: Die Chancen, auf eine Realschule oder ein Gymnasium zu kommen, liegen für eine Geflüchtete, die mit acht Jahren nach Deutschland eingereist ist, um knapp 15 Prozentpunkte höher als für eine, die erst mit 14 angekommen ist. 

 

Also alles entspannt bei den
Kleinen, 
ein Selbstläufer gar?

 

Diese Annahme ist so falsch wie fatal. Das dürfte niemanden überraschen, der sich für die Erkenntnisse der Bildungsforschung der vergangenen zwanzig Jahre interessiert hat und die immer wieder gezeigt haben: Nicht nur hinken Kinder aus bildungsfernen und/oder sozioökonomisch benachteiligten Familien (zu denen überproportional viele Einwandererfamilien gehören) dem Rest im Schnitt schon zu Schulbeginn hinterher, meist schafft es Schule nicht, ihre Nachteile mit den Jahren auszugleichen – sie verstärken sich sogar noch. Bereits zum Ende der Grundschule liegen viele Kinder mit Migrationsgeschichte ein ganzes Schuljahr hinter dem Durchschnitt, etwa was die Leseleistungen angeht. Was auch dann gilt, wenn die Kinder in Deutschland geboren wurden. Bei Flüchtlingen müsste man nun erwarten, dass sie ganz besonders von Startnachteilen betroffen sind, bedeutet Fluchtmigration doch meistens, Beruf und Einkommen sowie einen Teil seiner kulturellen Identität zu verlieren. Weitere wichtige Faktoren, wie das Wohnen auf sehr engem Raum, häufige Umzüge, ständige Unsicherheit wegen unklarer Bleibeperspektiven oder der Umstand, grausame Erlebnisse ohne therapeutische Begleitung verarbeiten zu müssen, kommen bei einigen erschwerend hinzu. 

 

Volle Kanne
Förderung also?

 

Man sollte meinen, das wäre die logische Konsequenz. Doch stattdessen scheint man sich auf politischer Ebene vielerorts schlicht darauf zu verlassen, dass es schon irgendwie hinhaue. Einer Auswertung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge bekommt nicht einmal die Hälfte aller geflüchteter Grundschulkinder überhaupt Sprachförderung. Und bei vielen von denen, die Förderung bekommen, beschränkt sich diese auf zwei, drei Stunden die Woche. Ein Skandal, wenn man bedenkt, dass nichts wichtiger für den Unterrichtserfolg ist, als gut Deutsch zu verstehen, zu sprechen, zu lesen und zu schreiben. Gerade in den Anfangsjahren an der Förderung zu sparen, dann also, wenn der Spracherwerb leichter fällt und die Abstände zu den Mitschülerinnen und Mitschülern noch überschaubar sind, ist symptomatisch für die Kurzsichtigkeit, die der deutschen Bildungspolitik in Sachen Integration immer wieder (und oft zu Recht) vorgeworfen wird.

 

In den Grundschulen führt das häufig zu großer Unsicherheit unter den Lehrkräften. Wie unterrichte ich ein Kind, das mich nicht richtig versteht, und wie benote ich es? Wie fördere ich starke Schülerinnen, während ich mich um andere kümmern muss, denen der Grundwortschatz fehlt? Welche weiterführende Schule soll ich empfehlen, wenn das Kind zwar klug und auffassungsschnell ist, das Nachbargymnasium aber keinerlei Sprachförderung vorsieht? Was nicht bedeutet, dass man von denselben Lehrern, die zugeben, im Integrationsexperiment häufig an ihre Grenzen zu stoßen, nicht auch von jenen Fällen hört, bei denen schnelle, große Sprünge gelingen, es in der zweiten, dritten oder auch erst vierten Klasse plötzlich Klick macht und es auf einmal tatsächlich fast wie von selbst läuft. 

 

Es sind übrigens diese anekdotischen Belege aus Schulen, auf die man sich in den meisten Bundesländern verlassen muss, wenn es um die Erfolge und Misserfolge der schulischen Integration von Flüchtlingen geht. Statistisches Wissen erheben die Bildungsministerien allerhöchstens rudimentär, (fast) niemand weiß, auf welche Schulformen geflüchtete Schülerinnen und Schüler nach der Grundschule wechseln oder welche Abschlüsse sie bislang erreicht haben. Wissenschaftliche Studien, etwa vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe oder dem BAMF, bieten bislang zwar erste spannende, aber doch noch nur punktuelle Einblicke.

 

Es ist ein bequemes Unwissen, in dem man sich bildungspolitisch eingerichtet hat. Denn solange man nicht überprüfbar und statistisch quantifizierbar weiß, wie es wirklich läuft, lässt sich kaum etwas beanstanden. Diese Gelassenheit, die man auch Nachlässigkeit nennen könnte, schadet letztlich allen: den Schülerinnen, den Lehrern und der Gesellschaft. Denn es stimmt ja: Die Hoffnung auf eine gelungene Integration – für die eine gute Schulbildung zentral erscheint – ist bei den Kleinen besonders groß. Umso tragischer wäre es, wenn man in einer Mischung aus Laissez-faire und Ignoranz nicht alles dafür täte, dass sie sich erfüllt.

 

Dieser Beitrag basiert auf dem Grundschulkapitel aus Anant Agarwalas Buch "Das Integrationsexperiment", das im September im Dudenverlag erschienen ist und in dem er eine bildungspolitische Bilanz fünf Jahre nach der Ankunft vieler Flüchtlinge an deutschen Schulen zieht. 

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