Die meisten Wissenschaftler bekommen kaum mit, dass die großen Wissenschaftsverlage die ganze Zeit ihre Daten abgreifen. Warum diese Ignoranz gefährlich ist und was Elsevier & Co mit all dem Tracking bezwecken wollen: ein Interview mit Björn Brembs und Renke Siems.
Herr Siems, Herr Brembs, Sie sorgen sich um die Freiheit und Integrität der Wissenschaft. Und alles wegen ein paar Cookies, die Wissenschaftsverlage setzen?
Siems: Wir reden nicht von ein paar Cookies, sondern über ein gefährliches Nichtwissen. Dass frei zugängliche Webseiten wie Spiegel Online oder Süddeutsche.de das Verhalten ihrer Nutzer verfolgen, weil sich über ihre Demografie und die Zahl ihrer Klicks der Anzeigenpreis bestimmt, ist den meisten Leuten klar. Was die meisten Wissenschaftler nicht wissen oder vielleicht unterschätzen: dass wissenschaftliche Verlage seit langem genauso vorgehen. Obwohl sie sich gar nicht über Anzeigen finanzieren, sondern ihr Angebot nur über ein Login und eine hohe Preisschranke zu erreichen ist.
Warum ist das ein Problem?
Siems: Erst dank der Recherchen des amerikanischen Bibliothekars Cody Hanson und anderer kam überhaupt heraus, dass die Web-Plattformen der großen Wissenschaftsverlage ganz ähnliche Tracking-Systeme einsetzen wie freie Websites. Doch haben wir es im Gegensatz zu nichtwissenschaftlichen Angeboten nicht nur mit einem Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung zu tun, sondern zusätzlich mit einer Gefährdung der grundrechtlich garantierten Freiheit von Forschung und Lehre. Schon jetzt werden, wie Sie wissen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für ihre Arbeit in vielen Ländern angegriffen. Auch in Europa kommt es vor, dass eine Universität außer Landes geschickt wird. Wenn Sie Wissenschaftler unter Druck setzen wollen, geht das natürlich noch umso besser, wenn Sie wissen, womit sie sich beschäftigen, was sie lesen, kurzum: wenn Sie ihr Informationsverhalten kennen.
Wissen die Nutzer wissenschaftlicher Websites überhaupt, dass sie getrackt werden?
Siems: Natürlich tauchen mittlerweile auch auf den Plattformen der wissenschaftlichen Verlage Cookie-Banner auf, so wie es in anderen Bereichen auch die Datenschutz-Grundverordnung nötig machte. Aber ich glaube, den meisten Leuten ist trotzdem nicht bewusst, dass wenn sie zum Beispiel im Bibliothekskatalog nach einem Buch suchen und dann auf dem Link zu einem eBook klicken, dass sie ab dann beobachtet werden. Die klicken den Banner weg, wie sie das von anderer Webseiten gewohnt sind, und denken: Eine Online-Plattform, die ich über die Unibibliothek erreiche, wird schon okay sein.
Renke Siems ist Fachreferent für Sozialwissenschaften und Abteilungsleiter für Benutzung an der Universitätsbibliothek Tübingen. Foto: privat.
Björn Brembs ist Professor für Neurogenetik an der Universität Regensburg und setzt sich seit 2007 für die Modernisierung der digitalen Infrastruktur in der Wissenschaft ein. Foto: privat.
Auch wenn Wissenschaftsverlage sich nicht wie freie Webseiten ihre Klickzahlen direkt monetarisieren müssen: Können sie nicht trotzdem ein berechtigtes Interesse haben, die Nutzerdaten zu erheben?
Brembs: Ich kann mir kein Szenario vorstellen, in dem wissenschaftliche Großverlage, die über Gewinnmargen von 30, 40 Prozent verfügen, in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten würden, weil ihnen das Nutzer-Tracking untersagt wäre. Ich möchte an der Stelle gern zwei Aspekte unterscheiden. Erstens: Welche Gründe die Verlage für das Tracking vorschützen. Und zweitens: Warum sie es wirklich tun.
Welche Gründe schützen sie vor?
Brembs: Wenn sie Verlagsvertreter fragen, werden die Ihnen antworten: Wir verbreiten lizensierten Inhalt, und diese lizensierten Inhalte müssen wir schützen – genauso wie wir unsere Nutzer vor nicht lizensierten Inhalten schützen müssen. Diese Argumentation passt auch wunderbar zu den Bestrebungen der Verlage, nicht mehr allein den IP-Zugriff zu tracken, also den Ort der Nutzung, sondern jeden Nutzer einzeln, also personalisiert. Am liebsten wollen sie dabei auch noch den Bibliotheken, über die der Login läuft, die ganze Nutzerkontrolle abnehmen – also alle Informationen bei sich konzentrieren.
Wie stichhaltig sind diese Argumente?
Brembs: Überhaupt nicht stichhaltig. Die meisten Zugänge zu den Plattformen laufen über Campus-Lizenzen oder Lizenzen für ganze wissenschaftliche Institutionen, in wenigen Fällen mal über einzelne Lehrstühle. Immer aber geht es um eine Mehr- oder Vielzahl von Nutzern bei jedem Nutzervertrag, und es gibt überhaupt keinen Grund, an der Stelle personalisiertes Informationsverhalten zu verfolgen. Um lizensierte Inhalte zu schützen, reicht es für den Verlag zu wissen, ob sich eine berechtigte Person einloggt.
"Wenn die das durchsetzen, dann hätten wir in der Wissenschaft ein Monopol, das dem von Facebook, Microsoft und SAP in einer Firma entsprechen würde."
Warum also betreiben die Verlage wirklich das Tracking?
Brembs: Es geht um ein einträgliches Geschäft. Die Pressesprecher großer wissenschaftlicher Verlage räumen das ja selbst ein, wenn sie vom Trend der Branche weg vom Handel mit Inhalten und hin zum Handel mit Daten reden. Und wenn man sich anschaut, welche Unternehmen die großen Verlage in den vergangenen Jahren dazugekauft haben, ob Elsevier, Springer Nature oder Wiley, dann passt das zu der Strategie, künftig Dienstleistungen anzubieten, die den gesamten Workflow von Wissenschaftlern abdecken. Von der Artikelrecherche über das Sammeln und Aufarbeiten von Daten bis hin zum teamübergreifenden Schreiben an einem gemeinsamen Paper: Das Ziel ist, ein auf den einzelnen Wissenschaftler oder seine Institution genau zugeschnittenes Paket an Inhalten und Anwendungen zu verkaufen. Elsevier ist in der Hinsicht am weitesten. Wenn die das durchsetzen, dann hätten wir in der Wissenschaft ein Monopol, das dem von Facebook, Microsoft und SAP in einer Firma entsprechen würde.
Glauben Sie, dass es so kommt?
Brembs: In den Niederlanden jedenfalls ist es Elsevier gelungen, im Gegenzug für Open Acess die Weitergabe der Nutzerdaten vertraglich zu verankern. Womit Elsevier jetzt die Möglichkeit hat, genau diese Gesamtpakete anzubieten, die ich eben beschrieben habe. Und wenn die Universitäten darauf eingehen und ein Elsevier-Produkt nach dem anderen zubuchen, dann bringen sie sich selbst in eine Situation, in der sie irgendwann so sehr an einen Verlag gebunden sind, dass sie da gar nicht wieder herauskommen.
Eine geschickte Strategie, die man meinetwegen auch ärgerlich finden kann. Aber warum soll daraus gleich eine Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit folgen? Ist das nicht zumindest im deutschen Kontext ziemlich an den Haaren herbeigezogen?
Siems: Ganz und gar nicht. Schauen Sie doch mal, wer die Nutzerdaten tatsächlich erhebt. Das machen die wissenschaftlichen Verlage nicht selbst, sondern wie Spiegel Online auch nutzen sie dafür die Technik externer Unternehmen. Mit dem Ergebnis, dass es im Wissenschaftsbereich mittlerweile das gleiche Potpourri aus Trackern und sogenannten AudienceTools gibt wie im freien Netz auch. Die erhobenen Daten fließen zu irgendwelchen Drittunternehmen – an wen, kann am Ende kaum noch einer sagen. Genauso wenig weiß man, wie diese Unternehmen die Nutzerdaten aus unterschiedlichen Zusammenhängen zusammenführen und dann weiterverkaufen. Man weiß nur, dass das vielfach passiert – genau wie im freien Netz auch. Und was meinen Sie, wer sich dann möglicherweise unter den Käufern solcher Datenpakete findet? Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel aus China.
"Um da einen Aufstand vom Zaun zu brechen,
muss man schon älter und verbeamtet sein."
Bitte.
Siems: Viele große Wissenschaftsverlage sind mit einem zensierten Programm auch auf dem chinesischen Markt unterwegs. Durch das personalisierte Tracking von Nutzerdaten ist dann unmittelbar klar, welcher Wissenschaftler sich mit welchen Publikationen beschäftigt, die in China nicht wohlgelitten sind. Die entscheidende Frage lautet dann: Bekommen die chinesischen Behörden diese Daten? Kaufen sie sich die Daten ein, oder lassen sie sich die Daten auf anderen Wegen von den entsprechenden Spezialisten holen? Ob das bereits passiert, kann keiner sagen. Aber möglich wäre es.
Wie können sich Wissenschaftler zur Wehr setzen gegen das Tracking?
Brembs: Ich fürchte, als einzelner Wissenschaftler hat man nicht allzu viele Möglichkeiten. Gerade als junger Autor will man es sich auf keinen Fall mit den Verlagen verscherzen, weil man unbedingt publizieren will. Um da einen Aufstand vom Zaun zu brechen, muss man schon etwas älter und quasi verbeamtet sein. Was natürlich alle gefahrlos machen können: sich genau die Banner anschauen und alle Cookies bis auf die technisch notwendigen abwählen. Bei Springer Nature zum Beispiel, einem der Verlage, die richtig viel tracken, kann das schon eine Weile in Anspruch nehmen. Dabei kann es dann passieren, dass man dann bei jedem Login aufs Neue sämtliche Cookie-Abfragen präsentiert bekommt, vielleicht weil Nature den Cookie, der abspeichert, welche Cookies man gewählt hat, so platziert hat, dass er nicht zu den "notwendigen" gehört. Schließlich kann man ja immer nur grobe Klassen von Cookies an- oder abwählen.
"Auf keinen Fall darf es soweit kommen, dass
Elsevier & Co die Forschungseinrichtungen einmauern."
Und was können Universitäten und Forschungseinrichtungen tun?
Brembs: All die Dinge, die sie seit zehn oder 15 Jahren nicht tun, die jetzt aber über die ersten Entwürfe des von der EU geplanten Digital Services Act hoffentlich alle zum Thema gemacht werden. Ich habe vorhin das Beispiel eines drohenden Maximal-Monopols beschrieben. Deshalb müssen die Institutionen darauf bestehen, dass sie die Hoheit über ihre Daten behalten. Das betrifft die Ablehnung des Nutzer-Trackings durch die Verlage genauso wie das Bestehen auf offenen Standards bei allen von den Verlagen angebotenen Anwendungen und Dienstleistungen entlang des wissenschaftlichen Workflows. Auf keinen Fall darf es soweit kommen, dass Elsevier & Co die Forschungseinrichtungen über ihre Gesamtpakete einmauern, die Wissenschaftler dann ihre ganze Arbeit und Daten ein und demselben Verlag anvertrauen und irgendwann nicht mehr zu einem anderen Anbieter wechseln können. Da hätten wir es mit einem datenschutzrechtlichen Problem zu tun, aber auch mit einem kartellrechtlichen.
Siems: Es laufen ja immer in vielen Ländern Verhandlungen mit den Wissenschaftverlagen, in Deutschland beispielsweise im Rahmen des DEAL-Projekts. Und all das, was die Konsortien dort anstreben, nämlich den elektronischen Zugang zu Büchern, Zeitschriften und wissenschaftlichen Datenbanken, gibt es schon viel länger als die jetzt eingesetzten Tracking-Technologien. Was zeigt, es geht auch ohne. Und genau darauf müssen die Verhandlungskonsortien bestehen. Für das bloße Zählen von Zugriffen auf einzelne Publikationen reichen datenschutzgerechte Piwiks.
Die nur messen, dass etwas geklickt wird, aber nicht von wem?
Siems: Genauso ist es. Man kann zählen, ohne den Nutzern hinterherzuspionieren. Es gibt kein legitimes Interesse der Verlage am Tracking. Deshalb sollten die Konsortien auch die bereits bestehenden Verlage evaluieren, ob sie den Datenschutz ausreichend gewährleisten – und Defizite spätestens bei der Neuauflage abstellen. So ein Dammbruch wie in den Niederlanden darf auf keinen Fall noch einmal passieren. Ich weiß gar nicht, wie die niederländischen Kollegen so etwas unterschreiben konnten. Das erinnert an die Browserkriege der 90er Jahre, als Microsoft mit seinem Explorer Netscape aus dem Markt drängte. Im Augenblick gibt es bei den Forschungsinformationssystemen noch einen funktionierenden Markt. Aber nicht mehr, wenn wir Elsevier und andere ihre Monopolsierungsstrategie durchziehen lassen. Dann haben die Plattformen gewonnen, und verloren haben nicht nur die enteigneten Wissenschaftler, sondern auch die Universitäten und Forschungsförderer. Denn dann bestimmen nicht mehr sie, was relevante Forschung ist und welche Forschung überhaupt zählt, sondern allein die Plattformen über ihre Rankings und bibliometrischen Bewertungen. Soweit darf es auf keinen Fall kommen.
Wie optimistisch sind Sie, dass Ihre Warnungen gehört werden?
Siems: In den Bibliotheken ist das Bewusstsein für die Problematik momentan noch uneinheitlich, das Thema geistert zwar umher, aber es gibt auch Ratlosigkeit, wie man hier mit den Verlagen umgehen soll. In Gremien der DFG scheinen die Gefahren des Trackings dagegen mittlerweile sehr präsent zu sein, was sicher auch Auswirkungen auf kommende Verhandlungen haben wird. Das ist gut so.
Brembs: Ich bin da weniger optimistisch. Das Niveau den öffentlichen Diskussion, die wir heute in Deutschland über digitale Infrastrukturen für die Wissenschaft führen, entspricht in etwa dem Stand, den wir 2012 hatten. Wenn wir diese Debatten nicht schleunigst in die Gegenwart befördern, werden wir 2028 darüber diskutieren, was wir tun können, um unsere fehlende Reaktion im Jahr 2020 wiedergutzumachen.
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