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Das zu Erwartende kommunizieren

Nach den Corona-Beschlüssen gestern bleiben viele Fragen offen. Und einige unbequeme Wahrheiten gehören auch angesprochen. Ein Ausblick auf die nächsten Wochen und Monate.

Illustration: Mohamed Hassan / pixabay.

DIE REGIERUNGSCHEFS haben Wort gehalten. Kitas und Schulen sollen im gestern beschlossenen erneuten Shutdown offenbleiben. Das ist konsequent und zeigt, wie ich bereits schrieb, den Lernprozess, den die Politik durchgemacht hat. Zumal die seit etwa zehn Tagen zurückgehenden Corona-Zahlen in Irland nahelegen, dass ein Shutdown mit offenen Kitas und Schulen offenbar funktionieren kann.

 

Ansonsten aber bleiben nach den Beschlüssen viele Fragen, die nicht nur gestellt, sondern auch sehr bald beantwortet werden müssen. Und einige unbequeme Wahrheiten gehören auch ausgesprochen.

 

In zwei Wochen wollen sich Merkel und die Ministerpräsidenten erneut virtuell treffen, um die Wirkung der bisherigen Maßnahmen zu evaluieren. Das erscheint erstaunlich früh, da doch der "Wellenbrecher"-Shutdown erst am Montag beginnt und die beim Robert-Koch-Institut (RKI) eingehenden Meldezahlen immer erst das Infektionsgeschehen von vor einer guten Woche wiedergeben.

 

Selbst für den Fall, dass die Maßnahmen unmittelbar greifen würden, wäre also in – ab gestern – zwei Wochen noch nicht viel zu sehen. Und selbst zwei Wochen nach Start des Shutdowns, also Mitte November, wäre es schon ein Erfolg, wenn die Entwicklung bei den Neuinfektionen gerade anfinge, in eine Seitwärtsbewegung überzugehen. 

 

Der Zugzwang, die Maßnahmen zu verlängern,
wird schon Mitte des Monats groß sein

 

Soviel steht heute schon fest, und es wäre gut gewesen, wenn die Regierungschefs dies gestern Abend deutlicher gesagt hätten. Wenn sie das zu Erwartende kommuniziert hätten: Wir werden noch mindestens eine, möglicherweise zwei Wochen lang exponentiell steigende Zahlen bei den Neuinfektionen erleben. Mit anderen Worten: Hält das gegenwärtige Tempo an, liegt Deutschland in zwei Wochen bei mindestens 30.000, eher aber 40.000 neuen Fällen am Tag – zur Mitte des Shutdowns. 

 

Da die Politik aber als Ziel ausgeben hat, die Dynamik mithilfe des Wellenbrechers unter 6000 Neuinfektionen am Tag (=50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in einer Woche) zu senken, wird der Zugzwang, die Maßnahmen zu verlängern, schon Mitte des Monats groß sein. Obwohl die dann herrschende Situation schon heute absehbar ist und noch wenig mit der möglichen Wirkung der beschlossenen Maßnahmen zu tun haben wird. Hätten die Regierungschefs da nicht rhetorisch vorarbeiten müssen, indem sie gestern die Bevölkerung auf die zunächst noch deutlich weiter steigenden Zahlen (auch der auf den Intensivstationen behandelten und verstorbenen Patienten) vorbereitet hätten? In jedem Fall müssen sie es dringend nachholen – und tun es zum Teil ja auch schon.

 

Absehbar ist übrigens auch, dass das Ziel, auf unter 6000 Neuinfektionen pro Tag zu kommen, bis Ende des Monats kaum erreichbar sein wird. Die Frage ist, ob die Politik die Kraft hat, in Erwartung der nachlaufenden Wirkung des Shutdowns diesen auch bei noch höheren Zahlen wieder zu beenden, oder ob die Verlängerung oder sogar Verschärfung der eigentlich so nachdrücklich begrenzten Maßnahmen dann faktisch unvermeidbar sein wird. Rutscht Deutschland so doch als nächstes in den kompletten Shutdown?

 

Und es stellen sich noch grundsätzlichere Fragen: Ist das Ziel von 6000 Neuinfektionen am Tag eigentlich niedrig genug angesetzt? Ist bei dieser Höhe nicht das Ziel, dass die Gesundheitsämter die Kontakte von Neuinfizierten wieder umfassend nachverfolgen können, noch kaum zu erreichen? Lag der Kipppunkt beim dramatischen Anstieg der vergangenen Wochen nicht deutlich niedriger, wenn man sich anschaut, an welcher Stelle das Wachstum abhob? Eher so bei 3000? Ist das womöglich in etwa die Zahl an Neuinfektionen, ab der die Kontrolle verloren geht?

 

Selbst wenn der Wellenbrecher wirkt, wie wollen
Bund und Länder eigentlich den Erfolg absichern? 

 

Und selbst wenn die Kontrolle über die Pandemie wieder erreicht würde: Was genau beinhaltet der Plan von Bund und Ländern, diese Kontrolle aufrechtzuerhalten? Die Wissenschaftsorganisationen haben in ihrem Appell sehr deutlich gemacht: "Auch nach den akuten Maßnahmen müssten den ganzen Winter über konsequente Schutz- und Verhaltensregeln gelten und auch kontrolliert werden." Aber wie?

 

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat gestern betont, es werde keine Dauerschleife immer neuer Shutdowns geben. Aber wie und warum nicht, das hat er nicht erklärt.

 

Womit wir beim ebenfalls gestern präsentierten Vorstoß von Kassenärztlicher Vereinigung (KVB) und den Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit angekommen wären, der zurzeit ebenfalls heiß diskutiert wird. Einen Lockdown lehnen sie in ihrem von zahlreichen Berufsverbänden unterstützten Positionspapier als nicht zielführend ab. Stattdessen sei eine langfristige Strategie wichtig, denn selbst im Dezember 2021 werde das Virus noch nicht weg sein. "Wir werden noch Jahre lang mit dem Virus umgehen müssen", sagte Hendrik Streeck, der an der Universität Bonn forscht und lehrt. "Wir müssen uns auf einen Marathon vorbereiten." Dazu gehöre die Fokussierung auf den Schutz der Risikogruppen als die jetzt wichtigste Maßnahme, eine Orientierung ausschließlich am Ziel der Kontaktnachverfolgung sei nicht sinnvoll.

 

Die Unterzeichner des Papiers fordern stattdessen ein bundesweit einheitliches Ampelsystem, das "alle relevanten Kennzahlen" berücksichtigen solle "wie Infektionszahlen, Anzahl der durchgeführten Tests, stationäre und intensivmedizinische Behandlungskapazitäten". Statt Verboten müssten bei den Verhaltensregeln der Bevölkerung Gebote im Vordergrund stehen.

 

Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach kritisierte die Vorschläge. "Es ist gefährliche Illusion, wir könnten durch Schutz der Risikogruppen und Appelle die Situation beherrschen", schrieb er auf Twitter. "Appelle machen wir seit Wochen ohne Wirkung. Risikogruppen machen 40 Prozent der Bevölkerung aus. Schade, aber ich bin sicher die Bevölkerung versteht das." Streeck hielt ebenfalls auf Twitter dagegen: "Ich höre von Ihnen leider keine Appelle, geschweige denn konstruktive Vorschläge. Sagen Sie uns doch mal  – ganz konkret – wie kommen wir Ihrer Meinung nach durch die nächsten Jahre? Nicht nur die nächsten Wochen?"

 

Das ist tatsächlich die alles entscheidende Frage. Nur dass es eigentlich kein Widerspruch zwischen dem jetzt beschlossenen "Wellenbrecher"-Shutdown und der Notwendigkeit der von Streeck & Co geforderten langfristigen Strategie bestehen muss. Denn in der Tat ist klar: Einen Shutdown nach dem anderen kann und darf es nicht geben. Ein solches Hin und Her wäre sozial genauso verheerend wie ökonomisch. Insofern ist es eine Verpflichtung der Politik, die kommenden vier Wochen zu nutzen, um die langfristige Strategie zu schärfen, mit der die Gesellschaft durch den Winter und durchs nächste Jahr kommen soll. Ohne eine Shutdown-Dauerschleife. Unter Abwägung der Risiken wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Einschränkungen gegen die einzugehenden gesundheitlichen Risiken. Aber auch ohne die unverhältnismäßige Gefährdung der Risikogruppen.

 

Es ist genau dieselbe Verpflichtung, die die Politik bereits nach dem ersten Lockdown im Frühjahr hätte erfüllen müssen. Hier eine pragmatische, durchhaltbare und auch ethisch vertretbare Strategie zu finden, ist die eigentlich schwierige Aufgabe für die nächsten Monate, weil keiner genau sagen kann, wie sie aussehen sollte. Dagegen ist das Beschließen und Durchhalten eines für viele Menschen und Betriebe so dramatischen "Wellenbrecher"-Shutdowns fast noch einfach.

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Kommentare: 1
  • #1

    Olaf Bartz (Sonntag, 01 November 2020 10:55)

    Ich denke, dass die entscheidende Weichenstellung, will man Langfristplanungen betreiben, in der noch nicht beantwortbaren Frage liegt, ob zeitnah ein brauchbarer Impfstoff vorliegen wird.
    Streeck scheint mir hier eher pessimistisch zu sein, gespeist aus seiner HIV-Impfstoff-Erfahrung, und scheint auf Basis eines no-vaccine-Szenarios zu argumentieren.
    Bund und Länder scheinen mir eher darauf zu hoffen (so wie ich auch :-), dass wenigstens eines der drei weit in Phase III fortgeschrittenen Projekte (Biontech/Pfizer, Oxford/AstraZeneca, Moderna; China/Russland ausgeklammert) es noch in 2020 über die Ziellinie schafft.
    Auch wenn im letzteren Fall natürlich flächendeckende Impfungen viele Monate in Anspruch nehmen werden, ist das "mindset" dann ein ganz anderes, denn es geht um das Durchhalten mit Aussicht auf einen (temporären angesichts der unbekannten Immunitätsdauer, aber das macht erst einmal nichts) Endpunkt.
    Scheitern hingegen die drei genannten Projekte, müssen wir das no-vaccine-Szenario beschreiten, das ganz anders aussähe.
    Der aktuelle Wasserstand ist der, dass es im November Aussagen zur Zulassungsfähigkeit (Wirksamkeit, Verträglichkeit) der Impfstoffvorhaben geben könnte. Keine Aussage wäre dabei auch eine Aussage.
    Vor diesem Hintergrund erscheint mir das "Wellenbrechen"-Unterfangen im November plausibel - und die Langfristentscheidungen könnten Richtung Monatsende auf Basis einer Impfstoff-(Nicht-)Perspektive gefällt werden.