· 

Was heißt hier "erheblich"?

Die neuen bundespolitischen Initiativen zur Eindämmung der Corona-Pandemie offenbaren gravierende argumentative Inkonsistenzen, wenn es um die Bildungseinrichtungen geht. Eine Analyse.

Foto: picjumbo_com / Pixabay.

DIE BESCHLUSSVORLAGE AUS DEM BUNDESKANZLERAMT zur Verschärfung der bestehenden Anti-Corona-Maßnahmen ist am Montag bei den Ländern durchgefallen. Da wesentliche Passagen davon allerdings schon bei der nächsten Videoschalte der Regierungschefs kommende Woche erneut eine Rolle spielen könnten, lohnt der Blick auf die im Papier verwendeten Argumentationsmuster.

 

Da heißt es an der wohl zentralsten Stelle, der zu den Schulen: "Bund und Länder haben am 28. Oktober* beschlossen, trotz des dynamischen Infektionsgeschehens Schulen und Betreuungseinrichtungen nicht zu schließen."  Verlässliche Betreuung diene der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Bildung sei essenziell für die Zukunftschancen der jungen Generation. "Deshalb genießt die Offenhaltung von Einrichtungen in diesem Bereich eine politische Priorität."

 

Wieso steht denn
da "dennoch"?

 

Soweit zunächst. Auffällig ist, dass Betreuung noch vor Bildung genannt wird. Was einer leider verbreiteten Geringschätzung vor allem von Kitas entspricht, die von Teilen der Politik und der Öffentlichkeit immer noch nicht vorrangig als Bildungseinrichtungen anerkannt und auch nicht entsprechend ausgestattet werden. Zudem leistet die Formulierung jenen Kritikern Vorschub, die meinen, Bildungseinrichtungen würden vor allem "für die Wirtschaft" offengehalten.

 

Ebenso spannend vom Wording her ist, dass offene Kitas und Schulen "eine politische Priorität" seien. Es ist nicht lange her, da sprachen auch Bundespolitiker noch von der Priorität in der Corona-Pandemie (neben dem Offenhalten der Wirtschaft). Zumal die Formulierung, die Bildungseinrichtungen kämen in den Genuss dieser Priorität, impliziert, für die Beachtung grundlegender Bildungs- und Teilhaberechte durch den  Staat müssten die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien irgendwie dankbar sein.  

 

All dies, so wichtig es ist, aber nur am Rande. So richtig interessant wird der Text der Beschlussvorlage im folgenden Satz. Er lautet: "Dennoch ist festzustellen, dass jedenfalls Jugendliche über 12 Jahren ein mit Erwachsenen vergleichbares Infektions- und Übertragungsrisiko haben, während es erste, aber noch keine gesicherten wissenschaftlichen Hinweise darauf gibt, dass Kinder unterhalb dieses Alters im Infektionsgeschehen keine Infektionstreiber sind."

 

Die Offenhalten-Entscheidung fiel im
Bewusstsein des höheren Risikos

 

Wieso "dennoch"? Wie kann denn die Offenhalten-Entscheidung vom 28. Oktober, die eine politische und keine epidemiologische war und noch dazu einer über Monate versprochenen gesellschaftlichen Prioritätensetzung folgte, durch die Beschreibung eines wissenschaftlichen Kenntnisstandes, der schon vor dem 28. Oktober so war, im Nachhinein in Frage gestellt werden? Wie kann sich dann daraus die Forderung nach einer Halbierung der Lerngruppen und Klassen und damit nach dem Einstieg in den teilweisen Distanzunterricht ableiten?

 

Die Entscheidung am 28. Oktober war ja gerade in der Kenntnis der wissenschaftlichen Evidenz und der Pandemierisiken, die damit einhergehen, getroffen worden. Und es war schon damals klar, dass das Offenhalten der Bildungseinrichtungen die Wirkung des Teil-Shutdowns (wie stark auch immer) verlangsamen würde. Ebenfalls war schon am 28. Oktober absehbar, dass die gemeldeten Neuinfektionen unter Kindern und Jugendlichen, wenn die sonstigen Eindämmungsmaßnahmen greifen, langsamer zurückgehen würden als bei anderen Altersgruppen. Nicht überraschend, sondern als Teil der politischen Prioritätensetzung in Kauf genommen.

 

Für neue Erkenntnisse, für verlässliche Aussagen zum Erfolg oder Scheitern des Shutdowns war es am Montag ohnehin noch zu früh, wie die Ministerpräsidenten der Kanzlerin zu Recht entgegenhielten.

 

Anders wird es nächste Woche Mittwoch sein. Sollte der Rückgang der gesamtgesellschaftlichen Infektionszahlen ausbleiben oder sollten – wonach es derzeit nicht aussieht – die registrierten Neuinfektionen unter Jugendlichen den übrigen bis dahin davongallopiert sein, dann wäre es gerechtfertigt, auf der Grundlage einer argumentativ besseren Begründung über einen Hybrid-Unterricht für ältere Schüler zu entscheiden.

 

Allerdings nur, wenn der beschworenen Priorität folgend parallel weitere Maßnahmen getroffen würden, um die gesamtgesellschaftlichen Infektionszahlen möglichst schnell zu senken und die Schulen möglichst schnell wieder voll öffnen zu können. Schließungen im Einzelhandel – hier wiederhole ich mich – wären eine Möglichkeit. Die Aussetzung von Gottesdiensten eine andere.

 

Die Begründung des neuen Gesetzes 
behauptet eine Evidenz, die es nicht gibt

 

Bleiben wir noch ein wenig bei den argumentativen Widersprüchlichkeiten vor allem in der Bundespolitik. Gestern haben Bundestag und Bundesrat das "Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite" verabschiedet. Viel ist darüber diskutiert und gestritten worden. Dabei ist die Intention, die Corona-Maßnahmen vom Parlament beschließen zu lassen, nicht nur ehrenwert, sondern demokratietheoretisch gesehen ohne Alternative.

 

Allerdings: Während in der gescheiterten Vorlage aus dem Kanzleramt noch der unzureichenden Studienlage ("erste, aber noch keine gesicherten wissenschaftlichen Hinweise") bei der Rolle jüngerer Kinder im Pandemiegeschehen Rechnung gezollt wurde, stellte die Begründung zum Gesetzentwurf fest: "Die Beschränkung oder auch die Untersagung des Betriebs von Gemeinschaftseinrichtungen (=Schulen, Kitas, Horts) trägt dazu bei, das Infektionsrisiko erheblich zu reduzieren und dient damit zugleich der Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus."

 

Wo ist für diese pauschalisierende Aussage die evidenzbasierte Grundlage? Wo sind die entsprechenden wissenschaftlichen Studien dazu, die für Schulen in Deutschland eine solche eindeutige Aussage stützen? Und eindeutig (siehe auch das Adverb "erheblich) muss sie sein, weil sich sonst wiederum nicht die erhebliche Beeinträchtigung des "Bildungsauftrags" rechtfertigen ließe. Für Kitas übrigens belegt die Corona-KiTa-Studie bislang das Potenzial einer solchen erheblichen Eindämmung genau nicht.

 

Und so, wie das Infektionsgeschehen unter jüngeren Kindern nicht vollständig erforscht ist (aber es eben, wie das Kanzleramt feststellt, immer mehr Belege für ihre geringe Bedeutung in der Pandemie gibt), so ist auch das Wissen über die Rolle von Schulen in Deutschland als Orte der Virusverbreitung größtenteils ungesichert. Einerseits warnt das Robert-Koch-Institut, dass die Corona-Fälle an Schulen deutlich zunehmen. In Österreich wiederum kam eine Corona-Gurgelstudie im Auftrag des Bundesbildungsministeriums zu dem Ergebnis, dass von 10.000 Schulkindern zwischen sechs und 14 Jahren 40 positiv getestet wurden – und dass es bei den Ansteckungsraten keine signifikanten Unterschiede zwischen den jüngeren und älteren Kindern oder den mitgetesteten Lehrern gab. Allerdings fielen die Zahlen an den Schulen insgesamt relativ niedrig aus.

 

So wie überhaupt die Menge der bekannten Ausbrüche (also mindestens zwei zusammenhängende Fälle) an Schulen im Vergleich zu anderen Lebensbereichen eher gering zu sein scheint. Passend dazu berichtete die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) erst neulich, laut Landesuntersuchungsamt seien seit Ende der Sommerferien bis zum 6. November an den Schulen im Bundesland keine maßgeblichen Übertragungsraten festzustellen gewesen. So hätten die 131 in Rheinland-Pfalz gemeldeten Corona-positiven Kinder und Jugendlichen nur 22 der ermittelten 4063 direkten Kontaktpersonen der Kategorie 1 angesteckt, also 0,54 Prozent. Bei Haushaltskontakten gehe man hingegen von einer Ansteckungsrate von knapp 19 Prozent aus. 

 

Insofern: Viele offene Fragen bleiben. Schwierig, wenn dann die Bundespolitik zur Rechtfertigung potenziell schwerwiegender Eingriffe in die Rechte von Kindern und Jugendlichen wissenschaftliche mal besser, mal schlechter belegte Vermutungen als gesicherte Tatsachen darstellt. Und damit zugleich die politische Priorität, die ja im Sommer ja gerade nicht in Zusammenhang mit der epidemiologischen "Treiber"-Frage gebracht wurde, aufzuwiegen versucht.

 

Woraus folgt: Sollte das Thema Hybridunterricht nächste Woche Mittwoch wieder auf den Tisch kommen, müsste im diesbezüglichen Bund-Länder-Beschluss deutlich zwingender argumentiert werden – was umso unmöglicher erschiene, wenn bis dahin die Corona-Zahlen insgesamt zurückgehen sollten.

 

Warum gibt es noch immer kein

repräsentatives Bevölkerungsscreening?

 

Was die ganze Debatte über die Rolle von Kindern und Jugendlichen so ärgerlich macht: Die Politik und Wissenschaft hätten sie vermeiden können. Es könnten längst mehr gesicherte Erkenntnisse vorliegen, die entweder mehr Sicherheit in den Alltag vor allem von Kitas und Grundschulen gebracht hätten – oder aber eben mehr Sicherheit, dass sich Teil-Schließungen von Schulen wirklich durch ihre enorme – also nachgewiesen erhebliche – Bedeutung für die Eindämmung des Virus begründen ließen.

 

Es ist geschlagene sieben Monate her, als die Debatte zu Kita- und Schulschließungen schon einmal so hochkochte. Das war, als die Politik erste Lockerungen vom damaligen Shutdown in Aussicht stellte, Bildungseinrichtungen aber davon ausnehmen, ja, Kitas eventuell sogar gleich bis August zulassen wollte.

 

Damals schrieb ich: Wenn die Politik so vorgehen wolle, "wenn sie diese Maximalmaßnahme trotz der massiven sozialwissenschaftlichen Mahnungen irgendwie rechtfertigen will, dann müsste sie gleichzeitig mit größter Ungeduld von den Virologen Antworten verlangen – und ihren Teil dafür tun, dass sie schnell kommen. Ein repräsentatives, regelmäßig wiederholtes Bevölkerungsscreening mit einem Schwerpunkt auf Kita- und Grundschulkindern zum Beispiel. Doch wo sind die politischen Stimmen, die dies – parallel zur Ankündigung längerer Kitaschließungen – fordern oder versprechen?"

 

Ein Glück, dass es inzwischen zumindest die Corona-KiTa-Studie gibt. Doch auch sieben Monate später fehlt ein solches repräsentatives, regelmäßig wiederholtes Bevölkerungsscreening in Deutschland noch immer. In anderen Ländern wie Großbritannien dagegen existiert es längst.

 

Zwar befinden sich inzwischen auch hierzulande viele Screening-/Antikörper-Studien in Arbeit. Erste Ergebnisse kleinerer Untersuchungen liegen vor, doch nur regional und/oder nur für Teil-Populationen. Mehrere große Studien indes wurden unverständlicherweise überhaupt erst mit mehreren Monaten Verzögerung in Angriff genommen, bei anderen lassen die lange angekündigten Ergebnisse weiter auf sich warten – und kommen vermutlich erst, wenn der Corona-Winter schon (fast) vorbei ist.

 

Dabei ließe sich nur durch deutschlandweit repräsentative Studien aller Altersgruppen nach der gleichen Methode auch endlich etwas dazu sagen, ob die Dunkelziffer unerkannter Infektionen bei Kindern und Jugendlichen wirklich höher ist als bei Erwachsenen. Spekuliert wird darüber seit langem, auch von Wissenschaftlern (wie gerade erst gestern) – aber, genau wie die Behauptung einer generellen Untertestung von Kindern, immer auf der Grundlage unzureichender Daten. Auch die aktuell wichtige Frage, ob sich die Dunkelziffern durch die am 11. November geänderten Testkriterien verändern, ließe sich nur durch repräsentative Screenings klären. 

 

Wie erklärt sich dieses Versagen von Wissenschaft und Politik? Fehlte hier die viel beschworene politische Prioritätensetzung am Ende doch? Oder ist die Angst bei einigen der verantwortlichen Wissenschaftler, für etwaige methodische Fehler öffentlich kritisiert zu werden, so groß, dass sie dann lieber erstmal gar nichts veröffentlichen? Ist dies die letzte und bedrückendste Konsequenz des (woran der Urheber nun wahrlich nicht unschuldig war) öffentlichen Umgangs mit der Streeck-Studie aus dem Frühjahr? 

 

Wie auch immer: Ausgerechnet die Bundespolitik, die sich in der Corona-Krise so für die Evidenzbasierung ihrer Maßnahmen rühmt, sieht, sobald es um Schulen und Kitas geht, argumentativ schwach aus. Eine Mitverantwortung dafür trägt auch: die Wissenschaft.  

 

*korrigierte Fassung: Hier hatte ich fälschlicherweise "November" geschrieben, obwohl logischerweise in der Vorlage "Oktober" stand. Ich bitte um Entschuldigung.

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    René Krempkow (Freitag, 20 November 2020 18:28)

    Lieber Herr Wiarda, Ihrem letzten Satz möchte ich gern zur Einordnung (und als Ansatzpunkt für mögliche Maßnahmen) noch etwas hinzufügen:

    Die Forschungskapazitäten an den Hochschulen sind inzwischen in Deutschland in einem so erheblichen Maße von Drittmitteln abhängig (insbes. in den Lebenswissenschaften), dass es nicht leicht ist, aus Haushaltsmitteln kurzfristig große Studien auf die Beine zu stellen. So gaben in einer bundesweit repräsentativen Befragung 87% der Professor/innen und 84% der wiss. Mitarbeiter/innen in der Medizin Drittmitteleinnahmen als (sehr) wichtig für die Forschung ihrer Leistungseinheit an (www.researchgate.net/publication/303945901). Etwa genauso viele geben insgesamt an, ohne Drittmittel nicht mehr ihren Forschungsfragen nachgehen zu können.

    Es kann natürlich sein, dass Studien existieren, die aus Angst vor kritischer Diskussion noch nicht veröffentlicht sind, so etwas erfahren Sie dann sicherlich am ehesten. Aber das wäre dann m.E. nicht "die Wissenschaft", sondern eher eine Minderheit bzw. einzelne dafür verantwortliche Forschende. ;-)

    Ein Ansatzpunkt für mögliche Maßnahmen könnte deshalb sein, im Interesse der Mehrheit der Forschenden an den Hochschulen die (Finanzierungs-)Möglichkeiten themenoffener Forschung (wieder) zu verbessern. Vielleicht würde dies ja zugleich die Vielfalt der Forschung verbessern helfen und die Chancen mindern, dass einzelne Mächtige Forschungsergebnisse ohne Reputationsschaden zurückhalten können...?