Wie die ostdeutschen Wissenschaftsministerinnen Bettina Martin und Manja Schüle gemeinsam die Exzellenzstrategie reformieren wollen, was Ostdeutschlands Forschung für sie besonders macht – und an welchen Stellen sie ihre Bundeskollegin Anja Karliczek nicht verstehen können.
Frau Martin, Frau Schüle, wurden ostdeutsche Hochschulen in der Exzellenzstrategie benachteiligt?
Bettina Martin: Universitäten in den ostdeutschen Ländern außerhalb Berlins haben vier Exzellenzcluster eingeworben. Nimmt man die Zahl der Einwohner als Maßstab, hätten es sechs bis acht sein müssen. Es war aber nicht so, dass Ostdeutschland bei der Vergabeentscheidung unfair behandelt wurde. Das Problem liegt tiefer. So, wie dieser Wettbewerb konzipiert ist, war von Anfang an klar, dass ostdeutsche Universitäten sich schwerer tun mussten. Und nicht nur ostdeutsche Universitäten, sondern alle kleineren Universitäten abseits der wirtschaftsstarken Regionen.
Warum?
Manja Schüle: Weil an den meisten Orten die kritische Masse fehlt, wie die bisherigen Förderungen der Exzellenzcluster belegen. Um eine Chance zu haben, brauchen Sie aktuell mindestens 25 international angesehene Spitzenforscherinnen und Spitzenforscher an einem Ort – und das ist kaum darstellbar, wenn Ihre größte Universität gerade mal 22.000 Studierende hat und andere vielleicht nur 5.000 oder 6.000. Hinzu kommt, dass die großen westdeutschen Universitäten in ihrer Entwicklung Jahrzehnte voraus sind, während die ostdeutschen Hochschulen in den vergangenen 30 Jahren eine beachtliche Aufbauleistung gezeigt haben. Aber eben eine Aufbauleistung. Hinzu kommt die im Osten sehr kleinteilige Wirtschaftsstruktur, wir haben kaum große international forschende Unternehmen, die zusätzliche Forschungsstärke in die Region bringen.
Bettina Martin, 54, SPD,
Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern.
Manja Schüle, 44, SPD,
Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg.
Zieht die "Wir sind noch im Aufbau"-Karte 30 Jahre nach der Wiedervereinigung wirklich noch?
Schüle: Mir geht es hier gar nicht darum, eine Ostdebatte zu führen oder das Bild des armen, vor sich hin darbenden Ostens zu perpetuieren. Frau Martin ist West-Berlinerin, ich stamme aus der ehemaligen DDR, doch wir sind uns beide einig: Wir wollen für unsere Universitäten die gleichen Chancen, und die bekommen wir nur, wenn künftige Exzellenzwettbewerbe auf die Besonderheiten der unterschiedlichen Hochschulstandorte Rücksicht nehmen.
Indem sie keine wirklichen Exzellenzwettbewerbe mehr sind?
Martin: Von wegen! Wir wollen keine Abkehr von der Exzellenzidee oder vom Wettbewerb. Das politische Ziel, Forschungsschwerpunkte mit internationaler Strahlkraft auszubilden, um die besten internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anzuziehen, bleibt richtig. Aber wir wollen, dass dieser Wettbewerb die unterschiedlichen Ausgangspositionen berücksichtigt. Das fängt damit an, dass es nicht sein kann, dass einige Bundesländer mit vielen Exzellenzclustern jetzt darauf drängen, dass deren Förderung verstetigt wird – mit dem Ergebnis, dass die Zahl der im Wettbewerb befindlichen Cluster verkleinert wird.
Schüle: Außerdem brauchen wir eine Veränderung in den Wettbewerbs-Richtlinien. Es ist zwar schon heute so, dass die verlangte kritische Masse hervorragender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht zwangsläufig am selben Ort versammelt sein muss, aber faktisch läuft der Wettbewerb genauso. Mit dem Ergebnis, dass dieselbe Zahl exzellenter Wissenschaftler an einem großen Standort ihrer Universität einen Exzellenzerfolg beschert – wenn sie aber auf Potsdam, Rostock und Braunschweig verteilt ist, nicht zum Zug kommt.
Martin: Und noch ein praktisches Beispiel: Mecklenburg-Vorpommern als norddeutsches Land hat Forschungsstärken, die mit seiner geographischen Lage und auch seinen wissenschaftlichen Traditionen zusammenhängen. Nehmen Sie das Smart Farming, Erneuerbare Energien oder die Meeresforschung. In der Meeresforschung kooperieren unsere exzellenten Wissenschaftler international in den Ostseeraum hinein, das hilft ihnen nichts im Exzellenzwettbewerb, aber zur Spitzenforschung in Deutschland insgesamt leisten sie einen wichtigen Beitrag.
Schüle: In Brandenburg ist das bei der Klimapolitik so ähnlich. Da kommt keiner am Potsdamer Telegrafenberg vorbei. Oder die Bioökonomie, da sind wir ganz vorn mit dabei.
" Im Augenblick läuft die Exzellenzstrategie
allein nach dem Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird
immer mehr gegeben."
Ich verstehe nicht ganz. Das Neue an der Exzellenzstrategie ist doch genau, dass sie explizit hochschul- und standortübergreifende Verbundstrukturen erlaubt – bei Clustern und jetzt auch genauso bei ganzen Universitäten.
Schüle: Die Exzellenzstrategie erlaubt Verbundstrukturen, ja. Standorte können kooperieren, aber die hohen Kosten, die dadurch entstehen – die umso höher sind, je größer die zu überwindenden Entfernungen sind – finanziert der Wettbewerb nicht mit. Er setzt keine gesonderten Anreize zur Kooperation.
Martin: Deshalb fordern wir eine ergänzende Richtlinie in der nächsten Runde der Exzellenzstrategie, die solche überregionalen Verbünde, die sich mutig auf den Weg machen, finanziell beim Aufbau ihrer Zusammenarbeit unterstützt. Voraussetzung ist, dass die gemeinsam dieselbe Masse exzellenter Forscher zusammenbringen, die eine herausragende Clusteridee vereinen sollte.
Schüle: Im Augenblick läuft die Exzellenzstrategie allein nach dem Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird immer mehr gegeben. Ich würde mir wünschen, dass wir aus dem Matthäus-Effekt einen Zukunfts-Effekt machen.
Eine schöne Formulierung, aber das klingt alles doch mehr nach einer Aushebelung des Wettbewerbs durch Strukturförderung.
Schüle: Das stimmt nicht. Wir wollen keinen Sonderbonus Ost und keine Trostpflaster. Wenn es darum ginge, könnten wir einfach verlangen, dass die Anforderungen an künftige Exzellenzcluster, was die Qualität und Zahl der beteiligten Forscherinnen und Forscher angeht, gesenkt würden, und fertig wäre die Laube. Wir wollen aber Teil eines Wettbewerbs sein, zu dessen Fairness gehört, dass herausragende Wissenschaftler an der BTU Cottbus-Senftenberg oder der Viadrina dieselben Chancen haben wie ihre Kollegen zum Beispiel an den Berliner Universitäten. Weshalb sie dabei gefördert werden müssen, neue Zusammenschlüsse über die Grenzen von Institutionen und Regionen hinweg zu bilden. Wir haben im Osten weniger Einwohner, aber dafür viel Platz für neue Ideen.
Persönlich scheint mir das Problem der ostdeutschen Wissenschaftseinrichtungen weniger in ihrer Förderung zu bestehen, als in der Schwierigkeit, herausragende Wissenschaftlerpersönlichkeiten an Orte abseits der großen Metropolen zu locken.
Schüle: Das kann ich so nicht bestätigen. Wenn Sie die Zahl der außeruniversitären Forschungseinrichtungen nehmen, die wir in Brandenburg haben, so liegen wir bundesweit auf Platz sechs.
Ja, weil Sie von der Nähe zu Berlin profitieren!
Martin: Das habe ich auch gerade gedacht. In Mecklenburg-Vorpommern fiel es uns bisher in der Tat nicht so leicht, neue Institute anzusiedeln. Das ist eine meiner wichtigsten Baustellen gerade, und zum Glück kommen wir voran. In Rostock bauen wir zusammen mit Fraunhofer den Ocean Technology Campus auf mit einem Schwerpunkt auf der Künstlichen Intelligenz für maritime Anwendungen.
"Es gibt viele junge Wissenschaftler,
die raus wollen aus der Stadt."
Die Max-Planck-Gesellschaft hätte, wenn sie könnte, ihre Institute sicherlich ausnahmslos in oder um attraktive Großstädte herum.
Martin: Ich glaube, da ändert sich gerade etwas sehr Grundsätzliches. Mecklenburg-Vorpommern hat eine Lebensqualität, die ihresgleichen sucht in Deutschland, und es gibt viele junge Menschen, viele junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die raus wollen aus der Stadt, die sich die Vorzüge eines Lebens nahe an der Natur wünschen, gerade auch aufgrund der Erfahrungen in der Pandemie.
Die Realität stellt sich aber erstmal so dar, dass es in Mecklenburg-Vorpommern vergleichsweise wenige außeruniversitäre Forschungseinrichtungen gibt. Und von wegen Solidarität der anderen Länder: Bei der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) vorvergangene Woche wollten Sie, dass das Institut für Nutztierbiologie in Dummerstorf wieder in die Leibniz-Gemeinschaft darf. Das ging schief, Ihnen fehlte die Unterstützung vieler Länder. Fühlen Sie sich im Stich gelassen?
Martin: Nein. In der Tat gab es heftige Diskussionen, aber am Ende stand ein guter Kompromiss. Denn alle waren sich einig, dass das Leibniz-Institut für Nutztierbiologie in Dummerstorf mit seiner Forschung im Bereich der nachhaltigen und tierwohlorientierten Nutztierhaltung ein bundesweites Alleinstellungsmerkmal hat. Die GWK hat gemeinsam erklärt, dass sie die Anstrengungen des Instituts für eine Wiederaufnahme begrüßt. Bis dahin genießt das FBN Gaststatus in der Leibniz-Gemeinschaft. Das ist eine große Chance für die Neuaufstellung des Instituts. Ich erwarte nun, dass dieser Prozess bis zur Wiederaufnahme von allen konstruktiv begleitet wird.
Apropos GWK-Sitzung: Dort wurden gleich zwei neue Bund-Länder-Programme für Künstliche Intelligenz besiegelt. Der Bund gibt 120 Millionen für die KI-Hochschullehre, aber 200 Millionen für die Verstetigung der bereits bestehenden KI- Kompetenzzentren in der Forschung, die nur auf fünf Länder verteilt sind. Eine doppelte Schieflage zuungunsten der Lehre und ausgerechnet vieler Länder, die bei der Forschungsförderung auch sonst oft weniger abbekommen. Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern etwa sind bei den Zentren leer ausgegangen. Trotzdem wurde es so beschlossen – mit den Stimmen des Bundes und aller Länder. Sie klagen über die ungleiche Forschungsfinanzierung. Warum haben Sie dann zu dem Paket "Ja" gesagt?
Martin: Ich will gar nicht verhehlen, dass ich mir vom Bund ein beherzteres Digitalisierungsprogramm für unsere Hochschulen gewünscht hätte, so wie das ja mit dem Digitalpakt im Bereich Schule auch möglich war. Dafür habe ich mich auch gemeinsam mit Manja Schüle auf Bundesebene viele Monate lang eingesetzt. Aber da hat sich die Bundesregierung leider in Grundsatzpositionen verschanzt. Nun lag ein Paket auf dem Tisch, was für meine Hochschulen in Mecklenburg-Vorpommern zumindest einige Verbesserungen im Bereich der KI-gestützten Lehre bedeutet. Natürlich habe ich das am Ende all der Diskussionen nicht blockiert – ein kleines Programm ist für die Hochschulen in meinem Bundesland besser als gar keins.
"Das Programm "KI in der Lehre" ist gut.
Aber wenn ich ehrlich bin, kenne ich niemanden
in der GWK, der völlig aus dem Häuschen ist."
Schüle: Das Programm "KI in der Lehre" ist gut. Aber wenn ich ehrlich bin, kenne ich niemanden in der GWK, der völlig aus dem Häuschen ist. Ich will auch nicht die ewig-nörgelnde Ossi-Frau sein. Deshalb: Ja, ein Digitalpakt Lehre wäre auch mir lieber gewesen. Aber genau wie Bettina Martin es formuliert hat: Ein kleines KI-Programm ist besser als kein KI-Programm.
Martin: Bei den Kompetenzzentren war es für die Länder, die keine solchen Zentren haben werden, ein zentraler Verhandlungspunkt, dass hier keine geschlossene Gesellschaft entsteht, die sich dem Wettbewerb mit anderen Ländern entziehen kann. Deshalb haben wir in den Verhandlungen um die Formulierungen des Programms darauf bestanden, dass zukünftig grundsätzlich Offenheit für den Beitritt anderer Zentren besteht. Für mich ist das Ergebnis eines, mit dem wir leben können.
Ist der so oft von den Ländern und Hochschulen geforderte Digitalpakt Hochschule mit dem KI-Paket endgültig vom Tisch? Haben die Länder ihn sich wirklich mit den paar KI-Millionen abkaufen lassen?
Schüle: Ich bin wirklich sehr beeindruckt, wie die Hochschulen mit den Corona-Herausforderungen für die Lehre umgehen. Das liegt aber ganz sicher nicht an der hervorragenden technischen Ausstattung. Sondern an der Professionalität, dem Elan, der Kreativität und gelegentlich wohl auch der Leidensfähigkeit von Lehrenden, Studierenden und übrigens auch den nicht-wissenschaftlichen Beschäftigten. Wir alle wissen: Die digitale Lehre stellt die Hochschulen weiter vor große Herausforderungen.
Martin: Ich bin Landesministerin, und als solche trete ich auch ein für den Bildungsföderalismus. Ich glaube aber auch, dass in Ostdeutschland die Debatte etwas differenzierter betrachtet wird. Bei einem Zukunftsthema wie Bildung können wir uns keine falschen Befindlichkeiten mehr leisten, da müssen wir schauen, wie wir gemeinsam möglichst viel für die Sache erreichen. Und so schwierig die Bund-Länder-Performance beim Zustandekommen des Digitalpakts Schule war, so sehe ich jetzt als Schulministerin, die ich ja auch bin, wie er hilft, vor Ort die Strukturen zu verbessern. Angesichts der Pandemie hätte ich mir deshalb gewünscht, dass die Bundesministerin bereit gewesen wäre, auch für den Hochschulpakt einen Digitalpakt zu initiieren.
Schüle: Ich kann Frau Karliczeks Absage nicht verstehen. Die Länder haben sich auf Vorschlag von Steffen Krach aus Berlin ja auch auf ein konkretes Konzept zu einem Digitalpakt verständigt. Da ist der Bund aber nicht mitgegangen. Als Bundespolitikerin muss mein Anspruch sein, das Gesamtsystem zu gestalten – gerade in der Hochschul- und Wissenschaftspolitik, wo der Bund im Gegensatz zum Schulbereich mitzuständig ist. Da kann ich mich doch nicht auf die Position zurückziehen, das sei reine Länderangelegenheit. Die Digitalisierung der Hochschulen steht bei allen Ländern weiter ganz oben auf der wissenschaftspolitischen Tagesordnung. Und da muss sie auch beim Bund hin.
"Das ganze Geheule über den Fachkräftemangel kann man sich sparen, wenn man die Studierenden dann in so einer Notlage nicht angemessen unterstützt."
Auch um die Corona-Hilfe für die Studierenden gab es ein wochenlanges Hin und Her zwischen Bund und Ländern. Die Überbrückungshilfe des BMBF wurde erstmals rückwirkend für den Juni ausgezahlt, und Ende September hat Anja Karliczek sie schon wieder ausgesetzt – um jetzt ihre Rückkehr anzukündigen. Ihr Kommentar?
Martin: Ich hätte mir gewünscht, dass die Hilfe stärker und schneller kommt. Bei einigen der Förderkonditionen muss man sich fragen, ob die wirklich realistisch die Lebenslage der Studierenden abbilden. Es gibt zwei Personengruppen, die der Bund bei den Corona-Hilfen nicht gut im Blick hatte. Das eine sind die freischaffenden Künstlerinnen und Künstler, das andere sind die Studierenden. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Das ganze Geheule über den Fachkräftemangel kann man sich sparen, wenn man die Studierenden dann in so einer Notlage nicht angemessen unterstützt.
Schüle: Wir haben doch mit dem BAföG ein bestehendes System der sozialen Absicherung, das sich über Jahrzehnte bewährt hat und dessen Administration die Studierendenwerke bestens eingeübt haben. Die richtige Antwort wäre gewesen, dieses System vorübergehend zu öffnen – für ausländische Studierende, für Teilzeitstudierende und durch die Pandemie in Not geratene Studierende. Warum die Ministerin dazu nicht bereit war, erschließt sich mir überhaupt nicht. Stattdessen überfordern wir die Studierendenwerke ohne Not, indem sie erst mit Riesenaufwand eine neue Technik, eine neue Software entwickeln und einführen sollen – in einer Zeit, in der sie alle Kapazitäten gebraucht hätten, um die Studierenden zu beraten: sozial und psychologisch.
Martin: Mein Eindruck ist, hinter der Weigerung Anja Karliczeks steckte eine sehr grundsätzliche Position, und es ist dieselbe, über die wir eben gesprochen haben. Für die aber in einer außergewöhnlichen Krisensituation, in der wir uns befinden, kein Platz sein sollte. Als Länderministerinnen und -minister mussten wir jeden Tag vor Ort 20-mal Adhoc-Entscheidungen treffen, um den Studierenden und den Hochschulen zu helfen, da fehlt Ihnen irgendwann das Verständnis, wenn andere Meta-Debatten über die föderalen Zuständigkeiten im Hochschulbereich führen.
Schüle: Zumal man eine temporäre BAföG-Öffnung auch als Gelegenheit hätte nutzen können, um eine grundsätzliche Weiterentwicklung zu probieren und anschließend zu evaluieren.
"Wir hangeln uns beim BAföG von Novelle zu Novelle und kommen doch nicht mehr an die Zielgruppe heran, die Zahl der Empfängerinnen sinkt immer weiter."
Ob bei Überbrückungshilfe oder BAföG: Als Land ist es natürlich immer leicht, dem Bund vorzuwerfen, dass er zu wenig Geld gibt.
Schüle: Der Bund gibt nicht zu wenig Geld fürs BAföG. Es stand enorm viel Geld zur Verfügung, aber es ist nicht abgeflossen. 900 Millionen Euro waren vergangenes Jahr übrig. Das muss man sich mal vorstellen. Bei der letzten Reform vor zwei Jahren war ich als Bundestagsabgeordnete dabei. Wir hangeln uns von Novelle zu Novelle und kommen doch nicht mehr an die Zielgruppe heran, die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger sinkt immer weiter.
Martin: Der Blick zurück hilft uns jetzt nicht. Konstruktiv ist die Frage, wie wir das BAföG langfristig stärken können. Das bleibt auch nach der Pandemie wichtig. Hierüber müssen wir jetzt mit der Bundesregierung ins Gespräch kommen.
Kurzfristig sorgt viele Studierende noch etwas Anderes. Am 2. November wollte die Mehrheit von ihnen ins versprochene Hybrid-Semester starten – mittlerweile stehen wir vor umfassenden Schließungen an den Hochschulen. Was sagen Sie den Studierenden, wie es jetzt weitergeht?
Martin: Ich kann es Ihnen nicht sagen, ich bin keine Prophetin. Was ich sagen kann, ist, dass wir an den Hochschulen in Mecklenburg-Vorpommern strenge Hygienevorschriften haben, dass im November zugleich Lehrveranstaltungen in Laboren stattgefunden haben, genauso wie Orientierungskurse für Erstsemester und internationale Studierende. Was ich Ihnen auch sagen kann, dass bei dem Treffen der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten mit der Kanzlerin in der vergangenen Woche angesichts der Infektionszahlen keine Rede von baldigen Lockerungen war.
Schüle: Drei Punkte. Erstens: Wir haben zu Beginn des Teil-Lockdowns im November die Hochschulen explizit offengehalten und damit insbesondere Studienanfängerinnen und -anfängern den Einstieg und das erste Kennenlernen erleichtert. Zweitens: Wir haben den Hochschulen in den vergangenen Wochen und Monaten viel Spielraum bei den Entscheidungen vor Ort gelassen, weil die Erfahrungen aus dem Sommersemester gezeigt haben, dass sie den Spielraum sehr verantwortungsvoll ausfüllen. Drittens: Auch ich bin keine Prophetin – aber ich werde mich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass die Hochschulen die Unterstützung bekommen, die sie benötigen, um ihren Studierenden eine optimale Ausbildung zu ermöglichen.
Martin: Was mir als Bildungsministerin aber noch wichtiger ist: Dass wir uns als Gesellschaft entschieden haben, die Kitas und Schulen im täglichen Präsenzbetrieb für alle Kinder offenzuhalten. Darüber bin ich sehr glücklich, weil wir aus den Erfahrungen des Frühjahrs gelernt haben. Die Schließungen damals hatten bildungspolitisch schwere Folgen und waren eine unheimliche Belastung für viele Familien. Ich hoffe deshalb sehr, dass es uns auch in den kommenden Wochen weiter möglich bleibt, die Schulen offenzuhalten. Wenn wir aber als Gesellschaft insgesamt die sozialen Kontakte reduzieren müssen, um die Infektionskurve zu drücken, dann heißt das natürlich, dass wir in anderen Bereichen Einschränkungen haben. Das gilt leider auch für die Hochschulen.
Universitätspräsidenten wie Georg Krausch aus Mainz oder Günter Ziegler aus Berlin sagen: Sie würden Restaurants oder Kneipen vor den Universitäten aufmachen – weil Universitäten nicht pleite gehen können.
Schüle: Ich finde diese Aussage nur insofern bemerkenswert, weil sie etwas über die Prioritätensetzung dieser beiden Universitätspräsidenten aussagt.
"Wer behauptet, Corona sei eine Chance, ist für mich ein Zyniker. Corona ist eine Katastrophe. Es gibt allenfalls Konsequenzen, die sich ziehen lassen."
Oft wird gesagt: Corona sei auch eine Chance, weil die Pandemie Althergebrachtes auf den Kopf stelle. Gilt das auch für die Wissenschaft?
Schüle: Ich kann diesen Satz nicht unterschreiben. Wer behauptet, Corona sei eine Chance, ist für mich ein Zyniker. Corona ist eine Katastrophe. Es gibt allenfalls Konsequenzen, die sich aus der Pandemie ziehen lassen.
Welche Konsequenzen meinen Sie?
Martin: Vielen ist klar geworden, dass Wissenschaft für die Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt. Dass wir die Erkenntnisse der Wissenschaft brauchen, um politische Entscheidungen zu treffen. Die Arbeit von Forschern findet eine viel größere öffentliche Beachtung und mediale Begleitung als normalerweise. Ich würde mir wünschen, dass diese Debatte auch nach der Pandemie weitergeht. Dafür brauchen wir aber auch einen funktionierenden Wissenschaftsjournalismus.
Schüle: Lassen Sie mich ein wenig ausholen: Wenn Sie heute eine gesellschaftliche Akzeptanz für politische Prozesse erreichen wollen, müssen Sie – mehr als früher – dazu kommunizieren, müssen Sie Entscheidungen transparent machen, müssen Sie dafür werben. Gleichzeitig sind unsere Entscheidungen mehr denn je von wissenschaftlichen Erkenntnissen geprägt. Aber wir räumen der Wissenschafts-Kommunikation zu wenig Priorität ein. Ich wünsche mir neue Kommunikations-Formate, die nicht der Logik der Talkshows folgen, in denen es meist nur um das konfrontative Senden von Botschaften geht. Sondern in denen beispielsweise ein Forscher wie Christian Drosten öffentlich mit Kolleginnen und Kollegen diskutiert, in dem sie ihre Erkenntnisse diskutieren und auch ihre Meinungsunterschiede, was die Interpretation von Daten angeht. Und dann wird vielleicht eine Politikerin zugeschaltet und ordnet das Gesagte politisch ein. Das wäre ein echter Diskurs mit allen Grautönen und Schattierungen. Solche Formate haben wir viel zu wenige. Dabei wären sie für die Meinungsbildung einer Gesellschaft grundlegend.
Das war doch vor der Krise nicht anders.
Schüle: Das war schon vor der Krise so, und es gibt Politiker wie Ernst Dieter Rossmann, den Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Bildung und Forschung, der immer wieder versucht hat, das zum Thema zu machen. Ich würde mir wünschen, dass solche Bemühungen jetzt verfangen. Dass wir gemeinsam über Szenarien nachdenken, wie sich Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus künftig fördern lassen.
"Wir alle sollten uns anstrengen, den Diskurs
über Wissenschaft in die Öffentlichkeit zu tragen –
und so zu führen, dass auch Nicht-Wissenschaftler
sich einmischen."
Die Wissenschaftspolitik soll den unabhängigen Journalismus fördern?
Martin: Da mit Staatsgeld hineinzugehen, halte ich für äußerst schwierig. Außerdem finde ich schon, dass zu allererst die Verlage und Medienhäuser ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen sollten. Das ist die Haltung, um die es mir geht: Anstatt sofort nach neuen Förderprogrammen zu rufen, sollten wir alle, Politik, Wissenschaft und Medien, uns anstrengen, den Diskurs über Wissenschaft in die Öffentlichkeit zu tragen – und so zu führen, dass auch Nicht-Wissenschaftler sich einmischen.
Schüle: Das stimmt, aber in einem entscheidenden Punkt bin ich anderer Meinung: Wir müssen auch Geld in die Hand nehmen. Wenn ich sehe, wie die Medienkrise die Redaktionen schrumpfen lässt und wie Wissenschaftsjournalisten oft die ersten waren, die entlassen wurden, ob in den klassischen Printmedien, im Fernsehen oder Hörfunk, dann müssen wir auch bereit sein, neue Formate zu finanzieren.
Was schwebt Ihnen vor?
Schüle: Keinen Staatsrundfunk, keine Staatsagentur. Sondern eine unabhängige Institution, die neue Formate der Wissenschaftskommunikation fördert, bei der Journalisten und Medien Geld für innovative Projekte beantragen können. Und die vielleicht eine unabhängige Aufbereitung grundlegender Wissenschaftsnachrichten bietet – so ähnlich wie das bereits bestehende Science Media Center, aber noch umfassender. Natürlich in aller Vorsicht! Die Wissenschafts- und die Meinungsfreiheit gehören zu den sensibelsten Grundrechten, und entsprechend sensibel muss auch der Staat verfahren.
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Lothar Augustin (Mittwoch, 25 November 2020 08:07)
Vieles würde vielleicht einfacher, wenn man die unselige
Exzellenzinitiative endlich begraben würde. Allein die
Idee, 25 international angesehene Wissenschaftler für
ein Cluster zu wählen, ist selbst für die renommierte Uni
Göttingen mit den umliegenden Max-Planck Instituten
schwierig. Schaut man dort den einzigen existierenden Exzellenz-Verbund an, so hat man ein Who-ist-who von fraglos ausgezeichneten Preisträgern (von Leibniz bis Nobel), vielen MPI-Direktoren und wenigen Uni-Profs.
Spiegelt die inhaltliche Klammer wirklich deren Stärken
oder wären nicht die bewährten Fördermittel der DFG
etc. viel besser?