Die Regierungschefs müssen aus dem Teil-Shutdown einen echten machen. Eigentlich sofort. Aber zumindest müssen sie jetzt klar sagen, wie es nach Weihnachten weitergeht. Das betrifft auch die Schulen.
Die deutschen Corona-Neuinfektionen seit Jahresanfang. Screenshot aus dem COVID-19-Dashboard der Johns Hopkins University.
FÜNF WOCHE NACH Beginn des "Wellenbrecher-Shutdowns" und drei Wochen, nachdem seine Wirkung sich an den Infektionszahlen ablesen lässt, ist klar: Die Welle, die zweite in dieser Pandemie, hat er nicht gebrochen. Er hat sie nicht weiter anschwellen lassen, das schon. Wer behauptet, die gesellschaftlichen Anstrengungen seien vergeblich gewesen, sollte deshalb einmal kurz innehalten und sich ausmalen, in welchen Höhen die Zahlen wohl gerade ohne den Teil-Shutdown liegen würden.
Und doch: Das Erreichte reicht eben nicht. Zwar müssen die Intensivstationen netto kaum noch zusätzliche Covid-19-Patienten aufnehmen, doch arbeiten sie bereits an der Belastungsgrenze – so wie viele Krankenhäuser insgesamt. Auch sind an die 500 Tote pro Tag mehr, als eine demokratisch-solidarische Gesellschaft dauerhaft akzeptieren darf und kann – bei Gegenrechnung aller gesellschaftlichen und individuellen Schäden wohlgemerkt, die verstärkte Eindämmungsmaßnahmen in jedem Fall auch bedeuten würden.
In der Abwägung sollte klar sein: Es muss jetzt mehr kommen. Weiteres Zuwarten, das im November vertretbar und richtig war, ist es jetzt nicht mehr. Entsprechend ändert sich auch die Stimmungslage unter den Regierungschefs der Länder gerade spürbar. Allerdings nimmt zugleich ihre Polarisierung zu, je stärker die Infektionsstatistiken der Länder voneinander abweichen und, wie im Falle etwa von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), auch noch bundespolitische Ambitionen als intervenierende Variablen hinzukommen. Söder, der sich seit Beginn der Krise als besonders tatkräftig und konsequent zu positionieren versucht, könnte insofern bereits heute Nachmittag vorpreschen und neue Maßnahmen verkünden. Etliche seiner Kollegen dürften dann allerdings rasch nachziehen.
Wir wissen nicht genau, welche Maßnahmen am besten
wirken. Aber wissen: Zusammengenommen tun sie es
Doch welche Optionen bleiben ihnen? Welche wären epidemiologisch die richtigen, und welche werden umgekehrt am wahrscheinlichsten ergriffen?
Das Problem ist: Wir wissen es nicht genau, was am besten wirkt. Wir wissen, dass ein Komplett-Shutdown mit strengen Kontaktverboten, geschlossenen Restaurants, Geschäften, Kirchen, Schulen und so weiter in jedem Fall funktioniert. Vermutlich nicht so sehr wegen der Summe der Einzelmaßnahmen, sondern weil er als Ganzes ein unmissverständliches Signal an die Gesellschaft sendet: "Jetzt gilt es." Und weil seine Regeln einfach zu verstehen und durchzusetzen sind, lauten sie doch im Grunde schlicht: Bleibt zu Hause. Punkt.
Kompliziert wird es, wenn man anfängt, wie im aktuellen Teil-Shutdown einzelne Maßnahmen herauszugreifen und ihre Wirkung bewerten zu wollen. Helfen geschlossene Restaurants mehr als geschlossene Läden? Wirkt das Verbot privater Hotelübernachtungen verlässlicher als das Verbot privater Feiern von zwei Haushalten? Und was ist mit offenen Schulen und den sonntäglichen Gottesdiensten? Für wieviele zusätzliche Infektionen sind sie verantwortlich? Am wenigsten beantworten können es die Analysen des Robert-Koch-Instituts (RKI), das aktuell nur ein Achtel der Neuinfektionen überhaupt einem Setting zuordnen kann – und betont, "Clustersituationen in anonymen Menschengruppen (z.B. ÖPNV, Kino, Theater)" seien "viel schwerer für das Gesundheitsamt erfassbar" als "in nicht-anonymen Menschengruppen (Familienfeiern, Schulklassen, Sportverein etc.)" – weswegen letztere in den RKI-Analysen überrepräsentiert sein dürften.
Das größte Problem bei einem Teil-Shutdown ist aber nicht die Gefahr, die falschen Maßnahmen zu wählen, sondern dass sich das Signal an die Gesellschaft versendet. Es lautet dann nur noch: "Jetzt gilt es – irgendwie jedenfalls." Die Regeln, was erlaubt ist und unter welchen Umständen, sind dann so undurchsichtig, dass viele Menschen ihr Verhalten kaum ändern – und es auch nicht müssen, weil die meisten Regeln ohnehin nicht kontrolliert werden können.
Eigentlich erstaunlich, wieviel dieser
Teil-Shutdown gebracht hat
Behält man dies im Hinterkopf, ist es eigentlich schon wieder erstaunlich, wieviel dieser sehr teilweise Teil-Shutdown gebracht hat. Und doch bleibt die Frage: Und jetzt?
Drei Maßnahmen würden wohl die stärkste und unmissverständlichste Botschaft an alle senden und das nötige "Es ist ernst"-Gefühl auslösen. Erstens: Das Zusperren von allen Geschäften bis auf die des Grundbedarfs. Zweitens: Das Verbot von Gottesdiensten und religiösen Veranstaltungen, die seit Beginn der Pandemie immer wieder als eine Quelle von Infektionen in den RKI-Berichten auftauchen. Und drittens: Die Schließung von Kitas und Schulen. Diese drei Maßnahmen wären also epidemiologisch die richtigen.
Allein: Die ersten beiden sind komplett unwahrscheinlich im Weihnachtsmonat Dezember. Es ist nicht vorstellbar, dass die Politik zu ihnen greifen wird. Obwohl gerade die Tatsache, dass die Regierungschefs um fast jeden Preis vor ihnen zurückschrecken werden, sie sogar noch durchschlagkräftiger machen würde. Welch eine größere Schockwelle für eine traditionsbewusste Konsumgesellschaft könnte es geben als ein Weihnachten ohne Shopping und Christvesper?
Man kann das als zynisch betrachten, aber so oder ähnlich werden die Erwägungen vieler Regierungschefs ablaufen. Bleibt aus ihrer Sicht die Maßnahme drei. Das Problem der Ministerpräsidenten: Sie haben versprochen, dass Kitas und Schulen anders als im Frühjahrs-Lockdown nur noch als allerletzte Option erneut geschlossen werden. Wäre es diese letzte Option, wenn parallel das Weihnachtsshopping weiterginge? Doch es geht nicht nur um einen Verlust der politischen Glaubwürdigkeit. Es geht auch um Frage der Effektivität. In den vergangenen zwei Wochen stagnierte die Zahl nachweislich neuinfizierter Kinder und Jugendlichen, teilweise ging sie sogar spürbar zurück. Trotz geöffneter Kitas und Schulen. Woraus man folgern kann: Wenn sich die Gesellschaft als Ganzes einschränkt und die Neuinfektionen minimiert, wird sich das automatisch auch positiv auf die Bildungseinrichtungen auswirken. In Irland etwa ist es genauso gelaufen.
Die Neigung der Regierungschefs, als nächstes
nochmal an die Schulen zu gehen, dürfte groß sein
Und doch wäre auch eine solche Betrachtung in der momentanen Lage einseitig. Denn natürlich würden auch geschlossene Bildungseinrichtungen eine stärkere psychologische Wirkung entfalten – weil die Gesellschaft sie als einschneidend wahrnehmen würde. Und auch praktisch: weil dann Millionen Eltern gezwungen wären, zu Hause zu bleiben und ihre sozialen Kontakte deutlich stärker einzuschränken als der Schnitt der übrigen erwachsenen Bevölkerung.
Ja, das ist unfair. Aber doch bleibt die nüchterne Feststellung: Die Neigung der Regierungschefs, als nächstes drastischere Maßnahmen bei den Kitas und Schulen zu ergreifen, dürfte groß sein. Auch wenn sie sich, wenn sie gleichzeitig Geschäfte oder Kirchen auflassen, berechtigt dem Vorwurf der Inkonsequenz aussetzen würden.
Umgekehrt muss auch ich als Bildungsjournalist anerkennen, dass die Politik wirklich lange versucht hat, die Kitas und Schulen möglichst im Vollbetrieb weiterlaufen zu lassen – aus Sicht der meisten Lehrer- und vieler Elternverbände viel zu lang, womit nicht gesagt ist, dass deren teilweise empörten Proteste auch die Mehrheit der Lehrer und Eltern repräsentierten.
Es war zu Ende der Sommerferien, als die Gesellschaft für Virologie in einer Stellungnahme unter Mitwirkung des Charité-Chefvirologen Christian Drosten empfahl, im Falle dann hoher Neuinfektionszahlen die Weihnachtsferien zu verlängern. Ein Vorschlag, an den sich möglicherweise jetzt einige Regierungschefs erinnern werden.
Doch wäre die Totalschließung zumindest bei den jüngeren Schülern der komplett falsche Weg, würde so doch der Kontakt der Schulen zu vielen Kindern – und gerade zu solchen, die ihn besonders brauchen – erneut verlorengehen. Auch dürfte der reine Distanzunterricht kaum irgendwo wirklich gut funktionieren, am ehesten vielleicht noch technisch, deutlich weniger schulorganisatorisch und am wenigsten didaktisch.
Wie ein künftiger Shutdown
ablaufen sollte
Deshalb wird es darauf ankommen, den Handlungsdrang der Politik zu kanalisieren. Was ich unter den gegenwärtigen Umständen für angemessen hielte: die Grundschulen noch bis zu den Weihnachtsferien im täglichen Präsenzbetrieb zu lassen. Aber gleichzeitig, um noch vor Weihnachten eine möglichst große Eindämmungswirkung zu erreichen, schon Mitte der kommenden Woche ab Klasse sieben überall in den Wechselbetrieb zu gehen und in Landkreisen mit sehr hohen Inzidenzen (von über 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen) in den reinen Fernunterricht. Und schon jetzt anzukündigen, dass nach den Weihnachtsferien, die regulär enden, auch die Klassen 1 bis 6 in den Wechselbetrieb switchen müssen. Im neuen Jahr wiederum sollten auch die Klassenstufen sieben und darüber wieder Hybridunterricht erhalten. Anders formuliert: Im Januar sollte in allen Schulen deutschlandweit altersunabhängig die Abstandsregel gelten.
Folgende politische Garantien müsste es geben: Erstens: Die Kitas bleiben im täglichen Vollbetrieb. Zweitens kehren die Klassen 1 bis 6 Anfang Februar unabhängig von der Pandemie-Entwicklung in den täglichen Präsenzbetrieb zurück. Drittens gilt ab Februar der Wechselunterricht auch ab Klasse sieben nur noch ab einer bestimmten Inzidenz, wobei mir persönlich 50 zu niedrig und 200 deutlich zu hoch zu sein scheint. Viertens muss das jetzt kommunizierte Ende der beschriebenen Einschränkungen für die Schulen dann tatsächlich auch eingehalten werden.
Die fünfte politische Garantie jedoch wäre die wichtigste: dass die völlig unangebrachten Lockerungen für die Weihnachtszeit wieder kassiert werden. Dass darüber hinaus schon jetzt festgelegt wird, dass ebenfalls ab Anfang Januar Geschäfte und Kirchen schließen müssen – zur Not über Anfang Februar hinaus. Dass die Gesellschaft dann alles tut, um ihre ältesten Mitglieder – die Menschen über 80, die Bewohner von Alten-und Pflegeheimen, die unter inakzeptabel hohen Corona-Raten leiden und für die eine Infektion lebensgefährlich ist – endlich wirksam zu schützen. Und dass die Gesellschaft alles tut, um ihre jüngsten Mitglieder – die Kinder und Jugendlichen, die am wenigsten mitentscheiden können und am meisten unter den langfristigen Folgen der Pandemie leiten werden – möglichst am wenigsten von den Einschränkungen tragen zu lassen.
Eigentlich sollte all dies schon ab morgen gelten, vor allem inklusive der Schließung der Shopping-Center und Gotteshäuser. Doch ohne den Entscheidungen der Ministerpräsidenten vorgreifen zu wollen: Diese Gesellschaft scheint lieber Weihnachten retten zu wollen als sich selbst vor der Pandemie.
Dieser Artikel wurde am 06. Dezember um 12 Uhr aktualisiert.
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Sabine (Sonntag, 06 Dezember 2020 10:56)
Lieber Herr Wiarda,
ich schätze Ihre Beiträge sehr. Diesmal kann ich aber nicht migehen, wenn Sie Wechselbetrieb fordern für die KLeinen. KiTas aber sollen offen bleiben (ja, sollen sie unbedingt, aber genauso wichtig ist der tägliche Betrieb für die Grundschüler, genauso wichtig für die Eltern, die nicht im Januar ihren Jahresurlaub verbrauchen können).
Und wir sehen in Gebieten mit hohen Inzidenzen, dass Wechselbetrieb keine Änderung bringt.
Wir sehen aber auch in Dänemark, dass trotz hoher Inzidenzen normaler Schulbetrieb (und Sport und Vereinsleben für die Kinder etc.) möglich ist, ohne weiteren Anstieg - und ohne, dass die Intensivstationen überlastet werden. Weil durch eine sinnvolle Teststruktur und rasche, digitale Nachverfolgung die vulnerablen Gruppen gut geschützt werden (kaum Patienten auf den Intensivstationen).
Sie selbst schreiben gegen Ende, dass die Jüngsten am wenigsten von den Einschränkungen tragen sollten. Sie tragen schon wieder seit Monaten am meisten - keinerlei Hobbys mehr, Schule mit dauerhaft MNB, frierend, Frontalunterricht. In vielen LK schon seit vielen Wochen Wechselbetrieb, da ist schon wieder ein Vierteljahr rum mit großen Lücken und das nach dem Sommer. Sie tragen es meist ohne groß zu motzen. Es wäre schon längst Zeit gewesen, an den wirklichen Schrauben zu drehen. Es IST jetzt allerhöchste Zeit, ohne den Kindern noch mehr aufzubürden. Keine Schulschließung wird Infektionen in Alten- und Pflegeheimen verhindern.
Rudi (Sonntag, 06 Dezember 2020 12:29)
Nur die kurze Anmerkung, dass für einige Maßnahmen sehr wohl bekannt ist, wie gut sie wirken.
https://www.nature.com/articles/s41562-020-01009-0
Grenville (Sonntag, 06 Dezember 2020 22:55)
Meine Ehefrau verantwortet die Pflegekräfte-Dienstpläne für mehrere Ambulanzen einer Uniklinik. Ihr macht die zunehmende Tendenz, ganze Schulen/KiTas in Quarantäne zu schicken, zu schaffen, denn so bricht ihr viel Personal weg. Noch ist das Problem handhabbar, aber die Tendenz ist besorgniserregend.
Beim richtigen Lockdown im Frühjahr wurden Kinder von systemrelevanten Kräften in kleinen Gruppen betreut, so war der Ausfallrisiko im Verhältnis zum Infektionsgeschehen viel niedriger. Selbstverständlich erkenne ich das Bildungsrecht aller Kinder an, sehe die Probleme des Fernunterrichts bei sozialschwachem Elternhaus, und freue mich, dass es bisher Corona-Regelbetrieb gab. Inzwischen haben wir aber den Punkt erreicht, wo Maßnahmen erforderlich sind, um Kinder von systemrelevanten Kräften besser vor der Pauschalquarantäne zu schützen.
Und da meine Ehefrau Personal aus sieben verschiedenen Landkreisen/Städten organisieren muss, dürfen diese Regeln nicht von der Willkür / vom Nichtwissen sieben verschiedener Gesundheitsämter abhängig sein, stattdessen müssen sie landeseinheitlich sein.
Thomas (Montag, 07 Dezember 2020 08:28)
Vieles spricht dafür, die ohnehin anstehenden Weihnachtsferien von Schulen und Kitas auf drei Wochen zu verlängern und für einen echten Lockdown zu nutzen.
Birger (Montag, 07 Dezember 2020 09:41)
Ich kann Ihrer Argumentation hier weitestgehend folgen. Ich denke aber, dass es die Akzeptanz der Maßnahmen gefährden würde, wenn der Ende November verkündete Fahrplan jetzt wieder geändert werden würde. Denn ich erkenne keine signifikante Änderung der Faktenlage.
Ihrer Empfehlung für die Zeit nach den Weihnachtstagen kann ich aber viel abgewinnen. Dann Schulen ab Klasse 8 und Geschäfte gleichzeitig einzuschränken hielte ich für fair. Könnte man nicht bei den Geschäften noch weitergehen? Gerade die von Ihnen hervorgehobene psychologische Wirkung würde noch verstärkt, wenn man gleichzeitig mit dem stationären Handel auch den Internethandel für die privaten Haushalte einschränkte.