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Schluss mit den Relativierungen!

Die deutschen Ergebnisse der TIMS-Studie sind nicht mau. Sie bedeuten nicht irgendwelchen Verbesserungsbedarf. Sie erfordern einen echten Ruck. Denn die Corona-Folgen für die Grundschüler von heute sind darin noch gar nicht abgebildet.

SEIEN WIR EHRLICH: Diese Ergebnisse sind nicht irgendwie zufriedenstellend, man kann und sollte sie auch nicht durch soziodemographische Verweise relativieren. Und so zu tun, als seien sie zwar eine Stagnation, aber hey, immerhin auf gleichbleibendem Niveau, ist eine Verkürzung der statistischen Tatsachen.

 

Die Veröffentlichung der TIMS-Studie 2019, in normalen Jahren garantiert Aufmacher in den Abendnachrichten, ging heute fast unter in den Debatten um die neue Leopoldina-Corona-Empfehlung, Sachsens Lockdown-Beschluss und mögliche bundesweite Schulschließungen. Aus Sicht der Kultusminister war das vielleicht noch die beste Entwicklung an einem schwierigen Tag.

 

TIMSS steht für "Trends in International Mathematics and Science Study". 69 Länder und Regionen weltweit haben sich dem Vergleich der Schulleistungen ihrer Viertklässler gestellt, und zwar in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften. Erstmals absolvierten die meisten der weltweit mehr als 300.000 repräsentativ ausgewählten Schüler (davon 4900 in Deutschland) den vollständig Test am Computer.

 

"Eine Bestandsaufnahme eines Bereiches des deutschen Bildungssystems", nannte der deutsche Studienleiter Knut Schwippert von der Universität Hamburg die TIMSS-Ergebnisse. Eine Bestandsaufnahme, die ausnahmsweise einmal nichts mit der Corona-Pandemie zu tun hat – sondern Auskunft gibt über den normalen, alltäglichen Zustand des von Schwippert angesprochenen Teilbereichs des deutschen Bildungssystems. 

 

"Stabil" heißt eben
nicht gut

 

Deutschlands Grundschüler liegen unter den Teilnehmerstaaten im Mittelfeld. In Mathe auf Platz 25, in den Naturwissenschaften auf Platz 29. Im Vergleich zu den Vorgängeruntersuchungen 2007, 2011 und 2015 seien die grundlegenden Kompetenzen der Schüler in den beiden Fächern damit "im Wesentlichen stabil, also gleichbleibend" geblieben, berichtete Schwippert.

 

Stabil heißt aber eben nicht gleichbleibend gut. Das deutsche Leistungsniveau liege in Mathematik "signifikant unter dem EU- und OECD-Durchschnitt", sagte Schwippert, in den Naturwissenschaften immerhin noch knapp über dem Mittelwert aller EU-Länder. Und es gibt einen großen Abstand zur internationalen Leistungsspitze, die in Mathe ostasiatische Länder und Regionen wie Singapur, Südkorea oder Japan fast allein unter sich ausmachen. Allein die Russische Föderation ist in der Lage, in beiden Fächern vorn mit dabei zu sein.

 

Hinter der internationalen Spitzengruppe, aber teilweise weit vor Deutschland liegen allerdings auch Länder wie die USA, England oder Tschechien, um nur ein paar zu nennen. Der Abstand zwischen Deutschland (518) und den USA (539) beträgt zum Beispiel in den Naturwissenschaften 21 Punkte, was bei einem internationalen Durchschnittswert von 500 schon erheblich ist und laut Rechnung der Forscher einem halben Lernjahr entsprechen würde. Zu Singapur (595) auf Platz 1 sind es 77 Punkte. In Mathe, wo die Leistungen von Deutschlands Viertklässlern auf der Skala zu 521 Punkten umgerechnet wurden, klafft zu Singapur sogar eine Lücke von unglaublichen 104 Punkte (theoretisch 2,5 Lernjahre). Wahrlich frustrierend aber, da nicht mit "Das ist halt Asien" wegzudiskutieren, ist, dass auch Englands Schulkinder 35 Punkte mehr schaffen, die österreichischen immerhin 18 Punkte.  

 

Frustrierend ist auch, dass mehr als ein Viertel der Grundschüler (25,4 Prozent in Mathe und 27,6 Prozent in den Naturwissenschaften) nur basale Fähigkeiten in den beiden Fächern erworben hat – womit sie auf den unteren zwei der insgesamt fünf Kompetenzstufen festhängen. Mit sechs Prozent in Mathe und knapp sieben Prozent in den Naturwissenschaften erreichen zugleich nur sehr wenige Schüler die höchste Kompetenzstufe V. Kurz gesagt ist der Anteil der leistungsschwachen Grundschüler in Deutschland durchgehend höher als im Schnitt aller EU- und OECD-Staaten, und es gibt weniger leistungsstarke Kinder. Teilweise sind die Abstände statistisch signifikant, in jedem Fall sind sie alarmierend, auch weil sich in Mathe die deutsche Risikogruppe gegenüber den Voruntersuchungen von 2007 und 2011 deutlich vergrößert hat. 

 

Besorgniserregend ist auch, dass die deutschen Ergebnisse in den Naturwissenschaften statistisch signifikant schwächer ausfallen als in den vorherigen Studien. Darauf wies am Nachmittag der Münchner Bildungsökonom Ludger Wößmann auf Twitter hin – als Reaktion auf einen Tweet des BMBF-Accounts, demzufolge die deutschen Grundschüler "laut TIMS-Studie auf gleichbleibendem Niveau" in Mathematik und Naturwissenschaften lägen – trotz steigender Herausforderungen." Wößmann konterte: "Das stimmt leider nicht."

 

Geübt im Kommentieren
mauer Studienergebnisse

 

Nicht nur sind die Grundschüler in vielen anderen Ländern besser geworden – in Deutschland tun sie sich teilweise deutlich schwerer als noch vor einigen Jahren,  was die Botschaft: "Im Wesentlichen stabil", doch sehr gewollt und noch weniger nach einer guten Nachricht klingen lässt – erst recht angesichts der weiter kleinen Leistungsspitze und der großen Risikogruppe.

 

Nachdem das durch den PISA-Schock 2000 ausgelöste bildungspolitische Zwischenhoch der Nullerjahre vorbei ist, werden die deutschen Bildungspolitiker im Kommentieren mauer Ergebnisse immer geübter. So sagte Stefanie Hubig, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), die "stabilen Leistungen" seien "ein gutes Ergebnis, insbesondere vor dem Hintergrund einer heterogener werdenden Schülerschaft."

 

Dass Hubig damit vor allem auf die seit 2015 Geflüchteten anspielen wollte, liegt nahe. Hatten 2007 noch 17,2 Prozent der Schüler Eltern, die beide im Ausland geboren waren, galt das 2019, zum Erhebungszeitpunkt der heute veröffentlichen Studie, für 22 Prozent. Allerdings gehörten soziodemographische Erklärungsmuster auch schon vor 2015 zum Standardrepertoire derlei Studien kommentierender MinisterInnen. Mit der Tatsache, dass Staaten mit ähnlich heterogener oder noch diverserer Schülerschaft weitaus besser abschneiden, passen sie nicht so recht zusammen. Am wenigsten aber mit den nun schon seit so vielen Jahren wiederholten Beschwörungen von Bund und Ländern, man wolle und müsse sich nun aber wirklich verstärkt um die Einwandererkinder und die bildungsfernen Kinder kümmern, um auch ihnen faire Bildungschancen zu ermöglichen. Apropos: Die Kinder aus sozial besser gestellten Familien kamen in Deutschland in beiden Fächern auf einen Vorsprung von etwa so vielen TIMSS-Punkte, wie sie einem Lernjahr entsprechen. Womit die Bundesrepublik allerdings im internationalen Trend liegt.

 

"Seit 20 Jahren immer dasselbe,
ohne dass sich etwas ändert?"

 

"Ganz ohne Zweifel", schrieb der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller heute Morgen, noch vor Veröffentlichung der TIMS-Studie" im Tagesspiegel: "Dem Bildungssystem in Deutschland gelingt es bislang nicht, herkunftsbedingte Ungleichheiten durchschlagend zu reduzieren." Stattdessen berichte jede wissenschaftliche Veröffentlichung einer neuen nationalen oder internationalen Schulleistungsuntersuchung, dass die herkunftsbedingten Unterschiede in den schulischen Kompetenzen unverändert hoch seien und Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien vergleichsweise seltener die Aufnahme am Gymnasium schaffen würden.

 

Daran schließe sich dann die Forderung an, dass außerordentliche bildungspolitische Anstrengungen zur Lösung des Problems unternommen werden müssen. Und Köller prophezeite: "Dieser Tenor wird mit Sicherheit auch die Berichterstattung über die heute veröffentlichte internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie (TIMSS 2019) begleiten. Mancher wird sich wundern, seit 20 Jahren immer dasselbe zu lesen, ohne dass sich substanziell etwas ändert. Dabei ist bekannt, worin die Ursachen für diese Ungleichheiten liegen und wie man sie verringern kann."

 

Die Ungleichheiten zu beseitigen ist das eine. Das gesamte Leistungsniveau anzuheben, das andere. Denn auch die privilegierten deutschen Grundschüler sehen ihre Konterparts in der TIMS-Studie nur von hinten. Nähme man den Lernvorsprung der bildungsnahen Elternhäuser in Mathematik und rechnete ihn für alle Kinder in Deutschland, würde das trotzdem nicht einmal für die internationalen Top Ten reichen. 

 

Die Studienergebnisse zeigten zugleich, "dass Deutschland im internationalen Vergleich in Mathematik und den Naturwissenschaften weiterhin Nachholbedarf hat", sagte denn auch KMK-Präsidentin Hubig pflichtschuldig. Und BMBF-Staatssekretär Christian Luft sagte: "Als Land ohne Rohstoffe müssen wir verstärkt auf die Bildung unserer Kinder setzen." Bundesbildungsministerin Anja Karliczek habe es immer wieder betont: "Mittelmaß kann nicht unser Anspruch sein. Unsere Gesellschaft braucht gute Bildung. Unsere Kinder verdienen gute Bildung."

 

Die Rezepte, die Luft und Hubig heute nannten: Verstärkte Lehrerfortbildung – und die beiden Bund-Länder-Initiativen "Schule macht stark" (zur Erhöhung der Bildungschancen sozial schwächerer Schüler) und "Leistung macht Schule" (für die gezielte Förderung leistungsstärkerer Kinder). Alles richtig, und wichtige Initiativen. Aber doch aus der Vor-Corona-Zeit stammend, bevor Deutschland während der Schulschließungen als ein digitales Bildungsschlusslicht negativ auffiel – was in den TIMSS 2019-Ergebnissen noch gar nicht eingepreist ist.

 

Muss da nicht jetzt doch noch deutlich mehr kommen, vor allem mehr Investitionen in die Bildung der nächsten Generation? Vor allem in die  traditionell schlechter finanzierten deutschen Elementar- und Primarbereiche? Die grüne Bildungspolitikerin Margit Stumpp forderte heute "eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen, also einen modernen, schlagkräftigen und fairen Bildungsföderalismus", und "eine gezielte Unterstützung von Schulen in benachteiligten Regionen und Quartieren". Auch das, um frei mit Olaf Köller zu sprechen, schon lange bekannte Lösungen für noch länger bekannte Probleme. 

 

Allein: Was braucht es noch? Vor allem zunächst einmal dieses: keinerlei Relativierung der heutigen Studienergebnisse mehr. Und dann einen echten Ruck. Doch dessen durch Corona nochmal erhöhte Dringlichkeit droht sich, das ist die größte Ironie, ausgerechnet wegen Corona zu versenden.

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