Was sich derzeit überhaupt über die Entwicklung der Corona-Pandemie sagen lässt. Warum Bund und Länder gut daran tun, anstatt Lockerungen heute weitere Verschärfungen zu beschließen. Und schließlich: Was das alles für Kitas und Schulen bedeuten könnte. Eine Analyse.
Der gemeldete Pandemieverlauf: Grafik aus dem Covid-19-Dashboard der Johns-Hopkins-Universität (Screenshot).
SEIT ELF UHR HEUTE VORMITTAG wollten die Regierungschefs von Bund und Ländern tagen. Dann wurde der Start der Corona-Spitzenrunde kurzfristig auf 13 Uhr verschoben. Es gilt als sicher, dass dann auch das Ende des bislang auf den 10. Januar befristeten Shutdown verschoben wird. Aber bis wann genau? Und welche Änderungen gibt es? Das ist derzeit ebenso unklar wie der Zeitpunkt der Pressekonferenz im Anschluss an die Beratungen von Kanzlerin Merkel mit den Ministerpräsidenten. Schon jetzt: Fünf Gründe, warum es richtig ist, den Shutdown zu verlängern. Und ein Ausblick.
1. Weil wir noch nicht wissen, wie gut er funktioniert
Über Weihnachten und Silvester und an den Tagen drumherum ist massiv weniger getestet worden. Nicht, weil die Ärzte in einen Feiertagsstreik gegangen wären – sondern weil einfach weniger Leute zum Arzt gegangen sind. Das hat die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen zwischenzeitlich massiv gedrückt. Parallel haben auch viele Gesundheitsämter im Land die eingehenden Meldungen langsamer als sonst bearbeitet, möglicherweise haben auch Ärzte und Kliniken Fälle langsamer weiter gemeldet. Innerhalb der nächsten Woche sollte die Zahl der Tests wieder auf das Vor-Feiertagsniveau steigen, und alle liegen gebliebenen Meldungen sollten weitergegeben sein – und dann wird es spannend sein zu sehen, wie stark die registrierten Neuinfektionen noch mit hochgehen. Parallel dürfte sich nämlich ab Ende dieser Woche abzeichnen, welche epidemiologischen Folgen das Weihnachtsfest hat – und ab dem 15. Januar sind Silvester und Neujahr "eingepreist". Erst dann wissen wir wirklich, wie gut der Shutdown funktioniert hat und wo wir stehen.
2. Weil er (vermutlich) funktioniert
Was Hoffnung macht: In den vergangenen Tagen blieb, worauf etwa der WELT-Journalist Olaf Gersemann hinwies, die massive Nachmelde-Welle aus. Weshalb sich der starke Rückgang der vom Robert-Koch-Institut (RKI) berechneten 7-Tages-Inzidenz (von knapp 200 vor Weihnachten auf 135 neue Fälle pro 100.000 Einwohner heute) vermutlich nicht nur mit den eben genannten Sondergründen erklärt. Dass sich etwas tut, lässt sich an der Zahl der aktuell behandelten Corona-Intensivpatienten ablesen. Sie wird nicht durch weniger Tests und Meldeverzüge über die Feiertage beeinflusst, allerdings reagiert sie mit zehn, 14 Tagen Verzug auf ein geringeres Infektionsgeschehen. Immerhin: Stieg die Zahl der Intensivpatienten vom 14. auf den 21. Dezember noch um knapp 11 Prozent und vom 21. auf den 28. Dezember um gut 8 Prozent, nahm sie zwischen dem 28. Dezember und 04. Januar nur noch um 2,6 Prozent auf bundesweit 5.744 zu. Viel zu viel natürlich, aber die Dynamik wird geringer. Der 7-Tages-Schnitt bei den Todesfällen unter Corona-Infizierten liegt seit Mitte Dezember bei über 600. Erschreckend hoch, aber zuletzt war zumindest der seit drei Monaten anhaltende klare Aufwärtstrend gebrochen – was im Teil-Shutdown im November nie wirklich passiert war. Bei Intensivpatienten wie Todesfällen gilt ebenfalls: Ab Mitte Januar wissen wir deutlich besser, wo wir stehen. Und sollten, gerade weil der Shutdown vermutlich funktioniert, ihn unbedingt fortführen – und es nicht beim ersten Hoffnungsflackern gleich wieder gut sein lassen und damit fast unweigerlich in die nächste Welle gehen. Denn...
3. Weil das Erreichte noch nicht reicht
...selbst wenn wir davon ausgehen, dass der Shutdown funktioniert, sind die Infektionszahlen noch viel zu hoch. Natürlich war schon Mitte Dezember absehbar, als die Regierungschefs von Bund und Ländern die Verschärfung der Maßnahmen beschlossen, dass sich selbst im günstigsten Falle bis zum 10. Januar nie und nimmer die Ziel-Inzidenz von 50 erreichen lassen würde. Auch war klar, dass die Feiertage die ohnehin in Deutschland bescheidene Qualität der Pandemie-Statistik vorübergehend so vernebeln würden, dass bis zum heutigen Tag keine taugliche Entscheidungsgrundlage vorliegen würde. Wäre es deshalb nicht ehrlicher gewesen, das auch gleich so zu sagen und den Shutdown von Anfang an bis Ende Januar oder gar unbefristet laufen zu lassen? Was ich von den Verfassungsjuristen höre: Das geht rechtlich gar nicht. Was ich von Politikern höre: Sie hätten immer betont, dass nach dem 10. Januar vermutlich die Verlängerung kommen werde. Was ich persönlich denke: Die Regierungschefs hätten es sehr wohl viel deutlicher sagen können, ja müssen. Wahr ist aber auch: Jeder, der Mitte Dezember ein bisschen auf die Zahlen geschaut hat, konnte selbst darauf kommen. Ab Mitte Januar wissen wir zumindest wieder halbwegs, wo wir stehen, und dann müssen wir uns als Gesellschaft darauf verständigen, wo wir hinwollen. Diese Verständigung erscheint mir noch nicht wirklich erfolgt zu sein. Bis 50 – und dann Schluss? Oder lieber noch etwas länger, um mit Puffer durch die verbleibenden Wintermonate zu kommen? Erst recht vor dem Hintergrund der bekannt gewordenen Virusmutationen, deren Folgen aufs Pandemiegeschehen immer noch nicht ausreichend erforscht sind?
4. Weil bei einigen die Botschaft immer noch nicht angekommen ist.
Wer die Bilder von den Menschenmassen in den Skigebieten sieht, kann sich nur wundern. Noch mehr aber wundere ich mich über das alltägliche Geschehen in den Innenstädten: All die plötzlich wieder erleuchteten Fenster in den Bürogebäuden. Die Home-Office-Quote liegt halb so hoch wie im ersten Shutdown – was zeigt, dass viele, die könnten, eben nicht zu Hause bleiben. Diese millionenfache Shutdown-Umgehung, ob freiwillig, dem Druck der Arbeitgeber folgend oder weil die Hilfsmaßnahmen der Politik nicht reichen, erscheint mir persönlich viel skandalöser zu sein als das unendlich dämliche Treiben einer am Ende doch vergleichsweise kleinen Zahl von Menschen in den Skigebieten.
5. Weil wir in der Verlängerung nachschärfen können
"Alles schließen", forderte Spiegel-Journalist Janko Tietz. Plakativ genug, um die dringend nötige Debatte über Nachschärfungen des Shutdowns anzuregen. Denn je schärfer der Shutdown ist, desto kürzer fällt er am Ende aus. Natürlich kann die Umsetzung einer solchen Pauschal-Forderung am Ende doch nur differenziert ausfallen. Wie genau, das ist Sache der Politik – und damit meine ich nicht die Regierungschefs, sondern die Parlamente. Aber die Richtung stimmt: Klare und einfache Regeln für alle müssen jetzt her statt Kontaktregeln und Ausgangsbeschränkungen, deren Kleingedrucktes gefühlt seitenlang ist. Die wichtigste Regel: Home Office als Grundannahme. Und Ausnahmen müssen auf Anforderung der Behörden gut begründet werden – und zwar von den Arbeitgebern. Zu den klaren Regeln würden dann allerdings auch klare, lebensnahe und ausreichende (!) staatliche Kompensationen gehören. Dazu gleich mehr. Ebenfalls unverzichtbar: eine unmissverständliche Kommunikation verlässlicher Zielwerte, ab wann die schärfsten Beschränkungen wieder aufgehoben werden.
6. ...und was ist mit den Kitas und Schulen?
Bei Eltern staut sich gerade wieder der Frust an. Vor allem bei den Kita-Eltern, die in vielen Bundesländern in eine unmögliche Situation geraten. Die Kitas sind vielerorts offen, doch den Eltern wird nahegelegt, ihre Kinder "möglichst" zu Hause zu lassen. Womit der gesamte Gewissensdruck auf den Eltern lastet – denen gleichzeitig viele Arbeitgeber sagen, sie sollten zur Arbeit kommen, weil die Kitas ja offen seien. Und jenen Eltern, die im Home Office bleiben können, wird sehenden Auges eine Doppelbelastung aus Arbeit und Betreuung zugemutet, denn der Staat drückt sich anderslautenden Versprechungen zum Trotz um eine wirkliche Kompensation herum. Wo ist denn der einfach zu beantragende Sonderurlaub für alle Eltern, die dies wollen? Wo ist der unbürokratische Lohnausgleich in voller Höhe? Wenn es die ohnehin schon lückenhaften Hilfen nur bei geschlossenen Kitas und offizieller "Notbetreuung" gibt, dann sind alle gesellschaftlichen Appelle an die Eltern, ihre Kinder aus Solidarität zu Hause lassen, unsolidarisch.
In den Schulen wiederum kommt es, solange der reine Distanzunterricht läuft, auf Zufall und Glück an: Leben die Kinder in einem Bundesland mit funktionierender Schulcloud? Gehen sie auf eine Schule mit ausreichender technischer Ausstattung? Haben sie Lehrer, die didaktisch entsprechend fortgebildet wurden? Und ob von der Politik vorgegeben oder nicht: Gibt es in der Schule Standards für Lehrer-Schüler-Kontakte, für den Ablauf und den Umfang des digitalen Unterrichts, die allen Eltern und Schülern klar kommuniziert wurden und auf die diese pochen können? Woraus folgt: Am Ende geht es um ziemlich viele Wenns und Abers.
Deshalb ist es richtig, dass auch die Schulen zubleiben, solange der Shutdown am härtesten ist. Und es ist ebenso richtig, dass die Schulen als erstes in die Öffnung einsteigen. Wobei der Stufenplan, den die Kultusminister gestern beschlossen haben, sinnvoll erscheint: Die Jüngsten als erstes und möglichst schnell wieder im vollen Präsenzunterricht, die älteren später, und dann kehren sie zunächst nur im Rahmen eines Wechselmodells in die Schulen zurück.
Wann es damit losgeht? Es kann sein, dass das Ergebnis der Regierungschef-Runde sein wird, dass wir lediglich wissen, wie lange es auf jeden Fall noch nicht losgeht. Vielleicht aber, und als Bildungsjournalist wäre das für mich eine wünschenswerte, obgleich nicht besonders wahrscheinliche Wendung, kommt es ja auch zu einer Kombination schärferer Maßnahmen für die Erwachsenen (siehe Punkt 5) und erster Lockerungen für die Kinder (Präsenzunterricht für die Jüngsten) schon in der zweiten Januarhälfte. Am Ende wird alles vom Infektionsgeschehen abhängen. Und die Lockerungen könnten auf Länderebene losgehen – dort, wo die Inzidenzen am niedrigsten liegen. Aber bitte, bitte erstmal keine Lockerungen für uns Erwachsenen. Im Gegenteil!
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