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Unehrlich und kontraproduktiv

Erst beschließen die Regierungschefs: Die Schulen bleiben den ganzen Januar zu. Kurz darauf sagen die ersten Ministerpräsidenten: vielleicht doch nicht. So beschädigt die Politik sich selbst, den Shutdown und auch das Ziel offener Bildungseinrichtungen.

UM ES VORWEG ZU SAGEN: Ich hätte es richtig und wichtig gefunden, die Grundschulen schon in der zweiten Januarhälfte zumindest für einen teilweisen Präsenzunterricht zu öffnen. Am liebsten inzidenzunabhängig. Zumindest aber dort, wo die Infektionszahlen schon jetzt niedriger liegen. Letzterer Passus befand sich in einem Entwurf des Beschlusses, den die Regierungschefs von Bund und Ländern gestern Abend fassten – wurde aber im Lauf der Verhandlungen herausgestrichen. 

 

Was ich demgegenüber nicht nur ärgerlich, sondern unehrlich und politisch kontraproduktiv finde: Dass die Ministerpräsidenten einen scheinbar harten Beschluss zur fortgesetzten Schließung von Kitas und Schulen mittragen und die ersten dann nur Stunden später anfangen, ihn durch ihr reales Handeln zu unterlaufen.

 

So sagte zum Beispiel Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann bereits gestern Abend, an weiterführenden Schulen werde es der Vereinbarung folgend bis Ende Januar keinen Präsenzunterricht geben. "Unser Ziel ist allerdings, Kitas und Grundschulen ab dem 18. Januar wieder zu öffnen, wenn wir nächste Woche Klarheit über die Infektionszahlen haben und es vertretbar ist", sagte er laut Stuttgarter Zeitung. Ähnliche Pläne verkündete Kretschmanns niedersächsischer Kollege Stephan Weil

 

Inhaltlich nachvollziehbar – wobei führende Virologen die Klarheit erst für den 16. oder 17. Januar erwarten und man den Start vorher bekanntgeben müsste. Aber warum beschließen Kretschmann und seine Regierungschef-Kollegen überhaupt erst etwas Anderes?

 

Kretschmann: Machen nur das, was
der Bund-Länder-Beschluss ermöglicht

 

Der grüne Ministerpräsident selbst ist offenbar der Meinung, dass er überhaupt nichts Anderes beschlossen hat. In der gestrigen Bund-Länder-Vereinbarung steht: Die von den Ländern ergriffenen Maßnahmen "müssen auch in diesem Bereich entsprechend des Beschlusses vom 13. Dezember 2020 bis Ende Januar verlängert werden." Und dieser Beschluss wiederum ermöglichte, worauf Kretschmanns Sprecher hinweist, dass die Schulen offenbleiben können – solange die Präsenzpflicht ausgesetzt ist.  

 

Folgt man dieser Lesart, erklärt sich auch, warum die neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Britta Ernst, ebenfalls noch gestern Abend gegenüber der Nachrichtenagentur dpa zu Protokoll gab, der neue Beschluss biete Spielräume, "die in den Ländern entsprechend genutzt werden können". 

 

Mehr Spielräume, finden einige sogar, als es der aus dem Beschluss herausgestrichene Passus mit dem Teilpräsenz-Unterricht an Grundschulen "bei guter Entwicklung" zugelassen hätte.

 

Das kann man so sehen, und dass viele Kultusminister dafür sind, jede Lücke im Beschluss recht ist, kann man angesichts ihres eindeutigen Plädoyers vom Montag (Präsenzunterricht zuerst für Grundschüler und so früh wie möglich) nachvollziehen, es sogar konsequent nennen.

 

Der Geist des Beschlusses
war ein anderer

 

Die Regierungschefs können diese Konsequenz jedoch für sich nicht in Anspruch nehmen. Sie haben gestern einen Beschluss gefasst, der vom Geist her etwas ganz Anderes aussagt, und zwar eindeutig und ohne Spielraum: keine Lockerungen an Kitas und Schulen im Januar. Und wenn Länder wie Baden-Württemberg am 18. Januar wieder mit dem Präsenzunterricht anfangen, dann ist das eine Lockerung gegenüber dem Status Quo.

 

Zählt aus der Perspektive eines Bildungsjournalisten am Ende nicht nur das Ergebnis – und solange er das richtig findet, ist alles gut?

 

Keineswegs. Das Vorgehen der betreffenden Regierungschefs wird die Öffnung der Schulen unnötig diskreditieren. Weil sie irgendwie erschlichen wirkt – als stünde man nicht wirklich hinter ihr. Das wäre anders gewesen, wenn sie sich alle gemeinsam und offensiv dazu bekannt hätten in dem Bund-Länder-Beschluss. Dafür jedoch gab es keinen Konsens. Ehrlich wäre es gewesen, dann den gefassten Beschluss nur unter der Maßgabe mitzutragen, dass Abweichungen in den Ländern explizit erlaubt werden – anstatt mit einem verschwiemelten Hinweis auf die Dezemberbeschlüsse und deren in den Ländern bestehende Umsetzungspraxis.

 

Das hätte womöglich weitere stundenlange Diskussionen gebracht. Auf die hatten die Regierungschefs offenbar keine Lust. So wie sie keine Lust hatten, gegenüber den Arbeitgebern eine Homeoffice-Pflicht durchzukämpfen oder eine echte Reisebeschränkung für alle. Hätten sie es getan und damit die Regeln für Erwachsene verschärft, hätten sie die sinnvollen Lockerungen für Kinder umso selbstbewusster vertreten können.

 

Stattdessen jedoch einfach auf Formulierungen in dem Beschluss zu verweisen, die eindeutig klingen, aber wenn man sie formaljuristisch genug strapaziert, doch genug Spielräume für Alleingänge eröffnen, ist nicht nur ärgerlich und unehrlich. 

 

Versagt die Politik
in ihrer Vorbildfunktion?

 

Es wird auch zu dem führen, was Schleswig-Holsteins Kultusministerin Karin Prien (CDU) heute Morgen sagte. Ihr Land hat derzeit bundesweit die niedrigste Inzidenz, doch sie wolle sich an die Beschlüsse in ihrer ursprünglichen Bedeutung halten. "Wenn einzelne Regierungschefs, noch bevor die Tinte unter der Vereinbarung trocken ist, schon wieder überlegen, wie man sie großzügig interpretieren oder Ausnahmen in Anspruch nehmen kann, dann führt das dazu, dass die Bevölkerung für sich genauso handelt und die Lockdown-Maßnahmen am Ende insgesamt nicht die Wirkung haben, die wir uns wünschen." Die Politik habe da eine Vorbildfunktion zu erfüllen.

 

Was lassen die Beschlüsse denn Prien zufolge zu? Dass man die Schulen, abgesehen von den Abschlussklassen, vor Februar nur dort wieder öffnen könne, wo die Inzidenz landesweit "deutlich und dauerhaft" zurückgegangen sei. "Wenn das in Schleswig-Holstein der Fall ist, dann gibt es auch bei uns Ende Januar schon wieder Präsenzunterricht, aber nur dann."

 

Die Folge des Länderchef-Geschiebes wird nun darin bestehen, dass sich das schon vor den gestrigen Beschlüssen bestehende Regelungschaos weiter verschärft. Es gibt viele Länder, da sind die Kitas schon jetzt faktisch auf, nur dass den Eltern nahegelegt wird, ihre Kinder möglichst zu Hause zu lassen – was diese im Übrigen in einen ziemlichen Gewissenskonflikt stürzt, in dem die Politik sie allein lässt. In anderen Ländern sind und bleiben die Kitas komplett dicht. Jetzt wird sogar denkbar, dass in Ländern mit höherer Inzidenz die Grundschüler bald jeden Tag Präsenzunterricht haben, während sie in Ländern mit niedriger Inzidenz zu Hause sitzen.




Nachtrag am 06. Januar, 16.00 Uhr
Es sieht so aus, als würde die überwiegende Zahl der Länder sich zunächst an den Geist der Beschlüsse halten. Berlin, Niedersachsen und Baden-Württemberg haben allerdings vor, unabhängig von einer bestimmten 7-Tages-Inzidenz bereits vor dem 25. Januar wieder (teilweisen) regulären Präsenzunterricht abseits von Abschlussklassen oder Förderschulen anzubieten. Für die letzte Januarwoche halten sich weitere Länder die Entscheidung allerdings offen. 

 

Nachtrag am 06. Januar, 14.00 Uhr:
Für Debatten und unter vielen Eltern für Empörung sorgt derweil die Beschränkung privater Treffen auf den eigenen Haushalt plus maximal eine Person eines anderen Haushaltes. Bei der bisherigen großzügigeren Regelung (ein weiterer Haushalt, maximal fünf Personen) waren Kinder unter 14 Jahren ausgenommen gewesen. Diese Ausnahme entfällt jetzt.

 

"Wo ist die Familienministerin abgetaucht?", twitterte heute Vormittag der familienpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. "Kinder dürfen kaum mehr zusammen spielen, auch nicht draußen. Private Betreuungsmodelle verboten. Scheidungsgeschwister können nicht mehr zusammen zum anderen Elternteil. Das wird zur emotionalen Überlastung für Eltern und Kinder."

 

Der Twitter-User Christian Möller schrieb: Großraumbüro: gehe weiter in Ordnung. Doch "Alleinerziehende*r mit 1 Kind trifft andere*n Alleinerziehende*n mit 1 Kind auf dem Spielplatz": ab jetzt verboten. "Seriously?"

 

Im November waren Bund und Länder von Kinderärzten und Pädagogen scharf für ihre damaligen Appell kritisiert worden, jedes Kind solle sich nur noch mit einem Freund oder einer Freundin treffen. In den im Dezember beschlossenen Kontaktbeschränkungen fehlte dieser Passus dann.

 

Spannend wird, welche Ausnahmeregelungen einzelne Bundesländer sich bei der Umsetzung des gestrigen Beschlusses einfallen lassen. Berlin etwa will offenbar eine Sonderregel für Alleinerziehende einführen. Was sinnvoll wäre.

 

Noch sinnvoller wäre es freilich, wenn sich die Regierungschefs gleich auf klare, inhaltlich nachvollziehbare und vor allem auch durchsetzbare Regeln einigen würden. In diesem Fall wäre dies wohl gewesen: Maximal ein Erwachsener eines anderen Haushalts, die Kinder werden weiter nicht mitgezählt oder auf eine bestimmte Höchstzahl begrenzt. 


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Kommentare: 1
  • #1

    T. (Mittwoch, 06 Januar 2021 11:58)

    Was auch fehlt, ist ein Durchdeklinieren der Folgen für die Beschulung. Gegenüber dem rbb hat hat die Berliner Senatsverwaltung für Bildung heute morgen bestätigt, dass das im Frühjahr praktizierte Verschlechterungsverbot für Berliner Schüler im jetzigen Lockdown nicht mehr gilt. Es gilt: Volle Benotung zu Hause erbrachter Leistungen. Das reicht den Druck an die Kinder nach unten durch und ist sozial extrem ungerecht. Mit den Zeugnissen entscheiden sich zum Beispiel Schulwahl und Probejahr. Wieviel Präsenzbeschulung muss es geben in einem Halbjahr, damit Leistungsmessung sinnvoll erfolgen kann?