Warum die Absage von Abiturprüfungen ein großer Fehler wäre, unter welchen Umständen wieder Präsenzunterricht möglich sein wird
und warum selbst ein verlängertes Schuljahr kein Tabu sein darf:
Ein Interview mit Lehrerverband-Chef Heinz-Peter Meidinger.
Heinz-Peter Meidinger, 66, ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Bis August 2020 war er Schulleiter am Robert-Koch-Gymnasium in Deggendorf. Foto: Deutscher Lehrerverband.
Herr Meidinger, die neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Britta Ernst, sagt, sie sei "zuversichtlich", dass alle Bundesländern normale Abitur- und andere Abschlussprüfungen werden durchführen können. Was sagen Sie?
Na ja, realistischerweise haben sich ja bereits viele Bundesländer entschieden, genau das nicht zu tun. Erst gestern hat zum Beispiel Hamburg bekanntgeben, die demnächst anstehenden Prüfungen für den Ersten Allgemeinen Schulabschluss (ESA) – die frühere Hauptschulprüfung – ausfallen zu lassen. Berlin und weitere Länder haben die schriftlichen Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss (MSA) abgesagt – schon zum zweiten Mal nach dem Vorjahr. Als Lehrerverband kritisieren wir das scharf. Denn Abschlussprüfungen sind eine Frage der Bildungsgerechtigkeit.
"Abschlüssen, die ohne Prüfung vergeben werden, könnte ein dauerhafter Makel anhaften"
Wie bitte? Ist es nicht fairer, Prüfungen ausfallen zu lassen, als sie auf dem Höhepunkt der Pandemie auf Teufel komm raus durchzuziehen – erst recht, wenn dann Inhalte abgefragt werden, die dem Unterrichtsausfall zum Opfer gefallen sind?
Das mit den Inhalten lässt sich regeln. Dazu sage ich gleich gern noch etwas. Aber grundsätzlich gilt, dass Abschlüssen, die ohne Prüfung vergeben werden, ein dauerhafter Makel anhaften könnte. Nach dem Motto, das seien ja Abschlüsse light. Deshalb war ich sehr froh, dass die Kultusminister sich im vergangenen Jahr nach lebhafter Diskussion gegen eine Absage der Abiturprüfungen entschieden haben, und ich bin optimistisch, dass sie es dieses Jahr wieder tun werden.
Was Ihrer Logik zufolge ja eine krasse Ungleichbehandlung wäre: ESA und MSA-Prüfungen lässt man ausfallen, die Abi-Prüfungen zieht man aber durch? Ist das Abitur die heilige Kuh des Bildungsbürgertums?
Richtig ist, dass bei den Abiturprüfungen alle ganz genau hinschauen und auch die KMK sie besonders auf dem Schirm hat, weil hinter den Abiturienten eine artikulationsstarke Bevölkerungsgruppe steht. Dass der Mittlere Schulabschluss im Vergleich dazu weniger ernst genommen wird, ist ärgerlich und eigentlich nicht zu rechtfertigen. Dass denjenigen, die direkt weiter Richtung Abi gehen, die MSA-Prüfungen erspart bleiben, würde ich ja noch unterstützen. Aber wenn das bei allen passiert, auch bei denen, die von der Schule abgehen, ist das genau der negative Stempel, vor dem ich warne.
Dann sagen Sie doch mal, wie Sie erreichen wollen, dass trotz Unterrichtsausfalls und hoher Inzidenzzahlen die Prüfungen halbwegs normal ablaufen sollen.
Natürlich müssen wir auf das Infektionsgeschehen schauen, und wenn das Ende Januar noch unvermindert hoch ist, bekommen wir mit Sicherheit große Probleme sowohl, was die ausreichende Vorbereitungszeit angeht, als auch die Prüfungen selbst. In Rheinland-Pfalz geht es ja demnächst schon los. Es gibt aber mehrere Schrauben, an denen man drehen kann.
Zum Beispiel?
Ich finde den von der KMK vergangene Woche gefassten Beschluss richtig, dass die Schüler der Abschlussjahrgänge eine hohe Priorität genießen, sobald eine stufenweise Rückkehr in den Präsenzunterricht möglich wird. Keine höhere als die von Grund- und Förderschülern, aber auf derselben Stufe. Und ich glaube, dass man für Abschlussklassen sehr wohl Hygienebedingungen schaffen kann, inklusive Mindestabstand und Maskenpflicht, die auch eine Rückkehr bei einer Inzidenz von über 50 ermöglichen.
"Wir müssen aufpassen, dass beim Abitur
die Vergleichbarkeit erhalten bleibt"
Also bei mehr als 50 gemeldeten Covid-19-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in den vergangenen sieben Tagen?
Genau. Sicherlich wird man Anpassungen vornehmen müssen bei dem abgefragten Stoff. Es wird auf Inhalte verzichtet werden müssen – vor allem auf diejenigen, die normalerweise ganz am Schluss durchgenommen werden. Eine Reihe von Bundesländern hat schon Streichlisten veröffentlicht mit in diesem Jahr ausnahmsweise verzichtbaren Lehrplaninhalten etwa in der 12. Jahrgangsstufe. Schaut man genauer in die Listen rein, sieht man: An den Basics, den zentralen Anforderungen wurde in aller Regel nicht gekürzt. In Bayern wurde beispielsweise im Fach Deutsch die bisher vorgesehene Schulung rhetorischer Fähigkeiten gestrichen. Schade, aber für die schriftliche Abiturprüfung verzichtbar. Wir müssen aber aufpassen, dass die Vergleichbarkeit erhalten bleibt.
KMK-Präsidentin Ernst versichert aber, dass die Kultusminister "die gemeinsamen KMK-Standards absichern".
Ja, aber gleichzeitig ist längst absehbar, dass der gemeinsame Abitur-Aufgabenpool der KMK, der eigentlich eine immer größere Bedeutung spielen soll, dieses Jahr erneut eine weitaus geringere haben wird. Die Länder werden in den nächsten Wochen allesamt nochmals über die Abituraufgaben für dieses Jahr gehen und nachjustieren, wo sie besondere Schwierigkeiten erwarten.
Machen Sie nicht gerade selbst das Abitur des Jahrgangs 2021 schlecht, dessen Wert Sie eigentlich hochhalten wollen?
Ich plädiere für Realismus. Dazu gehört, dass angepasste Prüfungsaufgaben und vielleicht auch mehr Auswahlmöglichkeiten bei Prüfungsaufgaben für die Abiturienten in jedem Fall besser sind als keine Prüfungsaufgaben und als ein Abschlusszeugnis, das allein aus den Durchschnittsleistungen früherer Halbjahre errechnet wird. Das würde als der eigentliche Qualitätsverlust wahrgenommen werden. Was aber auch nicht passieren darf: dass man zwar Prüfungen durchführt, dann aber völlig andere Anforderungen herrschen als normalerweise. Indem zum Beispiel auf bestimmte Prüfungsfächer komplett verzichtet würde, sie also gar nicht eingebracht werden müssten. Oder indem man den Anteil der Abschlussprüfungen an der Gesamtnote verringert. Das würde das Signal senden: Die Prüfungen waren am Ende doch weniger wert.
Auch KMK-Präsidentin Ernst sagt, wenn im Februar die Inzidenzen immer noch so hoch seien, dann müsse man die "Situation neu bewerten". Wären in dem Fall Online-Abiturprüfungen eine Alternative?
Die halte ich kaum für möglich, weil wir mit solchen Formaten in Deutschland zu wenig Erfahrungen haben. Man könnte da sicher etwas entwickeln, aber bei der großen Bedeutung sicher nicht auf die Schnelle. Derzeit wäre es wohl unmöglich, Online-Prüfungen so abgesichert hinzubekommen, dass wir von wirklich gerechten Bedingungen sprechen könnten. Was dagegen längst passiert: dass zum Beispiel Referate online gehalten werden, die dann über die Kursnoten ins Abitur einfließen. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber nochmals daran erinnern, dass es den Schulen im vergangenen Frühjahr gelungen ist, die Abiturprüfungen unabhängig von der Inzidenz bei sehr guten Sicherheitsstandards in Präsenz durchzuführen. Natürlich bleibt als weitere Möglichkeit, die Prüfungstermine weiter nach hinten zu schieben. Auch das haben viele Länder für dieses Jahr bereits erneut beschlossen, aber es gibt da eine Grenze.
"Die Verlängerung dieses
Schuljahrs darf kein Tabu sein"
Welche Grenze meinen Sie?
Am Ende muss genug Zeit bleiben, dass die Abiturienten sich noch um einen Studienplatz bewerben bzw. Absolventen des ESA oder des mittleren Bildungsabschlusses noch einen Ausbildungsvertrag abschließen können. Vielleicht müssen wir uns aber auch von bisherigen Denksperren befreien, wenn es uns nicht gelingt, das Infektionsgeschehen bald unter Kontrolle zu bekommen. Bevor wir Abschlussprüfungen unter unmöglichen Umständen durchführen, bevor wir junge Menschen mit zu großen Stofflücken in die Welt entlassen, darf die eventuelle Verlängerung dieses Schuljahres kein Tabu sein. Warum sollten die Universitäten das nicht ausnahmsweise einmal ermöglichen, indem sie im Sommersemester die Kapazitäten schaffen, die sie normalerweise für das Wintersemester vorbehalten? Allerdings ist es für solche Spekulationen zu früh. Derzeit gehe ich davon aus, dass die Bundesländer das mit den Abschlussprüfungen hinkriegen werden.
Muss man nicht den Schülern anderer Jahrgangsstufen mehr Zeit einräumen?
Ich habe schon mehrfach angeregt, dass wir ein Wiederholungsjahr für alle ermöglichen sollten, die dies wünschen. Für den aktuellen Abiturjahrgang ist die Situation allerdings noch schwieriger: Ein Teil schleppt ja bereits die Stofflücken aus dem ersten Lockdown mit sich herum. Letztes Jahr hat man den Oberstufenschülern zum Beispiel in Bayern ermöglicht, fehlende Noten des zweiten Halbjahrs durch die des ersten Halbjahres zu ersetzen, wenn diese günstiger waren. Das funktioniert natürlich kaum, wenn es nicht einmal ein vollständiges erstes Halbjahr gab.
Am Montag sind in den letzten Bundesländern die Weihnachtsferien zu Ende gegangen, jetzt wird auch dort in Distanz gelernt. Ihre erste Bilanz?
Die Schulen sind grundsätzlich deutlich besser aufgestellt als beim ersten Lockdown. Die Lehrkräfte profitieren von den damals gemachten Erfahrungen und von den vielen Lösungen, die sich die Schulen haben einfallen lassen. Auch wenn heute immer noch zeitweise die staatlichen Lernplattformen zusammenkrachen, bedeutet das nicht mehr, dass in den Schulen nichts passiert. Denn sie haben sich längst unabhängig gemacht: In Bayern zum Beispiel wird Mebis nur noch von einer Minderheit der Schulen genutzt. Die übrigen haben ihre eigenen Lernsysteme aufgebaut, erreichbar über ihre Schulwebsites, oder sie sind auf kommerzielle Angebote ausgewichen. Alle Länder haben zudem Regeln für die Art und den Umfang von Distanzunterricht definiert und die Teilnahmepflicht für alle Schüler klargestellt. Trotzdem gehört zur Wahrheit: Manche Schüler werden durch den Distanzunterricht immer noch kaum erreicht. Er bleibt weniger effektiv und insgesamt weiter die schlechtere Lösung im Vergleich zum Präsenzunterricht. Zumindest aber ist die Effektivitätslücke zwischen beidem etwas kleiner geworden. Besonders motiviert und erfolgreich sollen übrigens, wen wundert’s, die Abschlussjahrgänge beim Distanzlernen sein. Einige Schüler, höre ich, fallen sogar als fleißiger auf als im Klassenraum.
"Solange es beim KMK-Stufenplan für die Schulen keine
Inzidenz-Richtwerte gibt, bleibt der Flickenteppich"
Die Öffentlichkeit streitet weiter heftig über die Frage, ob die gegenwärtigen Kita- und Schulschließungen berechtigt sind und wenn ja, unter welchen Umständen. Auch in den Lehrerkollegen scheint es da große Meinungsunterschiede zu geben.
Eine Mehrheit der Lehrerschaft ist für Distanzunterricht bei hohen Inzidenzzahlen. Zugleich ist aber eine große Minderheit dafür, selbst bei Inzidenzzahlen knapp unter 200 zumindest Wechselunterricht zu ermöglichen. In zwei Bundesländern sagt das laut einer neuen Umfrage sogar die Mehrheit der Lehrkräfte. Und für die Rückkehr von Abschlussklassen ist die Unterstützung am größten. Das Bild ist also gespalten. Ich habe es ja vorhin schon gesagt: Als Lehrerverband begrüßen wir, dass die KMK einen Stufenplan für die Rückkehr zum Präsenzunterricht beschlossen hat, das entspricht auch der Forderung, die wir vor zehn Tagen gemeinsam mit der Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) veröffentlicht haben. Wir unterstützen auch die Reihenfolge, dass zuerst die jüngeren Schüler zurückkehren sollen und dass die Abschlussklassen ebenfalls mit Vorrang behandelt werden. Das ist ein Fortschritt. Was nach wie vor fehlt und wovor die KMK zurückgeschreckt ist, ist die Verknüpfung ihres Stufenplans mit klaren Inzidenz-Richtwerten. Solange es solche Richtwerte nicht gibt, bleibt es bei dem willkürlichen Flickenteppich, den wir sehen.
Und wenn es die Richtwerte gibt?
Dann haben wir immer noch einen Flickenteppich, aber wenigstens einen wegen des unterschiedlichen Infektionsgeschehens rational begründeten.
Sie kritisieren die KMK dafür, dass sie keine Richtwerte beschlossen hat. Allerdings haben Sie in Ihrer gemeinsamen Forderung mit der DAKJ auch keine genannt – weil Sie sich nicht drauf verständigen konnten?
Als Lehrerverband haben wir das in dem gemeinsamen Papier nicht explizit erwähnt, aber wir plädieren weiter dafür, die Richtwerte an den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) auszurichten. Die Kinder- und Jugendärzte haben eigene Stufenpläne ausgearbeitet, die sich allerdings gar nicht so stark von denen des RKI unterscheiden. Einig sind wir uns aber in der zentralen Frage, dass es einen an Richtwerte gekoppelten Stufenplan geben muss, den die Politik bis heute ablehnt.
Wenn Sie schon als zwei Organisationen nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen, halten Sie es dann für fair, das von 16 Kultusministerien zu fordern, die allesamt wieder ihre eigenen wissenschaftlichen Berater haben?
Wir haben als Verband nicht die Aufgabe, eine gesamtgesellschaftlich akzeptierte Lösung hinzubekommen. Ich erkenne an, dass die Politik da eine ganz andere Verantwortung trägt und vor einer sehr schwierigen und komplexen Aufgabe steht. Sie muss die unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Interessen zusammenbringen. Aber eines darf sie nicht tun: Die Empfehlungen der Fachexperten in den Wind schlagen. Übrigens lassen auch die RKI-Empfehlungen noch Gestaltungsraum offen, so werden darin beispielsweise keine Richtwerte dafür genannt, wann man vom Wechselbetrieb in den kompletten Distanzunterricht wechseln soll und auch eine altersspezifische Differenzierung fehlt, die ja auch aus infektiologischen Gesichtspunkten sinnvoll sein könnte.
Und dann richten sich die Schulen nach einem Stufenplan und machen ständig auf und zu, während der Rest der Gesellschaft nach dem Ende des Shutdowns weitermacht wie zuvor? Wäre das fair?
Das wäre nicht fair. Darum sollte - und das sage ich jetzt als Bürger und nicht als Lehrerverbandsvorsitzender - parallel zu einem Stufenplan für die Schulen auch ein inzidenzbasierter Stufenplan für andere gesellschaftliche Bereiche, für die Gaststätten, für den Einzelhandel, für die Kultur und für die Büros, beschlossen werden. Dann wäre klar: Es machen nicht nur die Schulen zu, sondern das Senken des Infektionsgeschehen ist immer eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Menschen könnten sich mit Blick auf die regionale Inzidenz auf das jeweils nächste Szenario einstellen, und Schließungen in Schulen und anderswo hätten eine viel höhere Akzeptanz.
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