Die offiziellen Corona-Zahlen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland sind zwischenzeitlich stark gesunken. Also eine klare Sache? Bei genauerem Hinsehen nicht so ganz.
AUF DEN ERSTEN BLICK waren es beeindruckende Rückgänge. Innerhalb von zwei Wochen hat sich die Zahl positiv getesteter Kitakinder mehr als halbiert. Meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) für Kalenderwoche 51 (14. bis 20. Dezember) noch 3118 neue Corona-Infektionen in dieser Altersgruppe, waren es in Woche 53 (28. Dezember bis 03. Januar) nur noch 1534. Ein ähnliches Bild bei den 5- bis 14-jährigen Kindern und Jugendlichen: Statt 9535 Fällen in KW 51 vierzehn Tage später nur noch 4559. Währenddessen betrug der Rückgang über alle Altersgruppen hinweg gerechnet nur knapp 30 Prozent (51.738 Fälle). Ein klares Anzeichen, dass die von Bund und Ländern Mitte Dezember beschlossenen Kita- und Schulschließungen wirken?
Es ist eine angesichts der Heftigkeit des Streits um Sinn und Unsinn der Schließungen zentrale Frage, und es ist verständlich, dass sich alle klare Antworten wünschen: Jene, die die Schließungen für gerechtfertigt halten, genau wie alle, die glauben, dicht gemachte Bildungseinrichtungen leisteten nur einen vergleichsweise geringen Beitrag zur Corona-Eindämmung und seien deshalb sozial nicht oder nur schwer vertretbar.
Doch ist es für Schlussfolgerungen
noch zu früh
Die Vergleichswerte (KW 51 und 53) scheinen zunächst einmal sinnvoll gesetzt: Der letzte reguläre Schultag in allen Bundesländern war der 11. Dezember, bis Mitte der folgenden Woche (16. Dezember) gingen aber vielerorts noch ein Großteil der Kinder in die Kitas und die Schulen. Das RKI geht davon aus, dass das aktuelle Infektionsgeschehen jeweils acht bis 16 Tage später auf die Meldezahlen durchschlägt. Woraus folgt: Frühestens könnten sich die Auswirkungen der Schließungen ab dem 19. Dezember in den Zahlen zeigen, spätestens ab Anfang Januar. Womit plausibel ist, dass die Kalenderwoche 52 (ab 21. Dezember) höchstens teilweise die Lage vor den Schließungen abbildet, die Kalenderwoche 53 dagegen mehr oder weniger vollständig.
Doch kommt dem Vergleich etwas Wichtiges in die Quere: Zwischen KW 51 und 53 ist die bundesweite Zahl der Corona-Tests feiertagsbedingt um mehr als 50 Prozent eingebrochen: von gut 1,6 Millionen auf knapp 790.000. Noch dramatischer war der Test-Rückgang ausgerechnet bei den 0- bis 4-Jährigen und bei den 5- bis 14-Jährigen mit jeweils gut zwei Dritteln. Weshalb schon zu vermuten war, dass zumindest ein Teil des stark überdurchschnittlichen offiziellen Corona-Rückgangs in dieser Altersgruppe testbedingt war.
Eine These, für die es jetzt erste Belege gibt: In der ersten Kalenderwoche des neuen Jahres stieg die Gesamtzahl der Tests wieder über eine Million, was allerdings immer noch deutlich unter den Werten von Mitte Dezember liegt. Ob und wie stark auch die Tests bei den Kindern und Jugendlichen zugenommen haben, wird das RKI morgen bekanntgeben. Klar ist: Im Vergleich zur Vorwoche haben die Neuinfektionen nicht nur insgesamt (auch durch das Mehr an Tests) wieder einen Sprung nach oben gemacht, nach vorläufigen Zahlen von 122.704 um knapp 15 Prozent auf 143.430. Sondern die gemeldeten Neuinfektionen bei Kindern und Jugendlichen stiegen zudem überdurchschnittlich um 24 Prozent (0- bis 4-Jährige) und knapp 19 Prozent (5- bis 14-Jährige).
Doch würde hierdurch das überdurchschnittliche Minus seit den Schulschließungen ja nur verringert, könnte man jetzt argumentieren.
Aber es wird noch komplizierter. Weil die Testzahlen erstens immer noch nicht auf dem Mitte-Dezember-Vergleichsniveau angekommen sind und dies vermutlich auch für die Kinder und Jugendlichen gilt. Und weil zweitens, und das ist das wirklich Faszinierende, der starke relative Rückgang bei den offiziell registrierten Infektionen zumindest bei den 5- bis 14-Jährigen deutlich vor dem Zeitraum einsetzte, indem sich die Kita- und Schulschließungen auswirken konnten.
Eine Zeitreihe für die 0- bis 4-Jährigen. In der Kalenderwoche 49 (ab 30. November) stellten sie 1,81 Prozent aller in diesem Zeitraum registrierten neuen Corona-Fälle. In KW 50 dann 1,73 und in KW 51 1,80. Dann der große Sprung runter auf 1,53 Prozent in KW 52 und 1,23 Prozent in KW 53. Und zuletzt wieder der leichte Sprung nach oben auf 1,48 Prozent.
Eine Zeitreihe für die 5- bis 14-Jährigen. In KW 49 6,89 Prozent, in KW 50 6,36 Prozent, in KW 51 5,48 Prozent. In KW 52 dann 4,59 Prozent und in KW 53 3,66 Prozent. Und auch hier der Gegentrend in Kalenderwoche 1: 3,91 Prozent.
Bei den Kitakindern wäre also der starke Rückgang konsistent mit den Kitaschließungen, wenn denn, siehe oben, den Testzahlen zu trauen wäre. Bei den Kindern und Jugendlichen zwischen 5 und 14, also der Haupt-Schulklientel, gilt das so nicht. Es gab schon zwischen Ende November und Mitte Dezember einen relativen Rückgang an allen Neuinfektionen um 1,4 Prozentpunkte. Was nicht nur vor den Schließungen war, sondern auch vor dem Rückgang der Tests. Zwischen Mitte Dezember und Anfang Januar ging der Anteil dann um weitere knapp 1,8 Prozent zurück, bevor er wieder um 0,25 Prozentpunkte anstieg.
Der relative Rückgang war auch
vor den Schulschließungen stark
Anders formuliert: Zwischen Ende November und Mitte Dezember, vor den Schulschließungen, war der relative Rückgang bei den Schulkindern nahezu genauso stark wie nach den
Schulschließungen – obwohl sich die Testzahlen im ersten Zeitraum vermutlich noch dazu auf deutlich höherem Niveau befanden.
Es bleibt also abzuwarten, wie die Datenlage sich weiterentwickelt. Erst dann sollten weitere Schlüsse gezogen werden – soweit das angesichts der grundsätzlich schwachen Statistiklage in Deutschland möglich ist.
Denn im Gegensatz etwa zu Großbritannien war die Bundesrepublik noch immer nicht imstande, ein regelmäßiges repräsentatives Bevölkerungssample zu etablieren. Nur damit wäre aber unabhängig von schwankenden Testhäufigkeiten etc. klar, wie sich die Infektionslage für welche Altersgruppe entwickelt. Auch der Verweis auf Samples in anderen Ländern, der oft ersatzweise herangezogen wird, bringt nur bedingt etwas – weil dort die politischen Maßnahmen andere sind und Unterschiede in der Demographie hinzukommen.
Stattdessen müssen die deutsche Politik und Öffentlichkeit im Nebel stochern – und wohl oder übel an dem heruminterpretieren, was an Daten da ist. Eines der ganz großen Versäumnisse der Politik in der Bekämpfung der Pandemie, da sie deshalb ständig Entscheidungen treffen muss, deren Wirkung sie empirisch nicht richtig überprüfen und belegen kann. Das zehrt an ihrer Effektivität und an der Akzeptanz.
In jedem Fall aber wäre es angesichts der vorhandenen Statistiken zu den aktuellen Infektionsmeldungen bei Kindern und Jugendlichen gut, wenn alle Beteiligten einmal Luft holten. Für die These, es habe vor den Schließungen ein überdurchschnittlich dynamisches Infektionsgeschehen unter Kindern und Jugendlichen gegeben, gibt es keine Belege in den Meldezahlen – im Gegenteil. Für die These, die Schließungen würden deshalb nur eine unterdurchschnittliche Eindämmungswirkung entfalten, allerdings bislang auch nicht.
Am Ende entscheidet sich die Frage der Überdurchschnittlichkeit ja auch an der Frage, wie stark die Erwachsenen sich selbst einschränken. Und solange die Büros offenbleiben, wäre sogar eine möglicherweise geringere Wirkung der Schulschließungen immer noch vergleichsweise viel. Nur wäre genau das politisch-ethisch zu beanstanden: Hieße es doch, dass die Erwachsenen die Kinder ausbremsten, um selber fast wie bisher weitermachen zu können.
Zur Abwechslung mal gute Nachrichten
Einen – vergleichsweise – objektiven Lichtblick in der Corona-Statistik gibt es immerhin. Die Zahl der auf Intensivstationen behandelten Corona-Patienten sinkt seit 04. Januar durchgängig. Gestern Abend meldete das RKI 5289 – 473 (9 Prozent) weniger als auf dem Höhepunkt acht Tage zuvor. Zeichnet sich hier eine Trendwende ab, die Meldestatistik bei den Neuinfektionen aus den oben genannten Gründen noch nicht hergibt? Schön wär's. Bei der täglichen Zahl der Verstorbenen ist noch keine Umkehr zum Besseren zu sehen, doch würde sie sich hier noch später abbilden.
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