Die Regierungschefs beschließen mehr Adhoc-Maßnahmen, offenbaren dabei erneut eine zweifelhafte Prioritätensetzung – und bleiben die langfristige Perspektive schuldig.
ES WAR DIE LETZTE CHANCE für die Regierungschefs von Bund und Ländern, die Corona-Maßnahmen zu verschärfen, zugleich die Lasten fairer zu verteilen und den Menschen eine klare Perspektive für die Zeit nach dem Shutdown zu geben. Die letzte Chance, weil die gemeldeten Infektionszahlen schon jetzt so stark sinken, dass beim nächsten Corona-Spitzentreffen zwischen Kanzlerin und Ministerpräsidenten das Gefeilsche um die Lockerungen losgehen wird. Doch Merkel & Co haben die Chance nicht genutzt. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch die nächsten Monate der Pandemie von Adhoc-Maßnahmen ohne langfristige Strategie bestimmt sein werden, begleitet von einer weiter sinkenden gesellschaftlichen Akzeptanz.
Die Corona-Maßnahmen nicht ausreichend verschärft
Eine echte nächtliche Ausgangssperre kommt in den Maßnahmen gar nicht vor. So bleibt es bei der halbherzigen "15-Kilometerleine", die nur bei Höchstinzidenzen von über 200 gilt und deshalb in den nächsten Tagen in immer weniger Kreisen zur Anwendung kommen wird.
In Bezug auf den unzureichenden Schutz von Alten- und Pflegeheimen enthält der zehnseitige Beschluss nach der gestrigen Telefonkonferenz viel Rhetorik, Copy and Paste aus dem vorigen Beschluss – und substanziell nichts Neues. Dafür aber erneut ein Abschieben der Verantwortung an die Heime, die die verlangten Testungen mehrmals pro Woche für das Personal und die (immer noch nicht flächendeckende!) Schnelltestpflicht für Besucher durchsetzen sollen: "Die Einrichtungen sind in der Verantwortung, eine umfassende Umsetzung der Teststrategie sicherzustellen." Und das, obwohl die Regierungschefs nur einen Satz zuvor selbst anerkannt haben, dass die Einrichtungen dies aufgrund fehlender Kapazitäten oftmals gar nicht können. In Wirklichkeit hat die Politik nämlich die Heime viel zu lang im Stich gelassen. Sie hat zu spät reagiert und aktiviert erst jetzt Bundeswehrsoldaten und weitere Freiwillige zur Unterstützung.
Gottesdienste bleiben weiterhin zulässig – unter Auflagen zwar, und doch ist erstaunlich, wieviel Spielraum die Regierungschefs ausgerechnet in einem Bereich lassen, der in den vergangenen Monaten nachweislich nicht unerheblich zum Infektionsgeschehen beigetragen hat. Sie begründeten dies in der Vergangenheit immer wieder mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit – während sie die Grundrechte an anderer Stelle längst eingeschränkt haben.
Gut: Eine Pflicht zum Tragen von medizinischen Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften. Und doch halbherzig: Denn neben den FFP2- oder KN95/N95-Masken dürfen das auch die deutlich günstigeren und wohl weniger leistungsfähigen OP-Masken sein. Warum? Weil Bund und Länder fürchten, dass das Angebot an ersteren nicht reicht und sie zudem die Kosten für ihre Anschaffung für alle nicht tragen wollen.
Unzureichend und schwammig auch die so lange überfällige und nun endlich angekündigte Pflicht für Arbeitgeber, ihren Beschäftigten das Arbeiten im Homeoffice zu ermöglichen – "überall, dort, wo es möglich ist" und "sofern die Tätigkeiten es zulassen". Die Formulierung ist lasch, ihre Umsetzung unklar, denn das Bundesarbeitsministerium muss die nötige, bis 15. März zu befristende Verordnung erst noch formulieren – "kurzfristig", wie es heißt. Unverständlich, warum das nicht längst schon passiert ist und den Regierungschefs nicht schon ein Entwurf vorlag, den sie nur noch hätten abnicken können.*
Die Lasten bleiben ungleich verteilt
Da sich zuletzt immer deutlicher zeigte, dass die bisher beschlossenen Maßnahmen funktionieren und die 7-Tages-Inzidenzen deutlich drücken, ist die halbherzige Verschärfung vielleicht nachvollziehbar. Zu rechtfertigen ist sie indes nicht, falls die Virusmutationen sich wie befürchtet in einiger Zeit doch stärker auch in Deutschland auswirken und das Infektionsgeschehen wieder zunimmt. Dann wird man die Regierungschefs daran erinnern müssen, dass sie vor dem absehbaren Beginn der breiten Lockerungsdiskussion die vorerst letzte Gelegenheit zur Verschärfung nicht genutzt haben.
Ihre Versäumnisse werden umso ärgerlicher, weil sie verbunden sind mit einem Ungleichgewicht der Belastungen. Diese ist schon an der Wortwahl erkennbar. Die Kita- und Schulschließungen etwa gehen bis mindestens Mitte Februar weiter, sollen jetzt aber noch dazu "restriktiv" umgesetzt werden. Während die Weichmacher bei der Homeoffice-Pflicht für Erwachsene bereits zur Sprache kamen. Mit anderen Worten: Es sollen mehr Kinder zu Hause bleiben, damit der Druck auf die Arbeitgeber nicht so groß wird.
Ob und wie sich die Forderung nach strengeren Regeln dazu führt, dass die Länder tatsächlich den vielfach liberalen Zugang zu den Bildungseinrichtungen verschärfen, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich bleibt es bei der von Landesregierung zu Landesregierung stark unterschiedlichen Auslegung. Doch das Signal, das die unterschiedliche Rhetorik in Bezug auf Kinder und Erwachsene sendet, ist eine Fortsetzung der bisherigen Corona-Politik und bitter– vor allem vor dem Hintergrund all der Versprechungen auch der Kanzlerin, das Offenhalten der Kitas und Schulen sei eine der beiden Top-Prioritäten in der Pandemie.
Schwierig ist auch, dass die Art, wie die Maskenpflicht verschärft wird, neue soziale Unwuchten schafft. Für einen finanziell gut aufgestellten Haushalt bedeutet die Anschaffung der hochwertigsten Schutzmasken, insofern sie lieferbar sind, kein Problem. Doch für die ärmeren führt die Pflicht, weil Bund und Länder nicht die Kosten übernehmen wollen, zu einer merklichen Belastung – und, wenn das Geld nicht reicht, zu einem Mobilitätsverlust. Im Zweifel werden sie sich zudem mit den günstigeren OP-Masken begnügen müssen. Was noch dazu bedeutet, dass für die Gesellschaft nicht das Maximum an Corona-Eindämmung herausgeholt wird.
Weiteres Gestolper statt einem klaren Plan
Vor der Sitzung war klar: Rechtfertigen lassen sich eine erneute Verlängerung des Shutdowns und die nötigen Verschärfungen nur, wenn die Regierungschefs gleichzeitig ein langfristiges Pandemiekonzept präsentieren – inklusive der Aussicht auf Lockerungen. Gerade für die derzeit eingeschränkten Bildungs- und Teilhaberechte von Kindern und Jugendlichen wäre das eminent wichtig gewesen, aber auch für die Betreiber von Geschäften oder Restaurants. Doch diese Perspektive wird ihnen allen weiter verwehrt. Das Ziel der Maßnahmen, das bundesweite Unterschreiten der 7-Tages-Inzidenz von 50 registrierten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, wird zwar mehrfach im Beschluss genannt, aber viel wichtiger wäre ein Stufenplan gewesen, wann welche Lockerung kommt – und ab wann bei steigenden Zahlen wieder welche Verschärfung gilt.
Dadurch hätte sich die Politik die langfristige Unterstützung ihrer Corona-Politik sichern können. Nur dadurch käme sie endlich heraus aus dem atemlosen Modus immer neuer Adhoc-Beschlüsse, nur dadurch bekäme sie die Zeit und die Luft, sich auf die wichtigen Herausforderungen der nächsten Monate zu konzentrieren: die dringend nötige Steigerung der Impfgeschwindigkeit, die immer noch wenig ausgeprägte Sequenzierung, die Abmilderung der wirtschaftlichen und sozialen Kollateralschaden der Corona-Maßnahmen. Un nicht zuletzt die parlamentarische Absicherung einer Langfrist-Strategie.
Doch das einzige, was Merkel und die Ministerpräsidenten gestern in der Richtung unternommen haben, war der Auftrag an die Chefs von Kanzleramt und Staats- und Senatskanzleien, in den nächsten Wochen ein "Konzept für eine sichere und gerechte Öffnungsstrategie auszuarbeiten". Wann genau dies vorliegen soll und welche Leitplanken es haben wird? Kein Wort dazu. Wie auch: Es hat ja auch hier offenbar bislang keinerlei Vorarbeiten gegeben.
So bleibt nur eine einsame Protokollnotiz des Landes Thüringen auf der allerletzten Seite, die ein Ampelsystem vorschlägt: "Eine Inzidenz bis 35 bedeutet, das keine besonderen Maßnahmen notwendig sind: Grün. Ab 35 werden Maßnahmen wie Abstands- und Hygiene regeln umgesetzt: Gelb. Ab einer Inzidenz von 50 werden die Maßnahmen umgesetzt, wie das Schließen von Einzelhandel und Gaststätten u.ä., die sich bewährt haben, um die Inzidenz zu senken (rot). Der Katastrophenfall träte bei der Überschreitung von einer 400er Inzidenz jeweils im landesweiten Durchschnitt ein."
Und sonst?
Es gab heftigen Streit gestern Nachmittag und Abend, wodurch die Konferenz sich über viele Stunden hinzog und die Ergebnisse erst am späten Abend verkündet wurden. Der Konflikt zwischen der Kanzlerin und vor allem vielen SPD-Ministerpräsidenten drehte sich um die Behandlung der Schulen. Die Kritiker Merkels empfanden dieselbe Einseitigkeit der Maßnahmen, wie ich sie oben beschrieben habe. Sie forderten eine klare Öffnungsperspektive für die Schule.
Es muss hoch hergegangen sein. Laut Spiegel zitierten Teilnehmer der Runde Merkel wie folgt: "Wenn man die Schulen nicht schließe, werde sich der Shutdown in anderen Bereichen weiter hinziehen. So könne man etwa die Friseure nicht bis April geschlossen lassen." Sollte die Kanzlerin das wirklich so gesagt haben, sollte sie Schulen in einen solchen Gesamtzusammenhang gestellt haben, es wäre eigentlich unglaublich. Aber stimmt es wirklich? Jedenfalls wurde Merkel in der Runde offenbar vorgeworfen, sie sei zu sehr auch die Schulen fixiert. Laut Bild soll sie daraufhin gesagt haben: "Ich lasse mir nicht anhängen, dass ich Kinder quäle oder Arbeitnehmerrechte missachte."
Am Ende zählt das Ergebnis – und da setzte sich die Kanzlerin erneut durch. Die Ministerpräsidenten trugen die fortgesetzten Schließungen von Kitas und Schulen, die Verlängerung des Distanzunterrichts – bzw. die Aussetzung der Präsenzpflicht – nicht nur mit, sie waren sogar mit der Ergänzung der "restriktiven Umsetzung" einverstanden.
Angesichts der immer noch nicht wirklich absehbaren Auswirkungen der Virusmutationen auf die Pandemie nachvollziehbar – erst recht, wenn sich offenbar auch Kinder und Jugendliche wie Erwachsene auch verstärkt anstecken. Und doch in der Gesamtschau sonstiger Halbherzigkeiten bedrückend einseitig.
Die Menschen seien mehr als nur eine Rechengröße, kommentiert die Süddeutsche Zeitung, "Die kolportierte Kühle, mit der die Kanzlerin in der Bund-Länder-Runde über Bedenken mit Blick auf die Kinder hinweggegangen sein soll, weist in eine ungute Richtung – genau wie die monothematische Auswahl der Experten." Am Vorabend der Corona-Spitzenrunde hatte das Kanzleramt erneut Wissenschaftler zum Vortragen eingeladen – und dabei Kritikern zufolge hauptsächlich solche berücksichtigt, die den Blick vor allem auf die Corona-Maßnahmen richten und nicht auf deren Kollateralschaden.
Der Bildungsökonom Ludger Wößmann twitterte heute Morgen: "Arbeitgeber müssen bis zum 15. März das Arbeiten im Homeoffice ermöglichen, wenn dies für die Tätigkeit ihrer Arbeitnehmer möglich ist. Wie wär's mit: Schulen müssen bis zum 15. März das Lernen im Homeschooling ermöglichen, wenn dies für die Tätigkeit ihrer Schüler*innen möglich ist. [Solange ist natürlich Präsenzunterricht, gilt ja beim Arbeiten auch so.] Stattdessen: Schulen und Kitas bleiben bis 14. Februar geschlossen", schreibt Wößmann und fügt hinzu: "Unsere Prioritäten."
*Nachtrag: Die Verordnung wurde inzwischen beschlossen.
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Oliver Locker-Grütjen (Mittwoch, 20 Januar 2021 13:46)
Lassen wir uns nur noch treiben? Vor gut einem Jahr wurden wir durch das „Ur-Virus“ überrascht. Heute ist es die Mutation B.1.1.7, die die Politik nur noch reagieren lässt. Und morgen? Dass das Virus sich unter dem aufkommenden Impfdruck weiter verändern wird ist absehbar, weshalb die Politik schleunigst Szenarien des Agierens (zukunftsgerichtet vorausschauend) entwickeln sollte.
Dabei sollte das Bildungssystem vorrangig behandelt werden. Was haben wir im Schulsystem gelernt seit März 2020? Wenig. Wenn es also heute heißt, mehr Fahrzeuge im ÖPNV einzusetzen, um die Kontakte zu reduzieren, dann sollte endlich eine alte Forderung umgesetzt werden: Mehr Lehrer*innen in die Schulen und damit kleinere Klassen. Dies hätte nicht nur den Vorteil der Kontaktreduktion sondern auch den des deutlich individuelleren und stärker fördernden Unterrichts für unsere junge Generation.
Django (Donnerstag, 21 Januar 2021 09:48)
Es ist in dem ganzen Durcheinander ja zunehmend unklar, welches Ziel mit den Maßnahmen eigentlich verfolgt wird. Geht es nur um die Funktionstüchtigkeit der Krankenhäuser? Dann machen wir "zu viel". Geht es um die vollständige Vermeidung neuer Infektionen? Dann machen wir "zu wenig".
Dass die Politik in Sachen Home Office windelweich agiert, dürfte der Tatsache geschuldet sein, dass beim Zeigen auf andere immer drei Finger auf einen selbst zurückweisen. In den Verwaltungen ist die Qute des Zuhausearbeitens niedrig, was entweder an der Infrastruktur liegt (Berlin beschafft nun doch 5000 Laptops, ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie), aber auch an der niedrigen Digitalisierungsquote (wer Personal- oder Steuerakten in Papier bearbeitet, darf diese gar nicht mit nach Hause nehmen...). Den von Müller aufgeschlagenen Ball haben die Arbeitgeberverbände ja recht lässig retourniert...