Ob und wann Kitas und Schulen wieder öffnen sollen, gehört zu den wichtigsten Themen der Corona-Debatte. Doch gibt es auch fast drei Millionen Studierende. Was ist eigentlich mit denen und ihren Teilhabebedürfnissen?
Es braucht eine Perspektive – auch und gerade für junge Studierende.
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MAN KANN WIRKLICH nicht behaupten, dass die Republik in der Pandemie zu wenig über Bildung spricht. Oder sollte man besser sagen: streitet. Über den Sinn und Unsinn geschlossener Kitas und Schulen, über die Folgen für die Kinder und Jugendlichen, wenn Notbetreuung und Distanzunterricht noch über viele Wochen weitergehen sollten. Auch die jüngste Krisenrunde mit Kanzlerin Merkel streckte sich nur deshalb Stunde um Stunde in den späten Abend hinein, weil beim Thema Bildung die Fetzen flogen.
Wobei das ungenau ist. Denn um einen Teil des Bildungssystems wird nicht gestritten. Diskutiert eigentlich auch nur am Rande. Und in den letzten vier Corona-Beschlüssen kamen die Hochschulen nur einmal vor. Am 25. November war das. Besagte Passage umfasste genau einen Satz, er lautete: "Hochschulen und Universitäten sollen grundsätzlich (mit Ausnahme insbesondere von Labortätigkeiten, Praktika, praktischen und künstlerischen Ausbildungsabschnitten und Prüfungen) auf digitale Lehre umstellen."
Seitdem: Schweigen. Zumindest auf Seiten der Regierungschefs. Aber auch die öffentliche Berichterstattung beschränkt sich fast ausschließlich auf die Frage, wie die Hochschulen die Digitallehre bewältigen, welche Probleme sich aus der Umstellung auf digitale Prüfungsformate ergeben oder welche Unterstützung, materiell, regulativ und ideell, die Studierenden in der Pandemie benötigen.
"Wir wurden von der Politik
völlig vergessen"
Alles wichtig, und doch hat mich bewegt, was der Journalismusstudent Tom Zinram am Wochenende in einem Interview mit dem Newsportal t-online gesagt hat: "Ich hätte mir mehr Einsatz von der Regierung für Studierende gewünscht. Ständig wurde darüber diskutiert, wie es mit den Schulen weitergeht. Für die Hochschulen haben solche Überlegungen komplett gefehlt. Wir wurden von der Politik völlig vergessen."
Die finanzielle Unterstützung sei wichtig, sagte Zinram, der an der Hochschule Magdeburg-Stendal studiert, weiter. "Aber wir brauchen auch eine Perspektive, wie wir in gewisser Form in den Präsenzunterricht zurückkehren können. Auch wenn die Pandemie noch länger andauern sollte."
Nicht dass es solch eine Perspektive für die Mehrheit der Kitas und Schulen im Land gibt. Aber der Druck, sie zu eröffnen, ist enorm groß. Zu Recht. Bei den Hochschulen hingegen scheint die Auffassung vorzuherrschen, mit der Digitalsemester-Ansage sei erstmal alles zur nahen Zukunft gesagt. Währenddessen bereiten viele Wissenschaftsminister im Hintergrund schon das dritte Online-Semester ab April vor. Und es wird schon als großer Erfolg gefeiert, wenn die Fernleihe in den Unibibliotheken zugänglich bleibt.
Keine Frage: Es gibt gute Gründe, die Hochschulen unter den Bildungseinrichtungen nicht zu priorisieren. Studierende sind keine Kinder mehr, im Gegenteil: Sie gehören zu der Altersgruppe, die das Virus am meisten verbreitet hat in den vergangenen Monaten. Gleichzeitig wird von ihnen erwartet, dass sich selbst organisieren können beim Lernen – auch wenn das nicht immer der Realität entsprechen mag. Und schließlich haben die Hochschulen auch die technisch-didaktische Umstellung auf digitale Formate schon im ersten Shutdown deutlich besser gemeistert als die meisten Schulen.
Sollen Restaurants wirklich
vor Hochschulen öffnen?
Zwei Präsidenten großer Universitäten gingen zu Beginn des Wintersemesters hier im Blog sogar so weit, Wirtschaftsbetrieben bei möglichen Öffnungen den Vorzug einzuräumen. Die Schließungen würden irgendwann vorbeigehen, "und die Hochschulen sind dann immer noch da", sagte der Mainzer Unichef Georg Krausch. "Gaststätten, Kulturbetriebe und andere kleinere Unternehmungen, an denen persönliche Existenzen hängen, sind es irgendwann nicht mehr. Das ist der Unterschied." Und Günter M. Ziegler von der Freien Universität Berlin sagte, Digitalsemester seien "keine Dauerlösung, aber es funktioniert für eine gewisse Zeit. Und genau das kann ein Restaurant, wenn es keine Gäste empfangen darf, eben nur sehr bedingt."
Sehr großzügig von den beiden Hochschulchefs, mag man sagen. Vielleicht – aus Sicht von Betroffenen wie Tom Zinram, der von seinen bisherigen drei Hochschulsemester zwei im Shutdown verbracht hat – zu großzügig? Müssen sich die Hochschulen und ihre Studierenden wirklich ganz hinten anstellen, wenn es irgendwann um die Wiedereröffnung der Gesellschaft geht? Dürfen sie denn gar keine Ansprüche anmelden? Oder müssten nicht auch Hochschulchefs (und einige tun es durchaus!) stärker die Ellbogen ausfahren?
Das Präsidium der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hat am Montag ein Papier zu den Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die Hochschulen beschlossen – allerdings geht es darum allein um die Auswirkungen auf die Forschung und die in der Forschung Beschäftigen. Die Hochschulrektoren wollen erneute Schließungen im Forschungsbetrieb wie im Frühjahr vermeiden – über Perspektiven für Öffnungen im Lehrbetrieb reden sie da gar nicht erst.
Auch der Wissenschaftsrat hat sich am Montag mit einem Positionspapier zu Wort gemeldet, Titel: "Impulse aus der COVID-19-Krise für
die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland". Darin widmet sich das wichtigste wissenschaftspolitische Beratungsgremium von Bund und Ländern immerhin auch den mittel- und langfristigen Folgen des Shutdowns für Lehre und Studium. Nein, auch der Wissenschaftsrat sagt nicht, wann es wie weitergeht. Aber er zeigt auf, was – neben dem Quantensprung für die digitale Lehre und Forschung – derzeit auf der Strecke bleibt.
Von Studierenden, die "verloren" zu gehen scheinen, ist die Rede, die mangelnde Vertrautheit mit der akademischen Welt, die finanziellen Belastungen. Gleichwohl sei die Zahl der Studienabbrüche im Sommersemester noch nicht "erheblich gestiegen", doch müssten die weiteren Entwicklungen empirisch überprüft werden – auch im Hinblick auf eine Verschärfung der Ungleichheit.
Hildesheimer JugendforscherInnen verlangen
"Corona-Hochschul-Konzept 2021"
In Bezug auf die Forschung warnt der Wissenschaftsrat vor den Folgen von Kontakt- und Reisebeschränkungen, unterbrochenen Archiv- und Feldstudien, ausgefallenen Präsenzkonferenzen und geschlossenen Laboren im Sommersemester 2020 und jetzt erneut im Wintersemester. So positiv neue digitale Formate, mehr Open Data oder teilweise sogar das Homeoffice zu bewerten seien, so fehlten doch die persönlichen Begegnungen, und die praktischen Einschränkungen im Forschungsbetrieb würden mittelfristig in bestimmten Forschungsfeldern zu signifikanten Produktivitätseinbußen führen.
Was tun? Vor allem zum Nachteilsausgleich für WissenschafterInnen in frühen Karrierephasen diskutiert das Wissenschaftsratspapier (übrigens ganz ähnlich wie der HRK-Beschluss) viele sinnvolle Maßnahmen. Was die Studierenden angeht, bleibt dagegen nicht viel mehr als die Empfehlung, "das Beste aus zwei Welten" solle in der Nach-Corona-Zeit erhalten bleiben – in einem neuen Nebeneinander und einer Kombination von Präsenz- und digitaler Lehre.
Jugendforscher der Universität Hildesheim sind da in einem gestern veröffentlichten Offenen Brief an HRK und Kultusministerkonferenz konkreter geworden. "Die Hochschulen bleiben in dem Modus des digitalen Semesters, und die geringfügigen Öffnungen, die im Laufe des Sommersemesters gestattet wurden, sind im aktuellen Wintersemester gar nicht mehr diskutabel", schreiben acht ForscherInnen des Projekts "CareHOPe" und fordern ein "Corona-Hochschul-Konzept 2021", um unter anderem "eine überlegte und gelingende Rückkehr zum Präsenzmodus über hybride Formen der Hochschullehre und Studiengestaltung zeitnah voranzutreiben" – inklusive hochschulübergreifenden Standards für die unterschiedlichen Formen des Lockdowns und möglicher Öffnungen, "damit die Studierenden wissen, was auf sie zukommt und was sie erwarten können."
Ein mutiger Vorschlag. Das Mindeste aber ist, dass wir Stimmen wie der von Tom Zinram in unseren öffentlichen Debatten wieder mehr Gehör schenken. Und vielleicht sollten auch die Regierungschefs bei ihrem nächsten Corona-Beschluss mal wieder ein Wort zu den Hochschulen spendieren.
Nachtrag am 27. Januar:
Schleswig-Holstein hat einen Corona-Stufenplan für alle gesellschaftlichen Bereiche vorgelegt – inklusive einer Öffnungsperspektive für die Hochschulen. Der Ministerpräsident sieht das Konzept auch als ein Diskussionsangebot an den Rest der Republik. Alle Details hier.
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Muriel Helbig (Mittwoch, 27 Januar 2021 10:42)
In Schleswig-Holstein reden wir (Wissenschaftsministerium und Hochschulen) oft und intensiv über die Hochschulen und finden meiner Ansicht nach in einer schwierigen Situation die bestmöglichen Lösungen. Auch um die Situation der Studierenden wissen wir und bemühen uns mit ihnen gemeinsam nach Kräften, um Nachteile abzufedern - auch wenn Nachteile während einer weltweiten Pandemie ehrlicherweise weder wegzudiskutieren noch wegzuorganisieren sind. Was uns in den vergangenen Semestern gut durch die Krise gebracht hat, ist dieser intensive, lokale Austausch (der auch die unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Hochschultypen einbezieht - man denke beispielsweise an Lehre an Kunst- und Musikhochschulen im Vergleich zu anderen Hochschulen) und unsere Hochschulautonomie. Anders als Schulen können Hochschulen im vorgegebenen Rahmen vieles selber entscheiden und gestalten. Das hat enorme Vorteile. Beispielsweise konnten wir so manchen für alle Beteiligten nervenaufreibenden Schlingerkurs vermeiden. Hochschulen bewegen sich also im Spannungsfeld zwischen möglichst viel Planungssicherheit und möglichst viel Flexibilität unter ihren jeweiligen individuellen, lokalen Begebenheiten. Dem müsste ein Rahmenkonzept mit hochschulübergreifenden Standards gerecht werden, wenn es mehr Nutzen als Schaden anrichten sollte. Ein Eingreifen der RegierungschefInnen habe ich beim Thema Hochschulen nicht vermisst.
Oliver Locker-Grütjen (Mittwoch, 27 Januar 2021 11:58)
Zustimmung und Dank für diesen offenen Brief aus Hildesheim. Wir – die Wissenschaft gemein-sam mit der Politik – müssen den Fokus stärker auch auf die Hochschulen richten.
Dabei dürfen wir uns nicht länger treiben lassen. Heute vor einem Jahr wurden wir durch das „Ur-Virus“ überrascht. Jetzt ist es u.a. die Mutation B.1.1.7, die die Politik reagieren lässt. Und morgen? Dass das Virus sich unter dem aufkommenden Impfdruck weiter verändern wird ist absehbar, weshalb die Politik zeitnah „Szenarien des Agierens“ (zukunftsgerichtet, vorausschau-end, disruptiv) entwickeln sollte.
Unser bisheriger Einsatz in Lehre und Forschung wird es uns dabei erlauben, unsere Erfahrungen in die Zukunft zu transferieren. Digitale Ideen und neu entwickelte Formate können uns zukünf-tig helfen, z.B. die Lehre anders als bislang zu gestalten – moderner, interessanter, effektiver –, sodass Freiräume gewonnen werden können.
Unser Ziel ist es doch, aus der Pandemie zu lernen. Wir wollen bei der Weiterentwicklung der Hochschulen darauf achten, dass die guten und sinnvollen Praktiken, die jetzt (zwangsläufig) entwickelt wurden, auch für die Zukunft erhalten bleiben.
Dazu bedarf es aber der breiten Unterstützung und Verantwortung durch die Politik für unsere Studierenden und alle Wissenschaftler*innen.
Jörg Abke (Mittwoch, 27 Januar 2021 12:25)
Sehr geehrte Frau Präsidentin Helbig,
das mag aus Ihrer Sicht und Position alles so stimmen, wie von Ihnen ausgeführt. Ich sehe das etwas anders, was an anderer Position an anderer Hochschule in anderem Bundesland liegen mag.
Mein Dank gilt - wieder einmal - Herrn Wiarda für den Blogbeitrag, den ich - wenn ich darf (sonst den Link einfach löschen) - mit Verweis ergänze auf die internationale Sicht durch die FAZ
https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/wie-universitaeten-rund-um-die-welt-mit-corona-umgehen-17158928.html
Karlchen Mühsam (Mittwoch, 27 Januar 2021 15:06)
Lieber Herr Wiarda,
vielen Dank für den Blog Beitrag!
Es ist dringend geboten, die Situation an den Hochschulen auch in der Lehre stärker in den Blick zu nehmen. Sicherlich haben die Hochschulen beachtliches geleistet, als vor einem Jahr mit sehr kurzer Vorlaufzeit die Präsenzlehre auf digitale Formate umgestellt wurde. Die Hochschulen haben sich - möglicherweise auch wegen einer auf einer irrtümlichen Motivation beruhenden Zurückhaltung der Wissenschaftsminusterien g mit den von Frau Prof. Helbig so gelobten dezentralen Lösungen auf ein gefährliches Mienenfeld begeben. Man hat mitunter das Gefühl, dass der Phantasie für immer neue waghalsige Vorstellungen bei der Bewältigung der durch die Pandemie gestellten Herausforderungen in den Prüfungsverfahren keine Grenzen gesetzt sind. Was für ein Semester vielleicht noch akzeptabel ist, wird nun 3 oder möglicherweise noch mehr Semester andauern. Ein halbes Bachelorstudium oder nahezu ein gesamtes Masterstudium werden nicht nach den akkreditierten Regeln durchgeführt. Die eigentliche notwendigen Verfahren der Nachakkreditierung sind hier ausgesetzt. Die Aussagekraft der Abschlüsse wird dadurch dramatisch eingeschränkt. Die Chancengleichheit der Studierenden beim Übergang vom Bachelor in den Master, vom Master in ein Promotionsstudium sowie insb. in den öffentlichen Dienst ist hierdurch massiv eingeschränkt.
Ich hoffe inständig, dass die Politik hier handelt und klare Vorgaben macht. Die Hochschulen werden es angesichts der vielfältigen kurz-und mittelfristigen Interessen ihrer Mitglieder nicht alleine schaffen!
Th. Klein (Mittwoch, 27 Januar 2021 20:47)
Ergänzend zu den Ausführungen im Beitrag sei darauf verwiesen, dass im Vergleich zur Schule, wo neben den Schüler*innen gleichzeitig (wenn auch von anderen Akteuren als der Politik) in der Regel die Situation der Lehrer*innen in den Blick genommen wird, nach meiner Wahrnehmung an den Hochschulen fast ausschließlich die Bedürfnisse der Studierenden im Fokus stehen. Die Situation der Lehrenden (bspw. parallel Home-Schooling der Kinder) und noch mehr der Verwaltung geraten m.E. völlig in Vergessenheit. Was ich an meiner Hochschule an Informationen über den Betrieb erhalte, betrifft zu 99% die Studierenden.
Martina Grosty (Donnerstag, 28 Januar 2021 11:35)
Ich denke gerade in Berlin funktioniert seit Jahren die Digitalisierung nicht. Ich bin seit 2004 in der Lehrer Fort- und Weiterbildung im Rahmen des eEducaton Masterplanes unterwegs und freue mich wenn die Computermäuse einheitlich sind und ein Beamer vorhanden ist.
Ich habe bei der Neugestaltung des eEducation Masterplanes maßgeblich an der Überarbeitung des Moduls "Urheberrecht", BYOD, Einsatz von IWB's etc. mitgewirkt.
Leider geht es auch nicht voran mit Online Fortbildungen. Das ganze ist einfach nur zum Jammern.
Martina Grosty
https://grosty.de/