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"An vielen Stellen missverstanden worden"

Bayerns Wissenschaft läuft Sturm gegen das geplante "Hochschulinnovationsgesetz". Wissenschaftsminister Bernd Sibler
will es bis zum Sommer durchbringen. Was genau beabsichtigt
die Staatsregierung eigentlich mit dem neuen Gesetz? Und warum hält Sibler die neue TU Nürnberg für eine Modell für ganz Deutschland?
Ein Interview.

Bernd Sibler, 49, ist CSU-Politiker und bayerischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst. In der Kultusministerkonferenz koordiniert er die Wissenschaftsministerien von Landesregierungen mit Unionsbeteiligung. Foto: StMWK / Andreas Gebert.

Herr Sibler, seit Anfang 2021 gibt es die Technische Universität Nürnberg (TUN), zunächst allerdings nur auf dem Papier. Es ist die erste Neugründung einer ersten Universität in Deutschland seit vielen Jahren, im Wintersemester 2023/24 soll der erste Studiengang starten. Trotz Corona alles im Zeitplan?

 

Wir haben zum 1. Januar den ersten Kanzler berufen, sind beim Gründungspräsidenten auf der Zielgeraden, die ersten Mitarbeiter werden gerade eingestellt, erste Gebäude sind angemietet. Die Planungen für die großen Neubauten laufen, die Finanzierung für die nächsten Jahre ist im Haushalt abgesichert. Mit dauerhaft zusätzlichem Geld, versteht sich. Kein Euro wird den anderen bayerischen Hochschulen weggenommen.

 

Ein "Modell für ganz Deutschland" soll die TUN werden, haben Sie versprochen – auch gegenüber dem Wissenschaftsrat, der das Hochschulkonzept begutachtet hat. Was lässt sie so vollmundige Ankündigungen machen?

 

Weil wir hier eine neue Universität, die zehnte in Bayern, von Grund auf neu gestalten können – genau so, wie eine Universität heute sein sollte. Die Einführung innovativer Elemente ist an der TUN einfacher als an einer bestehenden Einrichtung, die Sie erst durch einen Reformprozess führen müssten. Es wird keine traditionellen Fächergrenzen mehr geben, keine Fakultäten, kein Kästchendenken, sondern interdisziplinäre Departments, die Technik-, Geistes- und Sozialwissenschaften von Anfang an miteinander vernetzen. Die Rekrutierung neuer Professoren wird maximal beschleunigt ablaufen. Im Schnitt dauert ein Berufungsverfahren in Deutschland ein Jahr, da sind internationale Mitbewerber viel schneller. Doch wird die TUN nicht nur durch ihre effizienten Abläufe international besonders konkurrenzfähig, sondern auch weil wir sie in Lehre, Forschung und Verwaltung von Anfang an komplett digital denken. Und weil die Sprache der TUN vorrangig englisch sein wird. 

 

"Wir erleben gerade einen echten Brain Gain.
Es wäre doch schade, wenn wir all jene abschrecken
würden, die noch nicht Deutsch sprechen."

 

Sie klingen schwer begeistert. Allerdings teilen nicht alle Ihre Emotionen. Der Arbeitskreis "Deutsch als Wissenschaftssprache" etwa spricht von "Ignoranz" und einer "wohlfeilen Vorstellung von Internationalität". Hat sich die von der Staatsregierung eingesetzte TUN-Gründungskommission unter Leitung des früheren Münchner TU-Präsidenten Wolfgang Herrmann da ein wenig verrannt?

 

Der Brexit und die Nachwirkungen der Trump-Administration in den USA haben dazu geführt, dass es junge Menschen nach Deutschland zieht. Wir erleben gerade einen echten Brain Gain. Es wäre doch schade, wenn wir all jene abschrecken würden, die noch nicht Deutsch sprechen. Deshalb werden die meisten Studiengänge an der TUN auf Englisch stattfinden, aber längst nicht alle. Wir werden da eine kluge Mischung finden. Außerdem kann ich versichern, dass das Deutsche in allen Studiengängen eine wichtige Rolle spielen wird, es wird ein hochprofessionelles Sprachenzentrum geben. Ich bin selbst studierter Deutschlehrer, seien Sie versichert, dass ich darauf genau achten werde. Alle jungen Menschen, die aus dem Ausland zum Studieren an die TUN kommen, werden die deutsche Kultur und Sprache als Teil ihres Curriculums kennenlernen. Wir wollen sie ja nicht für andere Staaten ausbilden, sondern wir wollen, dass sie hierbleiben. 

Es gibt in der Region schon die Technische Hochschule Nürnberg und die Universität Erlangen-Nürnberg. Haben Sie nicht Sorge, dass es da zu Überschneidungen und doppelten Strukturen kommt? 

 

Genau deshalb werben wir an der TUN ja besonders um internationale Studierende: Wir wollen sie zusätzlich in die Region holen. Hinzu kommt, dass wir in Bayern weiter leicht steigende Studierendenzahlen erwarten. Die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise werden dazu führen, dass mehr junge Menschen studieren und länger an den Hochschulen bleiben. Außerdem wurden im Konzept für die TUN von Anfang an die Kooperationsmöglichkeiten mit allen akademischen Partnern in der Region ausgelotet:, mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, mit der Hochschule Nürnberg, mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen, mit der regionalen Wirtschaft. Und beim Zustandekommen dieser Kooperationen lassen wir es nicht auf den Zufall ankommen, sondern die werden wir institutionalisieren. Übrigens profitieren auch die Hochschule und die Friedrich-Alexander-Universität von unserem Gesamtkonzept für den Wissenschaftsraum, indem sie zusätzliches Geld für eigene Sanierungen und neue Bauten bekommen. Ein Beispiel: Mit dem Ausbau des regionalen Rechenzentrums der FAU zu einem Hochleistungsrechenzentrum haben wir dezidiert die Belange aller drei Hochschulen im Blick.

 

Reicht es, alle Bedenken der bestehenden Hochschulen mit dem Argument wegzuwischen, dass es mehr Geld gibt? Die Gründung der TUN, ausgelegt für 5000 bis 6000 Studienplätze unter besten Bedingungen, wird 1,2 Milliarden kosten. In ihre Hightech-Agenda investiert die Staatsregierung weitere drei Milliarden Euro. Während auch die bayerischen Hochschulen besonders in der Lehre strukturell unterfinanziert bleiben.    

 

In der Hightech-Agenda eröffnen wir Professorinnen und Professoren die Möglichkeit von Gründungsfreisemestern und wir finanzieren bayernweit  Forschungsprofessuren, was gerade auch die Rolle der Hochschullehre stärken wird. Wir leisten beides: die Stärkung von Spitze und Breite. Klar ginge immer noch mehr, aber im internationalen Bereich sind die bayerischen Hochschulen wirklich nicht schlecht ausgestattet.

 

Die Regierung Söder sei super im Ankündigen enormer Milliardensummen für die Wissenschaft, kann man aus den bayerischen Hochschulen hören. Nur müsse sie langsam auch mal nachweisen, dass sie neben all den Ankündigungen auch echtes Geld rüberschieben kann.

 

Das kann ich nicht nachvollziehen. Wir haben die Universitätsmedizin Augsburg neu gegründet und bauen sie gerade massiv aus. Das zusätzliche Geld, das wir da investieren, findet jeder, der in die Haushaltsaufstellung schaut. Die TU Nürnberg ist ebenfalls im Haushalt verankert, und die ersten 700 zusätzlichen Stellen der Hightech-Agenda konnten schon ab Oktober besetzt werden. Übrigens hat die Staatsregierung die Hightech-Agenda wegen der Coronakrise sogar noch beschleunigt und nochmal mit mehr Geld ausgestattet. Wir wollen damit die Herausforderungen der Corona-Pandemie aktiv annehmen. Sobald der Landeshaushalt für dieses Jahr beschlossen ist, kommen weitere 1800 neue Stellen dazu. Wir kündigen nicht an, wir handeln. 



Die TUN, die Hightech-Agenda und dann auch noch die Hochschulgesetznovelle, die Sie bis zur Sommerpause durchbringen wollen: Was ist die Strategie, die alle drei verbindet? 

 

Wir wollen Wissenschaft und Forschung strategischer einsetzen als bislang, um Innovationen zu fördern. Wobei mit Innovationen neben unternehmerischen und technologischen gerade auch kulturelle und soziale gemeint sind. Wir wollen keine unternehmerischen Hochschulen, aber wir erwarten schon, dass das, was da erforscht wird, auch im Staat und in der Gesellschaft zur Anwendung kommt. Das ist, wenn Sie so wollen, die Grundphilosophie, die wir verfolgen. Und nein, das ist keine platte Verwertungslogik. Ich bin davon überzeugt, dass die Medizin und die Ingenieurwissenschaften genauso ihren gesellschaftlichen Beitrag leisten, wie es die Sozialwissenschaften, die Geschichte oder die Religions- oder Sprachwissenschaften tun. 

 

Genau diese platte Verwertungslogik sehen Kritiker als wahre Agenda der Staatsregierung. Wer nicht alles Protestnoten, Resolutionen und Offene Briefe geschrieben hat, etwa Professorinnen und Professoren der bayerischen Universitäten, Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer an Fachhochschulen, die "Initiative Geistes- und Sozialwissenschaften (GuS)", die Landesastenkonferenz oder auch die Senatsvorsitzenden aller bayerischen Universitäten. Hat Sie eigentlich der Sturm der Kritik überrascht, der Ihnen schon vor Veröffentlichung der Eckpunkte zum neuen "Hochschulinnovationsgesetz" entgegenwehte? 

 

"So, wie die Novelle formuliert sein wird, wird

klar werden, dass einige der geäußerten Einwände

von Anfang an auf Missverständnissen beruhten."

 

Jede große Reform führt zu Fragen, zu Sorgen und Bedenken und bei dem einen oder der anderen sogar zu Ängsten. Ich glaube aber, wir haben viele der Sorgen bereits ausräumen können. Die übrigen, so hoffe ich, werden aufgelöst, wenn wir den Gesetzentwurf veröffentlichen. Denn darin haben wir viele der Anregungen aufgenommen. Im Übrigen: So, wie die Novelle formuliert sein wird, wird klar werden, dass einige der geäußerten Einwände von Anfang an auf Missverständnissen beruhten.  

 

Zum Beispiel?

 

Wir wollen keine bestehenden Strukturen zerschlagen, sondern sie lediglich weiterentwickeln, sie effizienter machen, Redundanzen verringern. Das Ziel besteht darin, die Entscheidungsprozesse an den Hochschulen schneller zu machen. Aber die Strukturen der akademischen Selbstverwaltung bleiben natürlich erhalten, ebenso die verfassungsrechtlich abgesicherten Mitbestimmungsrechte wie die Professorenmehrheit. In dieser Woche starten wir einen breit angelegten Kommunikationsprozess, mit dem wir, so glaube ich, viel Beruhigung in die Hochschullandschaft bekommen werden. 

 

Das klingt fast so, als würden Sie gerade kräftig zurückrudern.

 

Wir rudern nicht zurück, wir nehmen nur die Kritik ernst, die wir vernommen haben. Und wir machen deutlich, dass die Eckpunkte an vielen Stellen missverstanden worden sind. 

 

Missverstanden? Wie erklären Sie sich das?

 

Das mag daran gelegen haben, dass Eckpunkte vor allem die Neuerungen betonen und nicht die Kontinuitäten, die es natürlich auch gibt. Mancher mag daher pointiert schärfere Absichten herausgelesen haben, als wir sie hatten. Sonst hätten ja auch nicht die Hochschul- und Wissenschaftsrepräsentanten, die bei der abschließenden Beratung der Eckpunkte im Kabinett dabei wären, ihnen zugestimmt.

 

An welcher Stelle ist Ihnen die Aufklärung von "Missverständnissen" denn besonders wichtig?

 

Zum Beispiel, dass wir nichts Unmögliches von den Geistes- und Sozialwissenschaften erwarten. Dass im Gegenteil unsere Forderung nach Transfer von den Geisteswissenschaften schon jetzt zum Beispiel durch die Lehrerbildung in großartiger Weise erfüllt wird. Ich erwarte aber, dass alle Fächer sich noch stärker als bislang fragen, welche Anstrengungen sie im Rahmen ihrer ganz eigenen Fächerkultur noch unternehmen können, um den Transfer in die Gesellschaft zu stärken. Die Wissenschaft hat auch eine dienende Funktion für Staat und Gesellschaft. Nicht nur, aber eben auch.

 

"Ich habe keine Absicht, ein verfassungswidriges Gesetz vorzulegen. Ich will in keiner Weise die Möglichkeiten der akademischen Selbstverwaltung beschneiden."

 

Die kleinen geisteswissenschaftlichen Fächer werden von der Hightech-Agenda komplett ignoriert. Wie sollen sie künftig im Kanon der Wissenschaften mithalten können?

 

Das stimmt nicht. Ich sehe für die kleinen wie auch die großen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer zum Beispiel enorme Potenziale in der Bearbeitung von Fortschritt und technologischen Innovationen, in der Begleitung der damit einhergehenden gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse. Die unterschiedlichen Fächerkulturen werden wir natürlich berücksichtigen bei den strategischen Zielvereinbarungen, die wir mit den Hochschulen und Universitäten vereinbaren werden. Wir hatten nie vor, alle wissenschaftlichen Disziplinen über einen Kamm zu scheren. Das wäre ja auch absurd. 

 

Es gibt informierte Stimmen in der bayerischen Politik, die sagen: Die Hochschulgesetznovelle, diese starke Betonung von schlanken Prozessen und Transfer, sei allein in der Staatskanzlei entstanden, wo Wolfgang Herrmanns Sohn der Chef ist. Dann hat man sie Ihnen übergeholfen, und Sie sollen nun etwas kommunizieren und verteidigen, was gar nicht Ihrer tiefsten Überzeugung entspricht. Ist da etwas dran? 

 

Nein.

 

Sie dürfen das gern noch etwas ausführen.

 

Wir sind als Wissenschaftsministerium souverän bei der Erstellung dieses Gesetzentwurfs. Natürlich gibt es auch in der Staatskanzlei eine Grundidee, die wir mit den Positionen aus der Wissenschaft abgleichen. Wir setzen dann um, was zur Wissenschaft passt. Natürlich sind wir auch bei der Hightech-Agenda im intensiven Austausch, dadurch wird ihre Ausgestaltung effizienter und effektiver, klar, aber die Prozesshoheit und die fachliche Verantwortung liegt allein beim Wissenschaftsministerium. 

 

Nochmal zurück zu den Passagen der Gesetzes-Eckpunkte, bei denen Sie Missverständnisse beobachtet haben. Gehörte das Thema externe Governance dazu? 

 

In den Eckpunkten steht, dass es eine Optionsmöglichkeit geben soll zwischen der jetzigen Form und der Möglichkeit für Hochschulen, eine reine Körperschaft des öffentlichen Rechts zu werden. Wenn sich Hochschulen für die Körperschafts-Option entscheiden, ist das mit der Einführung eines Globalhaushalts verbunden. Aber wir schreiben das nicht vor. Jeder kann, keiner muss.

 

Und wenn eine Hochschule will, kann sie auch alle ihre Gremien so lassen, wie sie sind? 

 

Die Gremien können bleiben, aber ihre Zuständigkeiten müssen klarer geregelt werden. Derzeit gibt es Überschneidungen, nicht alles muss in allen Gremien behandelt werden. Aber alle können sich entspannen, ich habe keine Absicht, ein verfassungswidriges Gesetz vorzulegen. Ich will in keiner Weise die Möglichkeiten der akademischen Selbstverwaltung beschneiden.

 

Es wird also in jedem Fall überall weiter einen Senat geben?

 

Er wird vielleicht nicht mehr überall so heißen, wenn Hochschulen einen anderen Namen wählen. In Augsburg ist das bereits so: Dort ist die akademische Mitbestimmung anders organisiert, aber sie ist organisiert. 

 

"Dass uns eine Pandemie heimsuchen wird, konnte
im Oktober 2019, als wir in den Prozess öffentlich gemacht haben, nun wirklich keiner wissen." 

 

Sie haben vorhin den Start in einen breit angelegten Kommunikationsprozess in dieser Woche versprochen. Warum erst jetzt? Und warum wollen Sie das Gesetz überhaupt so schnell durchbringen? An den Hochschulen mutmaßen manche, Sie wollten die Gunst der Corona-Beschränkungen nutzen, die nur eine eingeschränkte Partizipation zulassen.

 

Das ist der einzige Punkt, an dem mich die Kritik, die mir da entgegengebracht wird, echt ärgert. Weil sie so persönlich ist und der Unterstellung gleichkommt, wir würden da eine Art von Schiebung betreiben. Dass uns eine Pandemie heimsuchen wird, konnte im Oktober 2019, als wir in den Prozess öffentlich gemacht haben, nun wirklich keiner wissen. Damals hat Markus Söder die Hightech-Agenda vorgestellt und dabei auch die Neufassung des Hochschulgesetzes angekündigt. Schon davor und seitdem besonders intensiv haben wir zahlreiche Gespräche geführt, mit den unterschiedlichen Hochschulverbünden diskutiert, mit Vertretern der Professoren, des Mittelbaus, der Studierenden, der Gleichstellungsbeauftragten, um nur ein paar zu nennen. Zuletzt habe ich mich mit unseren Kunsthochschulen ausgetauscht. Jetzt ist es Zeit, das Besprochene in konkrete Sätze zu gießen, in einen Gesetzentwurf, um auch den Sorgen, die da formuliert wurden, etwas entgegensetzen zu können. Und wenn der Bayerische Landtag dann vor der Sommerpause das Gesetz verabschieden sollte, was ich hoffe, sind über zwei Jahre vergangen. 

 

Keiner konnte im Herbst 2019 erwarten, dass eine Pandemie über uns hereinbricht, Sie sagen es. Inzwischen befinden sich die Studierenden im zweiten Digitalsemester. Müssen sie noch mit einem dritten rechnen? 

 

Ich wünsche mir wieder Präsenzveranstaltungen an den Hochschulen, sobald sie verantwortbar sind, keine Frage. Ich erinnere mich an eine Pressekonferenz im Oktober, bei der ich mich zusammen mit Vertretern der Hochschulen für angewandte Wissenschaften gefreut habe, dass sie die Erstsemester auf dem Campus begrüßen konnten. Wenige Tage später haben uns die Ereignisse überrollt. Und auch wenn wir in Sachen Online-Lehre inzwischen viel gelernt haben, so ist doch vollkommen klar, dass das akademische Leben den persönlichen Austausch braucht. Ich wünsche mir, dass wir im Sommersemester, wo es möglich ist, auch ganz neue Präsenzformate ausprobieren, damit Studierende und Lehrende sich unter Pandemiebedingungen zumindest eingeschränkt persönlich begegnen können. Gerade in den Geisteswissenschaften, wo Seminare und Diskussionen eine so große Rolle spielen, brauchen wir solche zusätzlichen Angebote. Ich bin kein großer Fan genauer Inzidenzstufen, aber klar ist: Für all das müssen wir unter 50 liegen. Wann das sein wird, weiß derzeit keiner. >> 



>> Bayern rühmt sich dafür, als einziges Bundesland bereits eine Verordnung zu digitalen Prüfungen auf den Weg gebracht zu haben. Doch die Unzufriedenheit ist trotzdem groß: Die Serverkapazitäten seien zu gering, die Hochschulen hätten zu wenig Geld für die Digitalisierung. Und dann sollen ausgerechnet die Staatsexamina doch in Präsenz laufen. 

 

Zunächst einmal rühmen wir uns nicht. Wir sind froh, dass wir über die Fernprüfungsverordnung in Bayern einen rechtssicheren Rahmen gefunden haben. Wir wurden dabei beraten von Datenschützern und Juristen. Auch mit den Vizepräsidenten für Lehre aller bayerischen Hochschulen und unseren Studierenden haben wir intensiv gesprochen. Mit anderen Bundesländern teilen wir jetzt unsere Erfahrungen, das gehört zur Solidarität in der Pandemie dazu. Es gibt einige herausragende Pionierhochschulen wie die Hochschule München, die im Wintersemester alle ihre Prüfungen digital abhalten. Aber natürlich gibt es bei uns allen eine Lernkurve. Wir müssen technisch aufrüsten und didaktisch. Doch ich bin davon überzeugt, dass die Prüfungsverfahren sich auf Dauer verändern werden. 

 

Was meinen Sie? 

 

Sie können in digitalen Prüfungen nicht wirklich gut auswendig gelerntes Wissen abfragen, weil das sehr täuschungsanfällig ist. Im Vordergrund stehen daher sogenannte Open-Book-Verfahren, bei denen die Studierenden für ihre Antwort unterschiedliche Materialien nutzen dürfen. Dadurch werden Prüfungen den Herausforderungen im späteren beruflichen Alltag viel ähnlicher, das halte ich für einen großen Fortschritt. In bestimmten Zusammenhängen, Sie sprachen die Staatsexamina an, geht das nicht von heute auf morgen. Und gar keine Prüfung durchzuführen, kann keine Alternative sein. Darin bin ich mir mit allen Landeswissenschaftsministern einig. Klar ist aber, dass keiner gezwungen wird. Alle Fristen werden in Bayern automatisch um ein Semester verlängert, keiner wird bestraft, wenn er oder sie jetzt nicht antreten möchte zu einer Prüfung, die eigentlich absolviert werden müsste.

 

"Es ist ein Balanceakt, ein Spagat
zwischen Bildung und Pandemieschutz,
den wir die ganze Zeit gestalten müssen." 

 

Lassen Sie die Hochschulen mit der Umsetzung der Präsenzprüfungen vor Ort allein?

 

Wir können Vorgaben machen, aber die Umsetzung vor Ort kann nur die Hochschule leisten. Nur sie kennt die sehr unterschiedlichen räumlichen Bedingungen und Kapazitäten. Manche Hochschulen haben Stadthallen angemietet, andere Theater, damit sie den Mindestabstand ermöglichen können, jeweils in Absprache mit den Gesundheitsämtern vor Ort. Trotzdem können wir natürlich nicht ganz ausschließen, dass jemand in der Prüfung sitzt, der hinterher positiv getestet wird. 

 

In Ansbach mussten zum Beispiel neulich 98 Hochschulangehörige in Quarantäne, nachdem ein Student nach einer Präsenzklausur positiv auf Corona getestet wurde.

 

Das ist natürlich sehr bedauerlich. Es ist ein Balanceakt, ein Spagat zwischen Bildung und Pandemieschutz, den wir die ganze Zeit gestalten müssen. Übrigens sind Balanceakt und Spagat zwei Wörter, die ich gern nach der Pandemie aus dem Wortschatz streichen würde.

 

Bayern hat den Pandemieschutz zwischenzeitlich so weit getrieben, dass nicht mal mehr die Onlinebestellung und anschließende Abholung in den Bibliotheken möglich war. Wie stark ist die Forschung an den Hochschulen aktuell eingeschränkt?

 

Als ehemaliger Vorsitzender des bayerischen Bibliothekenverbands, dem die Kulturform des Lesens sehr wichtig ist, habe ich sehr stark darauf hingewirkt, dass "Click and Collect" an den Bibliotheken jetzt wieder erlaubt ist. Rein faktisch gibt es im Moment außerdem die Möglichkeit, Labortätigkeiten durchzuführen, natürlich unter Hygieneauflagen, die vieles anstrengender und schwieriger machen. Aber viele Forscher haben sich arrangiert, die berühmten Plexiglasscheiben sind an vielen Stellen im Einsatz, es gibt neue Lüftungskonzepte und vieles mehr. 

 

Besonders junge Forscher fürchten, wegen der Pandemie nicht rechtzeitig mit ihren Qualifikationsarbeiten fertigzuwerden – während ihre Stellen und Stipendien auslaufen. 

 

Wir haben die formalen Herausforderungen weitgehend geklärt, Fristen und Arbeitsverträge verlängert. Bei den Studierenden haben wir über die Ausdehnung der Regelstudienzeit und die Nichtanrechnung von Semestern zum Beispiel auch den längeren BAFöG-Bezug sichergestellt. Hilfreich ist die Überbrückungshilfe, an deren Umsetzung ich als Koordinator der CDU-/CSU-regierten Wissenschaftsministerien mitwirken konnte. Und was die Karriereaussichten des akademischen Nachwuchses angeht, kann ich wiederum nur auf die Hightech-Agenda verweisen: Gut 2500 neue unbefristete Stellen in ganz Bayern, dazu die Entfristung von 1240 vor allem im Mittelbau, die bislang wegfallen sollten. Außerdem werden wir im neuen Hochschulgesetz die Reform der Nachwuchsförderung in den Blick nehmen, wir werden zum Beispiel den Tenure Track als Karrierepfad massiv stärken. 

 

"Ich sehe keine Signale, dass wir auf die gewohnten Aufwüchse verzichten müssen. Selbstverständlich ist die Grundfinanzierung der Hochschulen gesichert."

 

All die Milliarden zusätzlich für die Wissenschaft und die Hochschulen, mit denen Ministerpräsident Söder so gern jongliert: Wieviel davon bleibt eigentlich, wenn die wahre Belastung der Landeshaushalte durch die Coronakrise offensichtlich wird? Können Sie wirklich seriös garantieren, dass der Mittelfluss auch in den nächsten Jahren nicht abreißen wird? 

 

Die Hightech-Agenda und alle von mir genannten zusätzlichen Stellen sind durchfinanziert. Auch die Erhöhung der Baumittel für die Hochschulen von 400 auf 670 Millionen pro Jahr seit meinem Amtsantritt bleibt. Bei der Coronaforschung und angrenzenden Forschungsfeldern haben wir gerade erst viel zusätzliches Geld in die Hand genommen. Wir befinden uns also in einer sehr guten Ausgangsposition.

 

Sie reden wieder von der Hightech-Agenda. Und was ist der Grundfinanzierung der Hochschulen?

 

Ich sehe im Moment keine Signale, dass wir uns hier einschränken und auf die gewohnten Aufwüchse verzichten müssen. Selbstverständlich ist die Grundfinanzierung gesichert. Klar, wenn die Welt zusammenbricht, bricht die Welt zusammen. Aber das Commitment, Wissenschaft in Forschung und Lehre zu fördern, war in Bayern vielleicht nie so groß wie heute. 

 

Studierendenverbände fürchten, im neuen Gesetz könnten die Hochschulen eine umfassende Gebührenerhebungsmöglichkeit übertragen bekommen - womit der Weg frei wäre zur Wiedereinführung von Studiengebühren. Was entgegnen Sie?

 

Ich kenne die Diskussion und die unterschiedlichen Forderungen und will dazu betonen, dass wir in Bayern in den vergangenen Jahren ganz bewusst auf eine Gebührenfreiheit gesetzt haben. Ich jedenfalls will keine schleichende Einführung von Studiengebühren für unsere Studentinnen und Studenten in Bayern. 


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Kommentare: 6
  • #1

    Almut Drehborn (Montag, 01 Februar 2021 19:35)

    Wie merkt man gerade so schön? Kommunikation ist
    extrem wichtig - gerade im Bildungsbereich. Sonst läuft
    eben schief, was schief laufen muß.

  • #2

    Ein Betroffener (Dienstag, 02 Februar 2021 15:04)

    Hmm, wenn es jetzt angeblich mehr Kommunikation mit allen Beteiligten geben soll, dann fragt man sich warum an den montaglichen Klüngelrunden zu dem Thema im Ministerium immernoch nur Präsidenten teilnehmen und keine Vertreter der Hochschulgruppen.

    Es wird also schief laufen...

  • #3

    David J. Green (Dienstag, 02 Februar 2021 18:24)

    Da Deutsch nur meine Zweitsprache ist, muss ich eingestehen, dass ich die Aussage "In der Hightech-Agenda eröffnen wir Professorinnen und Professoren die Möglichkeit von Gründungsfreisemestern und wir finanzieren bayernweit Forschungsprofessuren, was gerade auch die Rolle der Hochschullehre stärken wird" nicht ganz verstehe. Ich bitte um Erläuterung.

  • #4

    Jan-Martin Wiarda (Dienstag, 02 Februar 2021 19:17)

    Lieber Herr Green,

    ich glaube, hier handelt es sich nicht um ein Sprachproblem, sondern eher um eine etwas ausweichende Antwort von Herrn Sibler. Denn inwieweit Gründungsfrei- und Forschungssemester die Lehre stärken, lässt sich wirklich debattieren.

    Viele Grüße
    Ihr J-M Wiarda

  • #5

    Georg Weimann (Mittwoch, 03 Februar 2021 11:41)

    Die Einrichtung der TUN ist angesichts der Existenz einer
    naheliegenden, renommierten Universität in Erlangen und der THN ziemlich fragwürdig. Man wird den Eindruck nicht los, es handele sich um eine Lex Söder.
    Dazu paßt irgendwie die Novellierung des Hochschul-
    Gesetzes a'la Hermann.


  • #6

    Josef König (Donnerstag, 04 Februar 2021 18:32)

    Dass mit dem neuen Gesetz die Hochschulen wählen können, ob sie „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ werden dürfen und dann einen „Globalhaushalt“ haben werden, ist anderswo seit Jahrzehnten schon der Fall. Das als etwas besonderes zu verkaufen, entbehrt nicht einer gewissen Komik.