Die Freie Universität steht im Fall Giffey stark in der Kritik. Hier antwortet der FU-Präsident auf die Vorwürfe: Sorgfalt stehe im Verfahren über allem. Eine Replik von Günter M. Ziegler.
Günter M. Ziegler ist Präsident der Freien Universität Berlin. Hier äußert er sich zur Kritik daran, wie seine Universität mit dem Plagiatsverfahren gegen Franziska Giffey umgeht. Foto: Kay Herschelmann.
DAS ZWEITE VERFAHREN zur Überprüfung der Dissertation von Franziska Giffey, das die Freie Universität Berlin im November 2020 eingeleitet hatte, kommt langsamer voran, als sich das alle Beteiligten damals vorgestellt und gewünscht haben – auch das Präsidium der Freien Universität, das einen Abschluss im Februar 2021 als Wunsch formuliert hatte.
Dies wird öffentlich kritisiert, und es wird über die "Absicht dahinter" spekuliert. Jan-Martin Wiarda hat die Situation kommentiert.
Es ist eine Frage der Perspektive: Betrachtet man, ganz nüchtern, das Prüfverfahren um die Doktorarbeit von Franziska Giffey aus Wahlkampfsicht, so geht es um die Bundesfamilienministerin, eine Politikerin, die Regierende Bürgermeisterin werden will.
Schon mit der Zeitplanung
wird Taktik unterstellt
Aus dieser Perspektive steht die Frage im Vordergrund, ob die Täuschungen, die VroniPlag Wiki und das erste Prüfgremium an der Freien Universität in der Promotion festgestellt haben, so gravierend sind, dass der ambitionierten Politikerin der Doktorgrad aberkannt werden muss.
Für diejenigen, die mit diesem Blick auf das Verfahren schauen, ist entscheidend, wann ein Ergebnis vorliegt, welche Motive man den Prüfenden und der Universitätsleitung unterstellen kann und möchte. Man unterstellt dem Prüfgremium und der Universitätsleitung, die letztlich qua Hochschulgesetz entscheiden muss, Parteilichkeit und Partikularinteressen, parteipolitische Schlagseiten und politisches Manöver.
Schon mit der Zeitplanung wird dann Taktik unterstellt, exemplarisch dokumentiert durch die Überschrift "Verschleppung als Wahlkampfhilfe, aber für wen?" Der mediale Anspruch an die Freie Universität ist dann klar definiert: ein möglichst schnelles Verfahren, absolut transparent, am liebsten mit öffentlichen Sitzungen, bei denen die beteiligten Mitglieder des Prüfgremiums politischem Druck direkt ausgesetzt wären. Wenn die Universität diesen öffentlichen Anspruch nicht erfüllt, dann hat sie das Verfahren "maximal vergeigt". So einfach ist es aber nicht.
Es geht hier
nicht um Politik
Es geht hier aber nicht um Politik, sondern um Entscheidungen, die ausschließlich nach der Logik und aus der Perspektive der Wissenschaft getroffen werden müssen – also allein nach wissenschaftlichen Bewertungen und verwaltungsrechtlichen Kriterien.
Der Gegenstand des Verfahrens ist dabei nicht die Politikerin und Bundesfamilienministerin; es geht auch nicht um ihre Kompetenz oder ihre politische Arbeit – und es geht auch nicht um die Doktormutter und nicht um die Frage, ob die Betreuung gut war. Gegenstand des Verfahrens allein ist eine 266-seitige Doktorarbeit aus dem Jahr 2009 mit dem Titel "Europas Weg zum Bürger. Die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft".
Es geht um Zitate und
Textübernahmen in der Dissertation
Es geht im Prüfverfahren um Zitate und um Textübernahmen in der Dissertation, es geht darum, ob die Quellen korrekt und sorgfältig und in einem der Disziplin entsprechenden und insgesamt wissenschaftlich adäquaten Stil angegeben wurden; es geht darum, inwieweit durch fehlerhafte Zitate, unvollständige oder fehlerhafte Quellenangaben für Zitate und Paraphrasen getäuscht wurde, ob die Natur der Stellen auf Vorsatz bei der Täuschung schließen lässt, und es geht darum, wie gravierend oder umfassend Plagiate oder Textübernahmen sind, und ob Plagiate die Arbeit prägen.
Und all das darf nicht nach Gefühl oder Geschmack oder gar nach politischen Präferenzen beurteilt werden. Es darf nur objektiv und nach wissenschaftlichen Kriterien begutachtet werden. Und – und auch das gehört zur Wissenschaft – die Kriterien liegen nicht fertig vor, diese müssen entwickelt und bei Bedarf geschärft, in der disziplinspezifischen Form fixiert und angewandt werden. Das sind Aufgaben, die man ausschließlich der Wissenschaft überlassen muss, also in die Hände von erfahrenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler legen sollte.
Das Verfahren muss
ergebnisoffen sein
Und auch wenn die Überprüfung sich auf Vorarbeiten stützt: Das Verfahren muss ergebnisoffen sein. Es muss durch ein Prüfungsgremium durchgeführt werden, dessen Mitglieder einerseits Fach- und auch Handlungskompetenz mitbringen, das zum großen Teil aus Professorinnen und Professoren des zuständigen Fachbereichs besteht und das andererseits von der Doktormutter völlig unabhängig sein soll. Diese Nebenbedingungen sind so differenziert, dass schon die Zusammenstellung des Gremiums aufwendig und schwierig ist – und Zeit braucht.
Ich bin allen dankbar, die sich dann für diese herausfordernde Arbeit zur Verfügung stellen und sich nicht von Menschen mit anderer Perspektive – die in anderen Zusammenhängen nachvollziehbar sein mag – beeinflussen lassen. Denn nur so funktioniert Wissenschaft, wenn sie sich kritisch selbst überprüft: Das Gremium muss den Arbeitsauftrag sichten, und seine Mitglieder müssen sich die Zeit für sorgfältige und genaue Arbeit nehmen.
Und sie müssen diese notwendige, aber auch mühevolle Arbeit durchführen und dürfen sich dabei nicht von externen Erwartungen an Schnelligkeit und Transparenz und von medialem und politischem Druck beeinflussen oder beirren lassen. Die Hauptkriterien sind immer Sorgfalt und Unabhängigkeit, dies ist und bleibt der Standard – und je höher der Druck von außen wird, desto geringer wird die Chance, diesen Ansprüchen vollständig zu genügen. Polemiken sind für das Verfahren nicht hilfreich.
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Th. Klein (Mittwoch, 03 Februar 2021 10:41)
Leider ein verzweifelter Versuch, wie an anderer Stelle auch schon dagewesen, die Wissenschaft frei von der Politik zu halten. Aber so einfach, wie sich Herr Ziegler das hier zurecht legt, ist das eben nicht. Als wäre dieses Verfahren ohne jeglichen Kontext. Klingt sehr naturwissenschaftlich, oder mathematisch (der Autor ist ja von der entsprechenden Profession). Wie ein Experiment, das nur unter sauberen Bedingungen durchgeführt werden muss. Der FU hätte ich mehr geistes- und sozialwissenschaftliche Perspektive zugetraut.
David J. Green (Mittwoch, 03 Februar 2021 19:48)
Anders als mein Vorredner möchte ich eher dem genialen Mathematiker Ziegler mein Bedauern dafür aussprechen, dass er dieses geistes-/sozialwissenschaftliche Trauerspiel in zwei Akten verantworten muss.
Der deutschen Politik ist eine schnelle Genesung von ihrer verhängnisvollen Vorliebe für akademische Titel zu wünschen. Für mich ist Herr Dr. zu Guttenberg jene Person, die durch die Aussetzung der Wehrpflicht zu Friedenszeiten die Menschenrechte hierzulande deutlich voranbrachte, aber für die meisten definiert ihn das Plagiat bei der ersten Dissertation. Als ehemalige Landtagskandidatin schwärmt meine Ehefrau für Frau Giffey, aber auch hier drohen Legitimitätszweifel über einen Titel, den sie nicht wirklich braucht, ihr Wirken zu überschatten.
Was ich aber an dieser Replik vermisse, ist irgendeine Auseinandersetzung mit der Frage, wie es zu diesem zweiten Verfahren gekommen ist und insbesondere ob der Ausgang des ersten Verfahrens angesichts der geltenden Rechtslage und der gewonnenen Erkenntnisse zulässig war. Angesichts dieser empfindliche Lücke bin ich immerhin froh, aus der langen zweiten Hälfte der Replik zu entnehmen, dass die FU weiß, wie ein solches Verfahren ablaufen sollte.
tmg (Donnerstag, 04 Februar 2021 08:54)
All die Bemerkungen von Herrn Ziegler zu Qualität und Unabhängigkeit des Verfahrens sind sicher grundsätzlich richtig. Nur waren diese Kriterien bereits gültig bei der Durchführung des ersten Verfahrens. Warum sind sie dort nicht eingehalten, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt worden? Hierzu vermeidet Herr Ziegler konsequent eine Stellungnahme und das beschädigt die Glaubwürdigkeit der Leitung der FU immer weiter.
McFischer (Donnerstag, 04 Februar 2021 10:53)
Auch wenn Herr Ziegel es - formal durchaus korrekt - ablehnt: Die Rolle der Doktoratsbetreuerin sollte durchaus auch hinterfragt werden. Letztlich sind es halt immer die 'Doktormütter und -väter", welche die Arbeiten prüfen, Zweitgutachter/innen schließen sich dann oft nur noch an. Dieser Verantwortung sollten die entsprechenden Personen sich bewusst sein - oder man muss das ganze Promotionssystem ändern (was schon in Gange ist).