Welche Entwicklungen sich hinter den wieder steigenden Corona-Inzidenzen verbergen und was das für die nächste Bund-Länder-Runde bedeutet.
Die Corona-Kurve: Tägliche Neuinfektionen visualisiert vom Coronavirus Resource Center der Johns-Hopkins-Universität.
ES WAR ZU SCHÖN: Nach den Corona-Spitzentreffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten vom 19. Januar und 10. Februar schienen die Corona-Zahlen nur noch eine Richtung zu kennen. Abwärts. Zuletzt sogar beschleunigt. Doch dann kam die Vollbremsung. Was ist da los? Wie geht es weiter? Und was bedeutet das für die Debatte um anstehende Lockerungen? Eine Analyse.
Wie sind die Zahlen?
Am 16. Februar hat das Robert-Koch-Institut (RKI) erstmals seit Anfang Januar im Wochenvergleich wieder steigende Zahlen bei den registrierten Neuinfektionen vermeldet. Seitdem schwankt die bundesweite 7-Tages-Inzidenz um die 60 – mit leicht steigender Tendenz. In der vergangenen Kalenderwoche gab es knapp 1400 neue Fälle (+2,7 Prozent) mehr als in der Woche vom 8. bis 15. Februar. Wie plötzlich der zuvor kräftige Abwärtstrend zum Stehen gekommen ist, zeigt der Vergleich: Das Minus zur Woche davor hatte noch bei über einem Fünftel (-21,5 Prozent) gelegen.
Wie verteilt sich die Vollbremsung auf die Altersgruppen? Die Antwort: sehr unterschiedlich. Bei den Unter-30-Jährigen gab es in der vergangenen Woche einen Anstieg der gemeldeten Corona-Fälle um insgesamt 7,8 Prozent, bei den Über-80-Jährigen einen Rückgang um 14,5 Prozent. Im Gros der Bevölkerung zwischen 20 und 79 gab es mit +3,6 Prozent vergleichsweise wenig Bewegung.
Beim Blick auf die Bundesländer fällt auf: In Bremen gingen die Zahlen mit 22 Prozent im Wochenvergleich am schnellsten hoch. Und in Thüringen, ohnehin schon das Land mit den höchsten Inzidenzen, mit plus 21 Prozent. Sachsen-Anhalt kam auf plus 11,5 Prozent. In anderen Ländern (Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, NRW, Rheinland-Pfalz, Sachsen) lag das Plus zwischen fünf und zehn Prozent. In Bayern, Berlin, und Niedersachsen stagnierten die Zahlen. Umgekehrt gab es eine Reihe von Ländern mit weiter deutlichen Minuswerten: Baden-Württemberg (-8 Prozent), Brandenburg (-16 Prozent), Saarland (-15 Prozent), Schleswig-Holstein (-12 Prozent). Insofern: Anders als im Herbst gibt es diesmal also kein eindeutiges Ost-West-Gefälle bei der Infektionsdynamik.
Ungebrochen positiv ist die Entwicklung bei der Zahl neu aufgenommener Intensivpatienten. Sie hat sich seit Anfang Januar halbiert und lag zuletzt bei 2955 – was ziemlich genau dem Höchststand der ersten Welle entspricht. Was neben dem beeindruckenden Rückgang zeigt, dass das erreichte Niveau immer noch viel zu hoch liegt.
Der 7-Tagesschnitt bei den gestorbenen Corona-Patienten sank laut RKI zuletzt auf 368 – ebenfalls deutlich weniger als auf dem Höhepunkt der Mitte Januar, aber immer noch anderthalb mal so viel wie zu Spitzenzeiten der Ersten Welle.
Wie erklären sich die Zahlen?
Der Laborverband ALM meldete gestern einen weiter steigenden Anteil der Virus-Mutationen. Die britische Variante B.1.1.7. machte demnach zuletzt fast 30 Prozent der sequenzierten Positiv-Tests aus, der Anteil der südafrikanische Variante ging dagegen auf niedrigem Niveau leicht zurück. Da die britische Variante als deutlich ansteckender gilt, warnen viele Virologen seit Wochen, dass die Reproduktionszahl R bei gleichbleibenden Schutzmaßnahmen dauerhaft über 1 klettern wird, je stärker B.1.1.7. auch in Deutschland zur vorherrschenden Variante wird. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte gestern nach Teilnehmerangaben einer Online-Sitzung der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion: "Wir sind jetzt in der Dritten Welle."
Eine Einschätzung, die sich aus den gegenwärtig vorliegenden Statistiken freilich so noch nicht ableiten lässt. Der Sprung um fast 25 Prozentpunkte beim Pandemie-Wachstum (von -21,5 auf plus 2,7 Prozent) innerhalb weniger Tage lässt sich nicht mit dem eher sogar zurückgehenden Tempo bei der Zunahme der Virusmutationen erklären. Mathematische Modelle gehen eher von einem allmählichen "Herauswachsen" aus den Minuszahlen aus.
Besäße Deutschland wie etwa Großbritannien ein besseres Corona-Monitoring und hätte wie das Vereinigte Königreich frühzeitiger und breiter sequenziert, ließe sich der Einfluss der Mutationen je nach ihrer regional unterschiedlichen Verbreitung auf das Infektionsgeschehen nachvollziehen – zum Beispiel auch, welchen Zusammenhang es mit der stark unterschiedlichen Infektionsdynamik in den einzelnen Bundesländern gibt. So aber tappt Deutschland auch auf dem Weg in die mögliche dritte Welle mal wieder im Dunkeln – und kann das, was da gerade vor sich geht, nicht richtig erklären.
Auch die vom RKI gemeldete Positiv-Quote bei den durchgeführten Corona-Tests hilft nicht wirklich weiter. Vergangene Woche deuteten 6,12 Prozent aller Tests auf eine Corona-Infektion hin – 0,3 Prozentpunkte weniger als die Woche zuvor. Womit sich der Abwärtstrend allerdings stark verlangsamt hatte (sieben Tage zuvor betrug das Minus noch 1,07 Prozentpunkte). Aber eben noch ein Abwärtstrend. Allerdings zeigte die Positivquote in zwei Ländern nach oben: Mecklenburg-Vorpommern leicht, aber schon seit Wochen. In Thüringen machte sie vergangene Woche einen deutlichen Sprung Richtung Expansion des Pandemiegeschehens.
Womöglich, so ist zu vermuten, überlagern sich hier mehrere Effekte. Neben den Mutationen und der allgemeinen Pandemiemüdigkeit vor allem der Umstand, dass angesichts der bevorstehenden Schulöffnungen in vielen Bundesländern die Kinder und Jugendlichen wieder häufiger und gezielter getestet wurden. Jedenfalls machte die Altersgruppe von 5- bis 14 bei den Neuinfektionen mit +11,2 Prozent den größten Sprung nach oben.
Apropos Kinder und Jugendliche. Bevor die Kitas vielerorts wieder in den Regelbetrieb gegangen sind und die Grundschulen mindestens in den Wechselunterricht, ist festzustellen: Der Anteil der 0- bis 14-Jährigen an allen Neuinfektionen ist in der Zeit teil- oder ganz geschlossener Bildungseinrichtungen auf 8,57 Prozent gestiegen. Vor den Schließungen, auf dem Höhepunkt der Zweiten Welle, lag er lediglich bei 7,04 Prozent. Und das obwohl Mitte Dezember fast dreimal so viele Kinder und Jugendliche getestet wurden wie jetzt. In absoluten Zahlen sanken zwar auch bei den 0- bis 14-Jährigen die gemeldeten Neuinfektionen während des Shutdowns kräftig (von 12.701 auf 4469), aber relativ gesehen war der Rückgang deutlich schwächer als beim Rest der Bevölkerung – selbst wenn man die Über-80-Jährigen herausrechnet. Bei der epidemiologischen Evaluation der Kita- und Schulschließungen, dem Gegenüberstellen von Nutzen und Schaden, kann dies nicht ignoriert werden.
Ein Effekt, der das Infektionsgeschehen bremst: Die zunehmende Impfquote bei den Über-80-Jährigen führt dazu, dass sich diese Altersgruppe vom gesamtgesellschaftlichen Trend positiv abkoppelt.
Wie sind die Aussichten?
Eines zumindest ist statistisch gesehen sicher: Da die Zahl der neu aufgenommenen Intensivpatienten der Entwicklung der gemeldeten Neuinfektionen um etwa zehn bis 14 Tage hinterherläuft, wird sie mit Sicherheit in Kürze merklich unter den Höhepunkt der Ersten Welle fallen. Noch größer ist der Zeitverzug bei den Gestorbenen, weshalb hier der Rückgang der 7-Tages-Werte mindestens noch zwei, drei Wochen weiterlaufen wird.
Zu hoffen ist, dass sowohl die Zahl der Intensivpatienten als auch die der Gestorbenen danach anfangen, sich ebenfalls von den insgesamt gemeldeten Neuinfektionen abzukoppeln und weiter zu fallen, selbst wenn letztere wieder steigen sollten. Die Hoffnung ist insofern berechtigt, weil sich der Rückgang der Infektionen bei den Über-80-Jährigen wie gesagt bislang fortsetzt und dank der zuletzt endlich (leicht) beschleunigtem Impfgeschwindigkeit weitergehen sollte – selbst wenn insgesamt die "Dritte Welle" anlaufen sollte.
Allerdings hängt, falls die gesamtgesellschaftlichen Infektionszahlen demnächst tatsächlich wieder merklich steigen sollten, alles davon ab, wie stark das Wachstum ausfällt. Denn bei den Über-80-Jährigen ist das Risiko schwerer Verläufe zwar mit Abstand am höchsten, laut der Berechnung eines britischen Mathematikers ist ihr Sterberisiko bei einer B.1.1.7.-Infektionen 1000mal so hoch wie bei 20-Jährigen – aber mehr Neuinfektionen insgesamt bedeuten trotzdem auch mehr schwere Fälle in allen übrigen Altersgruppen.
Insofern werden die nächsten zwei Wochen entscheidend: Dümpelt der Trend weiter vor sich hin, geht es vielleicht sogar wieder (leicht) abwärts – oder folgt der nächste Aufwärts-Sprung um 20, 25 Prozentpunkte? Dann nämlich wäre Deutschland sehr schnell wieder im exponentiellen Wachstum. Ausgemacht ist das noch nicht. Die Testquoten verhalten sich uneindeutig. Angesichts dieser Lage ist es geradezu ärgerlich, dass nach wie vor eine wirksame bundesweite Teststrategie fehlt, die Testzahl sich weiter seitwärts bewegt (18.000 mehr als in der Vorwoche, aber 160.000 weniger als im Dezember) und nur 50 Prozent der vorhandenen Laborkapazitäten ausgenutzt werden.
Pessimistisch stimmt, dass die Gesellschaft zuletzt wieder deutlich mobiler wurde. Die Corona-Müdigkeit ist verständlicherweise sehr groß, und sie drückt sich aus in mehr Bewegung. So ergab die Auswertung von Mobilfunkdaten laut RKI und Humboldt-Universität, dass die Menschen wieder so viel unterwegs sind wie während des Teil-Shutdowns im November – am sehr sonnigen Wochenende waren sie sogar mehr auf Achse als im Vorjahr.
Was bedeutet das für die Lockerungsdebatten?
Heute in einer Woche wollen Kanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten darüber entscheiden, wie es mit dem Lockdown nach dem 7. März weitergeht. Sah es vor zehn Tagen statistisch noch so aus, als könnten bis dahin die 50er-Inzidenz locker unterschritten und die 35er-Inzidenz bundesweit in greifbaren Nähe sein, stehen die Zeichen jetzt auf "Stopp". Gleichzeitig, siehe Corona-Müdigkeit der Bevölkerung und die zunehmende Mobilität, ist der Erwartungsdruck auf die Politik enorm, weitere Lockerungen zu beschließen.
Bei ihrer letzten Runde am 10. Februar hatten die Regierungschefs von Bund und Ländern noch auf Zeit gespielt und den versprochenen Corona-Stufenplan vertagt in der (schon damals trügerischen) Hoffnung, dass eine günstige Pandemieentwicklung ihnen unpopuläre Entscheidungen ersparen würde. Jetzt ist klar: Merkel & Co werden Farbe bekennen müssen. Wollen sie weiter öffnen oder sogar eine zusätzliche Brandmauer gegen die Gefahr der Mutationen einziehen, indem sie die Corona-Maßnahmen noch verschärfen? Und wenn sie verschärfen, halten sich die Menschen überhaupt noch daran?
Zum Farbebekennen gehört vor allem auch der weitere Umgang mit Kitas und Schulen. Die bereits gegangenen Öffnungsschritte rückgängig zu machen, ist politisch nahezu ausgeschlossen. Doch schon die Entscheidung, die älteren Kinder weiter komplett zu Hause zu belassen und Millionen Familien damit weiter keine Perspektive auf ein Ende des Ausnahmezustandes zu geben, wäre eine extrem harte. Sie wäre überhaupt nur dann zu rechtfertigen, wenn die Corona-Maßnahmen zeitgleich an anderer Stelle nachgeschärft würden.
Und da bliebe eigentlich nur noch ein Bereich: die Wirtschaft. Eine echte Home-Office-Pflicht. Denn die im Vergleich zum Frühjahr durchgängig größere gesellschaftliche Mobilität erklärt sich vor allem auch dadurch, dass im aktuellen Shutdown nie so viele Menschen von zu Hause gearbeitet haben wie ersten im Frühjahr. Das ist kein Zufall: Die Politik hatte Angst, erneut so viel Druck auf die Wirtschaft auszuüben, weil sie einen ähnlichen Wachstumseinbruch wie im Frühjahr unbedingt vermeiden wollte. Verständlich.
Doch wie gesagt: Kommt tatsächlich die "Dritte Welle" – die Merkel bereits sieht, auch wenn die Lage in Wirklichkeit unklar ist –, müssen sie und ihre Länderkollegen konsequent sein. Und dann, das ist meine persönliche Meinung als Bildungsjournalist, zur Abwechslung mal nicht auf Kosten der Kinder und Jugendlichen – für die persönlich die Pandemie das geringste gesundheitliche Risiko bedeutet, die aber mit die größten Einschränkungen ihrer Teilhaberechte in dieser Pandemie haben hinnehmen müssen. Doch dazu demnächst mehr.
Kommentar schreiben