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"Wir setzen Stabilität über Veränderung"

Heute Nachmittag haben die EFI-Wissenschaftsweisen der Kanzlerin ihr Jahresgutachten überreicht. Der Kommissionsvorsitzende Uwe Cantner über Deutschlands Agilitätsproblem und die zu geringe Risikobereitschaft, überfällige Reformen im Wissenschaftssystem – und drohende Kürzungen.

Foto: David Ausserhofer.

Herr Cantner, die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) legt heute ihr Jahresgutachten vor und mahnt eine "neue Missionsorientierung und Agilität in der F&I-Politik" an. Erklären Sie uns bitte, was mit dem Buzzword "Agilität" gemeint ist. 

 

Zunächst muss man mal festhalten, dass Deutschlands Innovationspolitik ein echtes Defizit in Sachen Agilität hat. Das heißt: Wir reagieren nicht flexibel genug auf die veränderten globalen Herausforderungen, wir denken nicht weit genug voraus und wir überprüfen unser politisches Handeln nicht ausreichend auf seine Wirksamkeit. Zudem begreifen wir unsere Fehler nicht als Gelegenheiten zum Lernen und steuern unsere Maßnahmen nicht genügend nach. Wir setzen Stabilität über Veränderung, obwohl eine agile Politik beide in einen den Herausforderungen angemessenen Ausgleich bringen würde.

 

Wie wird Deutschlands Innovationssystem agiler?

 

Ein agiles Innovationssystem bedingt Akteure, deren Handlungen ineinandergreifen. Das sind sowohl die Hochschulen und die Unternehmen, die Innovationen initiieren sollen, als auch die Ministerien und Behörden, von der Kommune bis hinauf zur EU, die den Rahmen für Innovationen bereitstellen sollen. Wenn der Politik das nicht besser gelingt, dann wird es für uns als Gesellschaft sehr schwierig werden, die großen Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Manches klappt ja auch schon sehr gut, denken Sie an die Schnelligkeit, mit der das deutsche Unternehmen BioNTech, übrigens eine Uni-Ausgründung und gefördert im Rahmen des Spitzenclusterwettbewerbs, einen hochwirksamen Corona-Impfstoff entwickelt hat. Aber möglicherweise liegen solche Positivbeispiele eher an den handelnden Personen als an den Strukturen, innerhalb derer sie agieren müssen. 

 

Gibt es auch Positivspiele agilen staatlichen Handelns in der Innovationspolitik? 

 

Für mich sind das die beiden neuen Agenturen des Bundes: die SPRIND Bundesagentur für Sprunginnovationen und die Agentur für Innovationen in der Cybersicherheit. Da mussten sich immerhin vier Bundesministerien verständigen, und das hat letztendlich gut geklappt. Auf Arbeitsebene haben sich die Verantwortlichen verständigt: BMBF und Wirtschaftsministerium machen SPRIND, Verteidigung und Inneres Cyber. Das ging erstaunlich schnell, kein Hochgeschwindigkeitszug, aber zügig und konsensual.

 

"Dass etwas in Bewegung kommt, zwischendurch innehaltend, evaluierend, nachsteuernd, sich reibend, dann weiterfahrend, das sind Elemente einer agilen Politik". 

 

Nur dass über die Agenturen schon drei Jahre debattiert wurde, bis sie im GroKo-Koalitionsvertrag standen. Und dass seit den von Ihnen angesprochenen Grundsatzentscheidungen auch schon wieder zwei Jahre vergangen sind, in denen SPRIND nur holprig und die Agentur für Cybersicherheit lange gar nicht vorangekommen ist. Die Hakeleien seitdem zwischen den beteiligten Ministerien und weiteren Akteuren wie Finanzministerium und Rechnungshof noch gar nicht eingerechnet.

 

Es ist ein Missverständnis zu denken, dass "agil" automatisch "schnell" bedeutet. Auch behaupte ich nicht, dass es zwischen den Agenturen und den Ministerien nicht die übrigen Reibereien und (Über-) Empfindlichkeiten gab und gibt. Aber dass da überhaupt etwas in Bewegung kommt, zwischendurch innehaltend, evaluierend, nachsteuernd, sich reibend, dann weiterfahrend, das sind Elemente einer agilen Politik. Einer Politik, die verstanden hat, dass Innovationen nicht dadurch entstehen, dass man einmal eine Ausschreibung macht, das Geld auf die Gewinner verteilt und sich dann dem nächsten Thema zuwendet. Die Bundesregierung will die Agenturen, sie setzt sie quasi auch gegen sich selbst durch, gegen die Kultur, wie sie in vielen Amtsstuben und Ministerien noch herrscht, und das ist sehr anerkennenswert. 


Uwe Cantner, 60, ist seit Mai 2019 Vorsitzender der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI). An der Universität Jena hat er eine Professur für VWL/Mikroökonomie, seit 2014 ist er Vizepräsident seiner Universität.

 

Die EFI wurde 2006 per Kabinettsbeschluss eingerichtet und legt der Bundesregierung jedes Jahr ein Gutachten zur "Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands" vor. Die weiteren Kommissionsmitglieder sind Irene BertschekHolger BoninTill RequateCarolin Häussler und Katharina Hölzle

 

Das heute an die Kanzlerin überreichte Gutachten ist auf der Website der EFI abrufbar. 
Foto: FSU/ A. Günther.


Auch wenn die beiden Agenturen und vor allem SPRIND meist die einzigen Beispiele sind, die Ihnen und anderen Experten als Beispiele einer agilen Innovationspolitik einfallen? 

 

Die erfolgreichen Beispiele agiler Innovationspolitik sind in der Tat nicht sehr zahlreich. Man muss sich nur überlegen, wie lange es gedauert hat, bis das Forschungszulagengesetz zustande kam. Umso schöner, wenn die Bundesregierung bei den Agenturen einen Ehrgeiz entwickelt hat. Hoffentlich hält er an.  

 

Ein Großteil der Forschungsfinanzierung des Bundes geht in die großen außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Müssen wir auch über deren Selbstverständnis sprechen, ihre magere Ausgründungs- und Startup-Bilanz und die geringe Unterstützung für Forscher, die ungewöhnliche Ideen umsetzen wollen?


Das könnte man. Aber unser Ansatz als EFI ist ein anderer – ein abstrakterer, um die notwendigen konzeptionellen Überlegungen nicht einzuengen. Wir fordern von der Politik, agiler zu werden in der Verfolgung ihrer innovationspolitischen Ziele. Dazu muss sie zunächst  Ziele, ihre Missionen, klar definieren und dann für die jeweiligen Missionen – nehmen wir zum Beispiel die Mobilitätswende oder den Erhalt der Biodiversität –die folgenden Fragen beantworten: Welche Maßnahmen sind geeignet, um das angestrebte Ziel zu erreichen? Welche Akteure müssen dafür ins Boot geholt werden, und was brauchen sie, um erfolgreich sein zu können? 

 

Jetzt aber bitte mal konkret.

 

Erstens brauchen Sie bei der Mobilitätswende die technologischen Neuerungen, Elektromotoren, Batteriespeichertechnik, die Brennstoffzelle, ergänzt um digitale Mobilitätskonzepte und die Forschung zum Beispiel zum autonomen Fahren. Doch Sie brauchen zweitens auch Konsumentinnen und Konsumenten, die bereit sind, von fossilen auf regenerative Antriebsformen umzusteigen. Eine solche Verhaltensänderung erreichen Sie zum Beispiel über einen CO2-Preis. Diesen hat die Politik eingeführt, nicht so hoch, wie wir uns das gewünscht haben, aber gut, aller Anfang ist schwer. Sie müssen aber drittens auch soziale Innovationen im Auge haben, denn zur Mobilitätswende gehört auch ein neues Verständnis von Mobilität, zum Beispiel Car-Sharing, anstatt dass jeder sein eigenes Auto hat. Und so sind ganz schnell vier, fünf Ministerien involviert: Forschung, Verkehr, Wirtschaft, Finanzen, dazu Wissenschaftseinrichtungen, Unternehmen und so weiter. Die müssen Sie als agile Politik koordinieren untereinander, geschickt abstimmen, vom Ziel – der Mission – her zu denken. In diesem Fall von der Mission der Mobilitätswende. Und das klappt hier bislang nicht wirklich.   



Welche Konsequenzen hat das denn nun für die Forschungsfinanzierung und die großen Forschungsorganisationen?

 

Die kommen bei vielen der genannten Aspekte automatisch ins Spiel. Und sobald sie berührt sind, muss die Politik wiederum fragen: Haben diese Einrichtungen eine ausreichende finanzielle Ausstattung, um den erwarteten Beitrag zum Ziel zu erreichen? Sind sie inhaltlich geeignet strukturiert? Bearbeiten sie bereits die richtigen Forschungsfragen? Sie sehen, das kann schon sehr kleinteilig werden. Aber agile Innovationspolitik ist immer ein Prozess, bei dem viele Akteure eingebunden sind, die es geschickt aufeinander abzustimmen und zu orchestrieren gilt. Da gibt es keine Blaupause, aber es gibt die Grundhaltung eines anderen – agilen – politischen Handelns. Die Operationalisierung ergibt sich daraus abhängig vom Ziel fast automatisch. 

 

Ihr Vertrauen in allen Ehren. Wenn Sie Max Planck, Fraunhofer, Helmholtz und Leibniz fragen, ob sie sich im Sinne einer agilen Innovationspolitik weiterentwickeln müssen, antworten die Ihnen: Wieso? Wir sind doch schon hochinnovativ. 

 

Selbst wenn sie es nicht wären: Veränderungen gegen die Bereitschaft der Forschungsorganisationen, sich zu ändern, durchzusetzen, ist nahezu unmöglich und wäre auch falsch. Die Freiheit in Forschung und Lehre ist ein hohes Gut. Aber Sie haben es schon angesprochen: Natürlich müssen sich die Organisationen und ihre Institute immer wieder fragen lassen, ob sie finden, dass sie an der Schwelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, also beim Erkenntnis- und Technologietransfer, bereits ausreichend stark aufgestellt sind. Ich würde das bezweifeln. Es wird frei geforscht, zum Teil auf sehr hohem Niveau, es werden auch hier und da gute Innovationsideen generiert, aber bei deren Transfer in die Welt außerhalb der Wissenschaft klemmt’s dann oft. Da muss man ran, keine Frage. Vielleicht durch diese oder jene Umstrukturierung. Aber dafür, unser Wissenschaftssystem im großen Stil umzubauen, sehe ich keinen Grund. 

 

Keinen Grund oder keine politische Bereitschaft, sich den damit verbundenen Ärger aufzuhalsen?

 

Unser Wissenschaftssystem steht weltweit nicht so schlecht da. Die Exzellenzinitiative und ihr Nachfolger, die Exzellenzstrategie, mögen ja umstritten sein, aber sie haben die deutsche Forschung in den vergangenen zehn Jahren schon ein ganzes Stück nach vorn gebracht. Warum also sollten wir das System komplett auf den Kopf stellen?

 

"Das Mindeste ist, dass die großen Forschungsinstitute
den Forschenden, die sich eine Ausgründung zutrauen,
klare und transparente Standards bieten."

 

Gerade Fraunhofer und Helmholtz stehen unter Druck, was ihre Transferleistung bzw. die geringe Zahl erfolgreicher Startups angeht. 

 

Wir haben uns im Gutachten dazu nicht ausführlich geäußert, aber dass Deutschland und Europa beim Transfer den USA hinterherlaufen, ist ein altbekanntes Phänomen, das in der Innovationsforschung als "European Paradox" bezeichnet wird. Das ist kein Problem von Helmholtz oder Fraunhofer allein. Forschende in Europa sehen sich oftmals nur als Forschende, an der Umsetzung ihrer Forschungsergebnisse in Wirtschaft und Gesellschaft haben viele überhaupt kein Interesse. Sie haben auch nicht die nötigen Kompetenzen dafür erworben. Man kann versuchen, zum Beispiel durch bestimmte Förderformate die Ausgründungsbereitschaft unter Forschenden zu unterstützen, aber dann kommen noch die im Vergleich zu den USA viel schlechteren sonstigen Rahmenbedingungen hinzu: vom Patentrecht und der Absicherung intellektuellen Eigentums über Lizensierungen und rechtliche Hürden für Kooperationen bis hin zur Bereitschaft des Kapitalmarkts, in Startups zu investieren.  

 

Was sollten die Forschungsorganisationen tun?

 

Das Mindeste ist, dass sie den Forschenden, die sich tatsächlich eine Ausgründung zutrauen, klare und transparente Standards bieten. Wenn so ein Laden nachher läuft, verdienen die Forschungsorganisationen und Hochschulen eine Menge Geld an dem, was ihre Wissenschaftler auf die Beine gestellt haben. Aber bitte lasst sie in der Gründungsphase in Ruhe, schöpft nicht da schon Geld und Ressourcen ab. Vor ein paar Jahren haben wir als EFI eine Reise ins Silicon Valley gemacht. Wenn eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler dort ein Startup gründen will, füllt er oder sie ein Formblatt aus, reicht es ein und legt am nächsten Tag los. In Deutschland beginnt dann erst ein ewiger Verhandlungsprozess, der bei jeder Organisation und Hochschule ein anderer ist, null strukturiert und dazu oft mit Vertragsbedingungen, die für die gründungswilligen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler alles andere als attraktiv sind. Vor einer Weile gab es mal die Forderung nach einem Transferfreiheitsgesetz für die Wissenschaft, das ist aus irgendeinem Grund wieder in der Diskurs-Mottenkiste verschwunden. Da sollten wir es dringend wieder rausholen.  

 

"Wir fordern die Bundesregierung auf, dass sie
den Wissenschafts- und Innovationsbereich
von Kürzungen ausnimmt."

 

Ihre Vorstellung einer agilen Politik klingt spannend – und teuer. Nach der Corona-Krise droht der Sparhammer. Wenn er zuschlägt, ist es dann nicht auch mit allen wissenschafts- und innovationspolitischen Ambitionen sehr schnell vorbei?

 

Das ist eine Frage, die uns in unserem Gutachten gleich an mehreren Stellen beschäftigt. Die Bewältigung der Pandemie hat zu Recht höchste Priorität. Dazu gehört, dass, so teuer sie sind, die kurzfristigen Stabilisierungsmaßnahmen der Politik nicht vorrangig auf die Stärkung von Forschung und Innovation ausgerichtet sind. Doch irgendwann droht die Rechnung in Form eines zusätzlichen Schuldendienstes allen auf die Füße zu fallen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, dass sie den Wissenschafts- und Innovationsbereich von Kürzungen ausnimmt. Oder, wenn das nicht möglich ist, im F&I-Bereich zumindest unterproportional einspart. 

 

Das hört sich sehr defensiv an – fast so, als bauten Sie der Politik schon eine Spar-Brücke. 

 

Das mögen Sie uns vorwerfen, aber als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und als EFI-Mitglieder nehmen wir immer eine übergeordnete, gesamtstaatliche Perspektive ein, und da müssen wir nun einmal anerkennen, dass es diese Schuldenproblematik geben wird. Wenn wir Glück haben, trifft es uns alle gar nicht so stark, weil das Wachstum schnell wieder anspringt und zusätzliche Steuereinnahmen generiert. Andernfalls wird es aber schon schwer zu argumentieren, dass ausgerechnet und einzig der Forschungsbereich besser behandelt wird. Zumal wir in der Wissenschaft ja schon vergleichsweise gut durch die Krise gekommen sind bislang.

 

Wie meinen Sie das?

 

Die Labortätigkeiten sind sicherlich eingeschränkt, die Kinderbetreuung verursacht Probleme, alles richtig. Wenn ich mir aber anschaue, unter welchen Einschränkungen und Gehaltseinbußen die Beschäftigten vieler Unternehmen gerade zu leiden haben, relativiert das manches. 

 

Sie halten Einsparungen in der Wissenschaft im Notfall für vertretbar, fordern aber gleichzeitig große Anstrengungen, damit Deutschland bei neuen Schlüsseltechnologien wie dem grünen Wasserstoff oder Quantencomputern nicht noch einmal so den Anschluss verliert an die Weltspitze wie bei der Digitalisierung. Wie geht das zusammen?  

 

Das kann und muss zusammengehen. Die Bundesregierung hat in ihrem Zukunftspaket nicht unerhebliche Beträge gerade für Wasserstoff und Quanten vorgesehen, das begrüßen wir, zumal damit eine Forderung von uns aus dem Sommer 2020 aufgegriffen wurde. Insofern bedeutet die Krise ja nicht automatisch nur weniger Geld für die Forschung, sondern zunächst einmal zusätzliche Milliarden für Forschungsfelder, die sonst vermutlich nicht geflossen wären.  

 

Die EFI äußert sich auch zur beruflichen Aus- und Weiterbildung und mahnt eine konsequente Digitalisierung an.

 

Das war uns ein Anliegen. Digitalisierung ist für uns ein Dauerthema, aber bislang haben wir uns vor allem mit Forschungsfragen beschäftigt, von KI bis zu autonomen Systemen. Außerdem haben wir zur Digitalisierung der Hochschullehre eine Pauschale pro Studierendem vorgeschlagen…

 

…die bis heute nicht umgesetzt wurde.

 

Manches dauert eben etwas länger. Dieses Jahr wollten wir betonen: Die Digitalisierung hält ja nicht nur im Hochschulbereich oder in den Chefetagen Einzug, sondern in der ganzen Breite der Arbeitswelt. Althergebrachte Berufe verschwinden. Die Berufe, die bleiben, verändern sich, erfordern neue Kompetenzen, neue Ausbildungscurricula. Und dann kommen jede Menge neue Tätigkeiten hinzu.

 

"Wir teilen nicht die Sorge, dass es durch die digitale Transformation zu ganz großen sozialen Umwälzungen kommt – solange die Menschen die nötigen neuen Kompetenzen erwerben."

 

Das klingt gar nicht so pessimistisch. Oft heißt es, die digitale Transformation sei ein Jobfresser.  

 

Natürlich wird es Gewinner und Verlierer geben. Etwa 3,8 Millionen Menschen werden bis 2035 aufgrund des Strukturwandels ihren Arbeitsplatz verlieren. Es entstehen bis dahin aber auch 3,2 Millionen neue Jobs. Insofern teilen wir als EFI nicht die Sorge, dass es zu ganz großen sozialen Umwälzungen kommt – solange die Menschen die nötigen neuen Kompetenzen erwerben: digitale vor allem, aber auch im Bereich der sogenannten Soft Skills.

 

Soft Skills?

 

Ja, von vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern werden ganz neue Formen der Selbstorganisation und der Mitarbeit in Teams verlangt. Darauf müssen sie vorbereitet werden – in der Ausbildung, aber auch dann, wenn sie schon mitten im Berufsleben stehen. Doch genau da liegt das Problem: Der Markt der beruflichen Weiterbildung ist sehr heterogen, es fehlen klare Qualitätsanforderungen. Deshalb schlagen wir vor, dass Zusatzqualifikationen künftig über einheitliche und hochwertige Weiterbildungszertifikate bescheinigt werden. Und wir mahnen einen Paradigmenwechsel bei der Weiterbildung an. Sie muss als Prävention verstanden werden. Mit anderen Worten: Wenn ich Beschäftigte erst dann weiterbilde, wenn sie schon arbeitslos geworden sind, ist es zu spät. Damit die Politik rechtzeitig handelt, muss sie ein geschicktes Monitoring aufbauen, um herauszufinden: Wo sind die gefährdeten Jobs, wo sind die Personen, die wir frühzeitig in die Weiterbildung bringen müssen? Und welche Kompetenzen sollten sie erlernen, um den Bedürfnissen des künftigen Arbeitsmarkts gerecht zu werden? Im Idealfall verlaufen Strukturwandel und Jobwechsel dann nahezu friktionsfrei. 

 

Ein Idealbild.

 

Ja, aber mehr noch ein Anspruch! Es wäre doch unfair, die Betroffenen in die absehbare Arbeitslosigkeit hineinlaufen zu lassen. 

 

Erstaunlich ist, dass die EFI dieses Jahr auch die sogenannte Genschere so prominent behandelt, ein ganz und gar nicht neues Thema. Wollen Sie das Momentum nutzen, dass durch die Entwicklung von Corona-Impfstoffen auf mRNA-Basis entstanden ist? 

 

Wir hatten uns das Thema schon vor der Coronakrise auf die Agenda gesetzt, aber natürlich hilft der Impfstoff jetzt unserem Anliegen – und ebenfalls, dass Emmanuelle Charpentier als eine der Entwicklerinnen von CRISPR-Cas9 den Nobelpreis erhalten hat. Der Gesundheitssektor wird für den künftigen Wohlstand unserer Gesellschaft wie auch für ihre Innovationsfähigkeit eine große Rolle spielen, weshalb wir uns in den nächsten Jahren noch häufiger biomedizinischen Themen widmen werden. In dem Sinne war die Genschere jetzt nur ein Anfang. 

 

Und was fordern Sie?

 

Wir sind eine Innovationskommission, keine Ethikkommission. Ethische Fragen können wir nicht beantworten, wir votieren aber dafür, dass andere die Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der Biotechnologie jetzt führen, denn sie ist überfällig. Bis dahin lassen wir als EFI Eingriffe in die Keimbahnen beiseite und konzentrieren uns auf Anwendungsgebiete der Biotechnologie, bei denen Vererbungen nicht stattfinden, weshalb sie ethisch auch vergleichsweise unproblematisch sind. Dazu gehört auch die Genschere. Und da haben wir uns nach unserem üblichen EFI-Schema genau angeschaut: Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich bei der Forschung, also in Hinblick auf Publikationen? Wie sieht es bei der Anwendung aus, also bei Patenten oder klinischen Studien? Und: Wie steht es um die Kommerzialisierung oder anders formuliert: An welchen Stellen wird schon Geld mit Produkten verdient?

 

"Bei den Patenten und klinischen Studien
wird es dann dunkel."

 

Und wie fallen die Antworten aus?

 

Es ergibt sich das Bild, was wir auch schon von anderen neuen Technologien her kennen. In der Forschung steht Deutschland recht gut da, weit hinter den USA und China natürlich, aber vor den meisten anderen. Bei den Patenten und klinischen Studien wird es dann dunkel. In unserer Datenanalyse haben wir überhaupt nur eine klinische Studie zu CRISPR-Cas9 auftun können, die meisten finden in der Schweiz statt – was natürlich auch damit zu tun hat, dass Frau Charpentier zwar in Deutschland forscht, aber in der Schweiz ihr Unternehmen hat. Etwas, das uns zu denken geben sollte! Bei der Kommerzialisierung, also wenn man sich anschaut, welche Unternehmen schon im Markt mitmischen, sind das in Deutschland insgesamt sehr wenige und dann fast ausschließlich die großen Pharmakonzerne und fast gar keine Startups. In den USA dagegen sind sehr viele Firmen dabei – und zumeist Startups.  

 

Welche Schlussfolgerung ziehen Sie daraus?

 

Die Genschere hat ein hohes gesellschaftliches und therapeutisches Potenzial für hunderte Millionen von Menschen, sie hat aber auch ökonomisch potenziell große Bedeutung. Deutschland kann sich nicht leisten, da hinterherzulaufen. Die gute Grundlagenforschung muss weiter großzügig gefördert werden, vor allem aber brauchen wir zusätzlich Zentren zur Translation, die den Übergang zwischen Forschung und Anwendung in Form klinischer Studien vorantreiben. Das wird aber nur gelingen, wenn wir die enorm bürokratischen Genehmigungsverfahren verschlanken. Wenn Sie in Deutschland eine Versuchsreihe machen wollen, müssen Sie jede einzelne davon genehmigen lassen. In den USA machen Sie das im Paket: die nächsten 100 Versuchsreihen zum Beispiel. Warum soll Vergleichbares nicht auch bei uns gehen? Da sind wir dann schnell wieder beim Thema Agilität in der Wissenschaftspolitik.

 

Aber ohne genügend Risikokapital für Startups wird auch das wenig bringen. 

 

Das ist wirklich ein Riesenmanko. Darum begrüßen wir als EFI, dass die Bundesregierung einen Zukunftsfonds für Zukunftstechnologien fördert. 10 Milliarden für 10 Jahre. Natürlich wird das nicht alles in CRISPR-Cas9 fließen, aber die Finanzierungsschwierigkeiten sind ja bei anderen Technologien nicht geringer. Wenn wir mithilfe einer agileren Politik die Themen Transfer, Genehmigungsverfahren und Wagnisfinanzierung bei der Genschere gelöst bekommen, wäre das ein Signal, dass Deutschland auch bei anderen Zukunftstechnologien den Aufbruch schaffen will.




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Kommentare: 3
  • #1

    Th. Klein (Donnerstag, 25 Februar 2021 08:51)

    „Das Mindeste ist, dass sie den Forschenden, die sich tatsächlich eine Ausgründung zutrauen, klare und transparente Standards bieten. Wenn so ein Laden nachher läuft, verdienen die Forschungsorganisationen und Hochschulen eine Menge Geld an dem, was ihre Wissenschaftler auf die Beine gestellt haben.“ – Nach Weiterbildung und Patenten die nächste Cashcow der Hochschulen. Die Erwartungen bei den beiden anderen wurden schon nicht eingelöst. Den Druck auf den Startup-Bereich zu übertragen, finde ich falsch. Wenn Hochschulen hier finanziell profitieren wollen, senkt dies die Motivation der Gründungswilligen. Dann kommt Bürokratie rein, reinredende Stakeholder der Hochschulen etc.

    „Forschende in Europa sehen sich oftmals nur als Forschende, an der Umsetzung ihrer Forschungsergebnisse in Wirtschaft und Gesellschaft haben viele überhaupt kein Interesse. Sie haben auch nicht die nötigen Kompetenzen dafür erworben.“ – Dies sollte bei der FhG (siehe Frage) doch anders sein. Die FhG wächst ja auch insgesamt, aber Ausgründungen bleiben hinter den Erwartungen. Nutzt man die Potenziale nicht? Hier muss man ran. M.E. ist die Verbindung zu den FH/HAWs zu schwach ausgeprägt. Eigentlich sollten sie gemäß des Auftrags der angewandten Forschung natürliche Partner der FhG sein. Doch im Vergleich zu den Unis kommen Sie mit den Anwendungszentren eher schwach weg. Doppelberufungen finden m.E. ausschließlich mit Unis statt. Usw usw. Hier besteht Nachhochbedarf!

  • #2

    LeanderK (Donnerstag, 25 Februar 2021 19:59)

    Ich stimme nicht mit Th. Klein überein. Ich habe etwas Berührungspunkte zu der Startup-Welt und glaube dass ein institutioneller Wandel wichtig ist und das geht nur wenn die Institutionen profitieren. Sonst wird es halbherzig gemacht und so wirklich interessiert es dann doch keinen wie gut die Grüngungsintensität ist.


    Ein unternehmerisches Handeln der Hochschulen und anderen Institutionen muss möglich sein wenn diese ernsthaft dazu motiviert werden sollen ihre eigene Grüngungsintensität zu fördern. Man darf mMn auch dabei nicht vergessen dass dadurch, falls es funktioniert, ein ziemlicher Mehrwert für die Gesellschaft entsteht. Zum einen entstehen neue High-Tech Unternehmen, Arbeitsplätze und Steuern, zum anderen können Hochschulen durch das unternehmerische Handeln zusätzliche Einnahmen generieren die dann wieder der Hochschule zu gute kommen. Vtl. kann damit ja dann auch ein Rasen gemäht werden oder ein seit jähren Marodes Dach notdürftig modernisiert werden.


    Im allgemeinen habe ich ein positives Bild von der Betreuung der Startups durch die Hochschulen und glaube nicht dass sich die Hochschulen durch komische Regulierungen selber ins Bein schießen. Die darin engagierten Lehrstühle sind Startup-affin und haben inzwischen Erfahrung. Die bürokratischen Probleme kommen von der Struktur von EXIST (warum müssen eigentlich solche Programme immer so unglaublich bürokratisch sein?) und nicht den Hochschulen.


    Ich sehe das so, dass viel Geld in Deutschland in Forschung investiert wird, dies ist gut und wichtig. Vieles in der Forschung hat eine Menge Anwendungen, jedoch ist es entweder den Forschern nicht bewusst oder der Weg zur Ausgründung für sie mit hohem persönlichen Risiko und Mut verbunden. Dies ist jedes Mal eine verpasste Chance Mehrwert zu generieren. Wir investieren, haben die Chance aber diese löst sich dann einfach in Luft auf. Eine Forschungseinrichtungen, welche auch selber versucht marktfähige Möglichkeiten zu finden und diese auch zu verwerten, weil es ihr selber nutzt, kann enorm viel erreichen. Eine Beteiligung an einem erfolgreichen Unternehmen kann sich langfristig lohnen. Ein weiterer Grund weshalb die Universitäten autonomer werden sollten und sich mehr als Akteure in der Gesellschaft verstehen sollten, angefangen bei unseren technischen Universitäten. Ich will garnicht wissen wieviel Potential da jedes Jahr verloren geht (wenn man es z.B. mit der Gründungsintensität der ETH oder des MITs vergleicht).

  • #3

    René Krempkow (Montag, 01 März 2021 15:01)

    @Th. Klein und LeanderK: Sie weisen beide aus meiner Sicht auf wichtige Aspekte hin, da Sie die Rolle der Gründungswilligen und der Hochschulen beim Gründungsverhalten von Forschenden in Zusammenhang sehen. Oft werden dabei als Forschende aber immer noch v.a. Professoren gesehen. Und Fördermaßnahmen gibt es oft entweder ausgerichtet auf Profs - oder für Studierende bzw. Graduierte in den ersten Jahren nach Abschluss. Vermutlich ist dies so, weil man fälschlich immer noch davon ausgeht, dass Nachwuchsforschende größtenteils in der Wissenschaft bleiben.
    Jedenfalls wurde bereits im Gründungsradar 2017 des Stifterverbandes festgestellt, dass die Gruppe der Nachwuchsforschenden bei der Gründungsförderung der Hochschulen kaum im Fokus stand.

    Dies erstaunte, da sie besonders in Richtung selbstständiges Arbeiten ausgebildet sind/werden und besonders mit Arbeitsplatzunsicherheit aufgrund Befristung und Kurzzeitverträgen konfrontiert sind (siehe auch Blogbeitrag hier: www.jmwiarda.de/2021/02/19/ich-erwarte-riesenprobleme/ - und dies gilt außerdem bei in der Wissenschaft relativ geringen Einflussmöglichkeiten auf Berufsperspektiven aufgrund eigener Leistungen, s. www.researchgate.net/publication/333163357).

    Daher wurde bereits vor einigen Jahren mit den deutschlandweit verfügbaren Datenbeständen die Frage zu beantworten versucht: Wie groß ist das Gründungspotential Nachwuchsforschender?
    Im Ergebnis der Auswertungen wurde als These formuliert: Das Gründungspotential beim wiss. Nachwuchs in Deutschland ist mindestens etwa gleich groß wie unter Hochschulabsolventen insgesamt (www.researchgate.net/publication/349693628).
    Hier könnte also - wenn dies gewünscht ist - ggf. mit entsprechenden Maßnahmen, die (auch) auf Nachwuchsforschende ausgerichtet sind, noch Einiges an Potenzial gehoben werden.