Während des Lockdowns ist der Anteil infizierter Kinder und Jugendlicher an allen Corona-Fällen immer weiter gestiegen. Zuletzt rasten sogar die absoluten Zahlen nach oben. Was steckt hinter dieser Entwicklung? Eine Analyse vor der Corona-Spitzenrunde am Mittwoch.
DARF ICH MAL eine Prognose abgeben? Angenommen, die steigenden Infektionszahlen wachsen sich tatsächlich zur gefürchteten Dritten Welle aus, werden in ein paar Wochen oder Tagen viele wieder sagen: Die Schulen sind schuld! Obwohl das Wachstum bei den Neuinfektionen seinen Riesensprung um 35 Prozentpunkte (von -25 auf +10) schon machte, bevor die Kitas und Grundschulen wieder in den (teilweisen) Regelbetrieb gestartet waren.
Ich will damit nicht sagen, dass die Kitas und Schulen in der Pandemie keine Rolle spielen. Ich würde mir allerdings wünschen, dass die Debatte über ihren Beitrag zum Infektionsgeschehen möglichst differenziert geführt wird. Nicht nur, weil alles Andere den Kindern und Jugendlichen nicht gerecht wird, sondern weil andere – möglicherweise viel wichtigere – Fragen sonst in den Hintergrund geraten. Zum Beispiel, wie es sein kann, dass das Auf und Ab der Pandemie offenbar relativ unabhängig von der Entwicklung an den Kitas und Schulen passiert, was das mit Erwachsenen und deren Verhalten und mit offenen Büros, Fabriken oder Grenzen zu Nachbarländern mit Hochinzidenzen zu tun hat. Das sind die Fragen, die sich Kanzlerin und Ministerpräsidenten am Mittwoch stellen sollten, bevor sie über mögliche Lockerungsschritte neben Kitas und Schulen beraten.
Zunächst zu dem, was die Meldezahlen hergeben. Dann zur Frage, inwieweit man ihnen trauen kann. Und schließlich, was aus alldem folgt.
1. Unter den Neuinfizierten sind immer mehr Kinder und Jugendliche.
In der gestern zu Ende gegangenen Kalenderwoche nahm die Zahl der ans Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Neuinfektionen bei Unter-5-Jährigen um knapp ein Drittel (32,0 Prozent) auf 1813 zu. Und dieser Wert ist noch vorläufig, wird also steigen, da bis morgen noch viele Nachmeldungen kommen. Bei den 5- bis 14-Jährigen wurden 3736 Neuinfektionen (+19,6 Prozent) verzeichnet, und bei den 15- bis 19-Jährigen 2960 (+12,9 Prozent). Zum Vergleich: In der Altersgruppe der 20- bis 69-Jährigen betrug der Anstieg 4,9 Prozent. Bei den Über-70-Jährigen gab es sogar ein Minus von 12,5 Prozent.
Die Meldezahlen der Kalenderwoche vom 22. bis 28. Februar spiegeln das Infektionsgeschehen des Zeitraums von acht bis 13 Tagen vorher wider, also etwa vom 9. bis spätestens 20. Februar. In elf Bundesländern öffneten die Grundschulen erst am 22. Februar wieder zum Wechselunterricht, in Niedersachsen waren sie seit Mitte Januar wieder geöffnet, in Sachsen seit dem 15. Februar. Der Großteil der älteren Kinder und Jugendlichen, abgesehen von den Schülern der Abschlussklassen, sind nach wie vor zu Hause. Viele Kitas nahmen ebenfalls am 22. Februar wieder den (eingeschränkten) Regelbetrieb auf.
Der Anteil der neuinfizierten Unter-5-Jährigen an den Neuinfektionen aller Altersgruppen kletterte derweil binnen Wochenfrist von 2,62 auf 3,32 Prozent. Bei den 5- bis 14-Jährigen stieg der Anteil von 5,96 auf 6,84 Prozent, bei den 15- bis 19-Jährigen ging es von 5,0 auf 5,42 Prozent hoch.
Damit lag der Anteil der neuinfizierten Kinder und Jugendlichen zu Ende der Kita- und Schulschließungen auf einem deutlich höherem Niveau als vor Beginn des Lockdowns Mitte Dezember (0- bis 4-Jährige damals: 1,80 Prozent; 5- bis 14-Jährige: 5,48 Prozent, 15- bis 19-Jährige: 4,85 Prozent).
Auch die absoluten Zahlen zeigen, dass Kinder und Jugendliche im Lockdown vergleichsweise geringe Rückgänge bei den gemeldeten Neuinfektionen zu verzeichnen hatten. Die 1813 neuinfizierten Unter-5-Jährigen vergangene Wochen waren 41,7 Prozent weniger als Mitte Dezember. Und die 3736 neuinfizierten 5- bis 14-Jährigen bedeuteten ein Minus von 61,1 Prozent. Während der Rückgang bei allen übrigen Altersgruppen zusammen 69,7 Prozent betrug.
2. Die Meldezahlen unterschätzen die Neuinfektionen bei den Kindern und Jugendlichen derzeit vermutlich stark.
Die nach Altersgruppen gestaffelten Corona-Testzahlen liegen für die vergangene Kalenderwoche erst am Mittwoch vor. In der vorvergangenen Woche jedoch wurden nur ein gutes Drittel so viele Kinder und Jugendliche auf eine Infektion getestet wie Mitte Dezember, womit sich der Trend der empfindlichen Untertestung seit Beginn der Kita- und Schulschließungen fortsetzte. Insofern waren und sind die offiziellen Infektionszahlen bei Kindern und Jugendlichen derzeit mit besonderer Vorsicht zu genießen, weil sie im Vergleich zu vor den Schulschließungen das tatsächliche Infektionsgeschehen bei Kindern und Jugendlichen aktuell deutlich stärker unterschätzen dürften.
Der jüngste Sprung nach oben bei den Infektionszahlen besonders bei den 0- bis 14-Jährigen könnte auf eine Rückkehr zu höheren Testzahlen hinweisen, womit das gemeldete Infektionsgeschehen wieder ein Stück näher an der Realität läge. Bestätigt sich diese Vermutung beim neuen RKI-Testreport am Mittwoch, sollte das große Plus der vergangenen Woche nicht zu stark gewichtet werden. Wichtiger und bemerkenswerter ist in jedem Fall, dass es während des Lockdowns insgesamt trotz der wenigen Tests einen vergleichsweise geringen Rückgang bei den gemeldeten Neuinfektionen unter Kindern und Jugendlichen gab.
3. Schlussfolgerung: Bitte guckt auf die Erwachsenen, wenn die "Dritte Welle" kommt.
Das RKI hat jüngst darauf hingewiesen, dass Schülerinnen und Schüler bei der Verbreitung des Coronavirus "eher nicht als 'Motor' eine größere Rolle spielen, aber dass die Häufigkeit in einer engen Beziehung zur Inzidenz in der Gesamtbevölkerung steht". Mit anderen Worten: Die Gesellschaft als Ganzes steht in der Verantwortung, sich einzuschränken, um das Pandemiegeschehen zu kontrollieren. Denn dann ist es auch an Bildungseinrichtungen kontrollierbar.
Genau darauf deuten auch die Meldezahlen seit Dezember hin: Relativ gesehen war der Anteil der Kinder und Jugendlichen an allen Neuinfektionen vor dem Lockdown geringer. Dass er während des Lockdowns gestiegen ist, spricht dafür, dass es in anderen Altersgruppen eine größere Pandemie-Dynamik gegeben hat, die gebrochen werden konnte.
Dass nun die gesamtgesellschaftlichen Infektionsmeldungen wieder zugenommen haben, bevor die meisten Kita- und Schulschließungen endeten, ist eine weitere wichtige Beobachtung. Und zu welchem Anteil die zuletzt stark überdurchschnittlich gekletterten Infektionszahlen bei Kindern und Jugendlichen auch Folge vermehrter Tests sind*, werden wir in Kürze wissen.
Wer behauptet, der Dezember-Lockdown habe die bundesweiten Neuinfektionen nur dank der Kita- und Schulschließungen herunterbringen können, wird diese Aussage jedenfalls nicht in den RKI-Zahlen belegt finden. Und wer sich in ein paar Wochen hinstellt und sagt, der erneute Anstieg habe mit den wieder offenen Kitas und Schulen angefangen, hat die Meldezahlen ebenfalls nicht auf seiner Seite. In jedem Fall wäre es ein großer Fehler, falls die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten am Mittwoch denken sollten, sie könnten pandemiemäßig vor allem dadurch auf die Bremse treten, dass sie die weiteren Schulöffnungen verlangsamen – womöglich sogar noch zugunsten von Einzelhandel oder (Außen-)Gastronomie.
Es wäre zu wünschen, dass genau diese Differenzierung in die Pandemie-Debatte einziehen würde. Und dass die miese RKI-Datenqualität, die ohne Zweifel da ist, nicht dazu führt, sich anstatt auf die Erwachsenen doch wieder auf die Kinder und Jugendlichen zu fokussieren. Die Lösung liegt in endlich mehr Tests für alle Altersgruppen und der Erkenntnis, dass Erwachsene erstmal bei sich selbst schauen sollten, wie sie die Pandemie bremsen können – anstatt die empfindlichsten Einschränkungen erneut und vor allem den Kindern aufbürden zu wollen.
*Nachtrag am 03. März 2021:
Wie erwartet drückt sich in den gestiegenen Infektionsmeldungen unter Kinder und Jugendlichen auch die mit den verbreiteten Öffnungen von Kitas und Schulen endlich wieder angezogene Testrate aus. Das geht aus dem heute veröffentlichten RKI-Bericht zu den wöchentlichen Corona-Tests hervor. Umso wichtiger, immer wieder vor dem Fehlschluss zu warnen, dass die gestiegenen Zahlen eine Folge der wieder offenen Bildungseinrichtungen seien.
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