In den Bund-Länder-Beschlüssen spielen Bildung und die Belange von Kindern und Jugendlichen fast keine Rolle mehr. Das ist als Signal verheerend. Praktisch heißt das: Die einzelnen Länder müssen jetzt umso entschiedener handeln.
DIESEN BUND-LÄNDER-BESCHLUSS liest man am besten von hinten nach vorn. Da findet man dann in den Protokollerklärungen, dass Sachsen "die hier beschlossenen unkonditionierten Öffnungen angesichts der aktuellen und absehbaren Infektionslage sowie der Impfquote für nicht vertretbar" hält. Dass Thüringen es als unverständlich bezeichnet, dass sich die Regierungschefs nicht auf das kürzlich veröffentlichte Öffnungskonzept des Robert-Koch-Instituts (RKI) als Grundlage ihrer Beschlüsse einigen konnten, denn das wäre "aus Thüringer Sicht möglich und notwendig gewesen". Und die Länder Niedersachsen und Sachsen-Anhalt wollen die Beschlüsse zu den Öffnungsschritten nur als "Orientierungsrahmen" verstehen.
Kurzum: Der Plan, den Merkel und die Ministerpräsidenten für den weiteren Weg durch die Pandemie vorgezeichnet haben, ist selbst für viele von denen, die ihn beschlossen haben, ein konzeptioneller Reinfall. Man tagte und tagte, man debattierte und stritt, doch am Ende kapitulierte man, wie der Spiegel am Morgen schrieb, "vor der Infektionsdynamik, vor dem öffentlichen Druck, vor dem eigenen Versagen." Wobei das eigene Versagen der Politik, das nur nebenbei gesagt, sehr viel objektiver festzustellen ist als der angeblich so große öffentliche Druck, die vielbeschworene "Corona-Müdigkeit".
Der Reinfall, die Kapitulation lassen sich an vielen konkreten Beispielen im 13-seitigen Beschlussdokument durchdeklinieren. Als Bildungsjournalist will ich mich aus Zeitgründen auf die Perspektive der Kinder und Jugendlichen, der Kitas, Schulen und Hochschulen beschränken. Denn das ist erschütternd genug.
Was eine kurze
Textanalyse ergibt
Bei den künftigen Öffnungsschritten, die die Regierungschefs gestern skizziert haben, kommt der Begriff "Kitas" null mal vor. "Schule" steht zweimal da, allerdings einmal verbunden mit der Feststellung, dass, nachdem man "erste Öffnungsschritte im Bereich der Schulen und Friseure" vollzogen habe, es nun um einem zweiten Öffnungsschritt im öffentlichen Bereich gehe. Fast so, als hätten die Regierungschefs das Gefühl, das mit den Schulen sei damit abgehakt. Folgerichtig kommt der Begriff "Schule" das zweite mal auch nur in der Variante der "Fahr- und Flugschulen" vor, die nun unter anderem neben den übrigen körpernahen Dienstleistungsbetrieben (Nagelstudios & Co) wieder geöffnet werden dürfen.
Und was ist mit den "Hochschulen"? Sie werden im gesamten Öffnungsplan von Bund und Ländern ebenfalls kein einziges Mal erwähnt. Was nichts Neues ist. Sie kamen überhaupt erst einmal in den zahlreichen Bund-Länder-Beschlüssen der vergangenen Monate vor. Am 25. November war das – verbunden mit der Aussage, dass sie grundsätzlich auf digitale Lehre umstellen sollen. Geht es nach Merkel und den Regierungschefs, soll das offenbar auch noch lange so bleiben. Während in der Zwischenzeit schon bei einem Inzidenzwert von unter 100 (!) ab 22. März auch Theater, Kinos oder Außengastronomie öffnen dürfen für Menschen mit tagesaktuellem Schnelltest, unter 50 braucht es dann nicht einmal mehr den. Dass den Hochschulen, den Studierenden, den Hochschullehrern Wissenschaftlern bis zur nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am 22. März jegliche Öffnungsperspektive verweigert wird, ist unverständlich und unfair.
Zumal, siehe die Sparpläne Bremen oder Niedersachsen, absehbar ist, dass sie empfindlich unter den Corona-Haushaltslöchern leiden werden, dass die Aussichten für Studierende, die bald das dritte Semester zu Hause hocken, zumindest bei der späteren Aufarbeitung der Corona-Lücken eine angemessene Unterstützung und Betreuung zu bekommen, also rapide schlechter werden.
Wie gründlich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten die angebliche gesamtgesellschaftliche Priorität Bildung aus ihrem kollektiven Gedächtnis gestrichen haben, lässt sich sehr plastisch auch an der blau-grünen Grafik mit den einzelnen Öffnungsschritten erkennen, die wohl auf Initiative von Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) entstand und von der Bundesregierung gestern verteilt wurde. Die Hochschulen werden nicht einmal unter "weitere Schritte" nach dem 22. März explizit erwähnt – im Gegensatz zu "Gastronomie, Kultur, Veranstaltungen, Reisen und Hotels", also eigentlich so ziemlich allem. Und die Schulen sind nur einmal oben links in die Ecke geklatscht, bei Öffnungsschritt 1. Im ersten Entwurf noch ohne Ergänzung. In der Endfassung steht immerhin pflichtschuldig in Klammern dabei: "Individuelle Regeln je Land".
Das kann so niemals das
"gerechte" Öffnungskonzept sein
Das ist nämlich die Ausrede der Politik. Die Bildungseinrichtungen seien ja nicht nur als erste bei den Öffnungen berücksichtigt worden, zusätzlich sei die Entscheidung über ihre weitere Öffnung in die Länder zurückgegeben worden. Indes: Das mit der (Mit)-Priorisierung beim ersten Schritt mag man ja noch so sehen. Doch waren es bei den Schulen nur zarte Lockerungen, mehrere Jahrgänge sitzen noch immer komplett zu Hause. Und von den Hochschulen war bei der "Rückgabe" in die Länder gar nicht die Rede. Deshalb bleibt es bei dem, was ich bereits gestern in Erwartung der Beschlüsse schrieb: In dem Augenblick, wo es einen gesamtgesellschaftlichen Corona-Stufenplan gibt, kann dieser, wenn er Kitas, Schulen und auch Hochschulen nicht explizit berücksichtigt und priorisiert, niemals das "Konzept für eine sichere und gerechte Öffnungsstrategie" sein, das die Regierungschefs im Januar versprochen haben.
Denn auch das Virus unterscheidet nicht zwischen Bund- und Länderzuständigkeiten. Öffnet der eine gesellschaftliche Bereich, entsteht dadurch zusätzliche Infektionsdynamik, die durch Zurückhaltung in einem anderen ausgeglichen werden muss. Mit anderen Worten: Wenn Bund und Länder jetzt, wie Sachsen kritisiert, weitgehend "unkonditioniert" die Gesellschaft aufsperren wollen und so das Infektionsgeschehen anheizen, führen sie ihr Gerede von einer angeblichen Priorisierung von Bildungseinrichtungen in der Pandemie ad absurdum. Das RKi hat kürzlich erneut betont, dass das Infektionsgeschehen an Schulen dem in der Gesellschaft folgt, anstatt ihm voranzugehen. Wenn die Schulen wieder schließen müssen, weil die Politik die Läden, Kinos oder Restaurants zu früh aufgesperrt haben, gibt es insofern für die Regierungschefs keine Ausrede mehr.
Retten können die Ministerpräsidenten den entstandenen Eindruck allein dadurch – zumindest teilweise –, dass sie alle noch heute oder in den nächsten Tagen für ihre eigenen Länder jeweils einen mutigen und umfassenden weiteren Öffnungsplan für Kitas, Schulen und ja, auch Hochschulen vorlegen. Mehrere Länder haben dies glücklicherweise im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Stufenplans bereits getan. Umso unverständlicher, wie Thüringen zu Recht betonte, dass dies auf Bundesebene nicht möglich war.
Immerhin ist ja auch nicht alles enttäuschend an den gestrigen Beschlüssen. Zu dem bedingt Positiven gehört, dass die Länder "im Rahmen von Testkonzepten" sicherstellen, dass das Personal in Kitas und Schulen und alle Schüler pro Präsenzwoche das Angebot von "mindestens einem kostenlosen Schnelltest" erhalten. Doch mündet die positive Wahrnehmung in dem Moment schon wieder in Ernüchterung, in dem man sich vor Augen hält, dass im Entwurf noch von zwei Tests pro Woche die Rede war – so, wie es in Österreich seit Wochen praktiziert wird. Warum nur noch einer? Weil die Arbeitgeber gegen die parallel vorgesehene Pflicht, ihren Mitarbeitern ebenfalls zwei Tests pro Woche bieten zu müssen, Sturm liefen. Bund und Länder gaben nach – und wohl aus Gleichbehandlungsgründen und vielleicht auch, um Kosten zu sparen, strichen sie auch bei den Bildungseinrichtungen einen Test heraus. Auch hier gilt: So viel zur angeblichen Priorisierung der Bildung.
Zum Glück hält das Virus sich zurzeit
nicht an die Modellierungen
Uneingeschränkt positiv ist, dass der Außensport mit bis zu 20 Kindern ab einer stabilen Inzidenz von unter 100 wieder erlaubt werden soll. Das war es dann aber auch schon, denn auch die insgesamt erweiterten Kontaktregeln mögen auf den ersten Blick ebenfalls erfreulich aussehen. Auf den zweiten nützen sie aber vor allem Erwachsenen, denn Kinder unter 14 sollen schon in einem ersten Schritt nicht mehr mitgezählt werden. Alle Lockerungsschritte darüber hinaus erhöhen die Infektionsdynamik und somit auch den Pandemiedruck auf die Kinder.
Im schlechtesten Fall, schrieb ich gestern, könnte der neue Corona-Beschluss von Bund und Ländern zweierlei bedeuten: den endgültigen Einstieg in die Dritte Welle und den endgültigen Abschied von der angeblichen Priorisierung der Bildungseinrichtungen.
Der zweite Fall ist nun leider eingetreten. Der erste könnte folgen.
Allerdings, und das ist eine der wenigen guten Feststellungen der Woche, scheint sich das Virus zurzeit nicht an all die Modellierungen zu halten, die parallel zur schnellen Ausbreitung der zuerst in Großbritannien festgestellten Virusmutation B.1.1.7. eine immer steiler werdende Kurve bei den Neuinfektionen prognostizieren. Zwar beträgt der Anteil von B.1.1.7 laut der qualitativ fragwürdigen RKI-Berechnungen bereits 46 Prozent, doch parallel berichtet das RKI einen sinkenden R-Wert. Gestern lag der Vier-Tages-Wert bei erstaunlich niedrigen 0,83 Prozent, was gar auf eine nachlassende Pandemiedynamik hindeutet. Hoffentlich ist das mehr als nur eine Momentaufnahme. Die Erklärung dafür liefert jedenfalls keines der gegenwärtigen Modelle, die von einer dritten Welle ausgehen.
Eine Teil-Erklärung immerhin hätte ich anzubieten. Sie lautet: Der Anstieg in der vergangenen Woche war überzeichnet durch die stark steigenden Tests bei den Kindern und Jugendlichen. Diese befinden sich zwar immer noch auf einem deutlich niedrigeren Niveau als im Dezember, aber sie zogen zuletzt mit den Kita- und Schulöffnungen deutlich an. So dass vom gemeldeten Fallwachstum der vergangenen Woche fast die Hälfte auf die Gruppe der 0- bis 14-Jährigen entfiel. In dem Augenblick, wo der Anstieg bei den Tests in dieser Altersgruppe abflacht, fällt dieses Element weg. So oder so deuten die in den Sozialen Medien wieder vielfach vertretenen Äußerungen, die Schulöffnungen führten bereits wieder zu steigenden Infektionszahlen, auf ein stark eingeschränktes Verständnis der Meldezahlen hin.
Falls die Pandemie in den nächsten Wochen wieder stärker Fahrt aufnehmen sollte, findet dies seine Erklärung jedenfalls in den gestrigen Beschlüssen. Und nicht im für viele offenbar so bequem-einfachen Narrativ, die Kinder und Jugendlichen seien mal wieder schuld. Wobei dieses Narrativ natürlich ziemlich gut zur gestern erneut demonstrierten Stellung der Bildungs- und Teilhaberechte der jungen Generation in unserer Gesellschaft passt.
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Oliver Locker-Grütjen (Donnerstag, 04 März 2021 10:30)
Und die Kinder?
Die Bildungspolitik hat einmal mehr keine Lobby –
Die Bundesrepublik ist bislang sicher und transparent, demokratisch und vielfach gut vorbereitet durch die Pandemie gekommen, wenn man bedenkt, dass es ein weltweit nie dagewesenes Ereignis ist. Dabei wurde viel unternommen, um „vulnerable Gruppen“ zu schützen, „systemrelevante Bereiche“ zu unterstützen und die Wirtschaft als Basis finanzieller Unterstützungsleistungen durch den Staat existent zu halten.
Zunehmend wird jedoch meiner Meinung nach in unserer Republik deutlich, welcher Fokus in der Pandemie maßgeblich ist: es sind definitiv nicht die Kinder und Jugendlichen.
Wäre dies so, würden die wissenschaftlichen Studien, die eindringlich mahnenden Worte der Pädagog*innen, Neurobiolog*innen, Kinderärzte, Psycholog*innen etc. endlich Wirkung zeigen. Die nachhaltigen Schäden (so muss man es nennen) bei Kindern werden uns noch viele Jahre begleiten und immense Kosten verursachen, nur: sie sind nicht direkt sichtbar und werden daher von den Entscheidungsträger*innen nicht vorrangig behandelt. Dabei liegen schon jetzt viele Kinder und Jugendliche auf der „emotionalen und psychischen Intensivstation“.
In dem gestern getroffenen Bund-Länder-beschluss sucht man vergeblich nach einem zeitnahen Konzept, den Kindern in Deutschland wieder Perspektiven zu bieten, die sie dringend benötigen. Die Kinder und Jugendlichen haben bislang enorm viel geleistet und ausgehalten; die physiologischen Folgen einer verdrängten emotionalen Verarmung sind bereits sichtbar und werden uns noch lange begleiten.
Wer sind daher die „vulnerablen Gruppen“, die „systemrelevanten Bereiche“? Soll mit einer nicht ausdifferenzierten Kita- und Grundschulöffnung bereits der Notwendigkeit Genüge geleistet worden sein, sich um die Kinder zu bemühen? Sicherlich nicht.
Vielleicht wäre es an der Zeit, an das Impfen von Kindern und Jugendlichen mitzudenken sowie massive Maßnahmen des Staates zur „Rückerlangung der Freude am Leben“ in diesen Gruppen zu gestalten.
„Kinder an die Macht“ (Herbert Grönemeyer)
Jörg Abke (Donnerstag, 04 März 2021 11:32)
Kurze Ergänzung zu obigem Artikel und dem Kommentar #1 - danke für beides! - : UNICEF macht seit Mittwoch, 03.03.2021, mit einer Installation auf die Gesamtsituation der Schülerinnen und Schüler weltweit aufmerksam (https://unric.org/de/040321-unicef/)
Nur eine Zahl?: 168 Millionen
Leicht auszumalen, dass damit die nächste (Un)Bildungs-Pandemie der kommenden Jahrzehnte droht.
Jana Stibbe (Freitag, 05 März 2021 10:15)
Ebenfalls Danke an Herrn Wiarda und die Kommentatoren. Ich war genauso entsetzt, dass die Worte Schule und Hochschule in der Berichterstattung zur Bund-Länder-Konferenz gar nicht auftauchten. Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich wünsche mir aber auch endlich von den Betroffenen (Studierende, Schüler:innen und Eltern), mit der gleichen Vehemenz ihren aktuellen Unmut zu äußern, wie sie ihn in der FFF-Bewegung an den Tag gelegt haben. Ohne dem wird es keine Änderung an dieser offensichtlich menschenunwürdigen Behandlung von Kindern und Jugendlichen bzw. jungen Menschen geben. Es muss keine Demo sein. Bei mir hängt jetzt seit Mitte Januar ein Plakat mit der Aufschrift "Schulen auf !" im Fenster. Das könnten alle Schüler:innen, Eltern und Studierende (dort "Hochschulen auf !") machen. Ich fände interessant, was dann passiert. Da meines das einzige Plakat weit und breit ist, fürchte ich, es erst zum nächsten Schuljahr abhängen zu können, wenn überhaupt.