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Kultusminister stemmen sich gegen die Schließungsdebatte

Die Coronazahlen steigen und steigen. Am Montag entscheiden die Regierungschefs von Bund und Ländern über Maßnahmen, um die dritte Welle einzudämmen. Die Priorität, die Kitas und Schulen am längsten aufzuhalten, wackelt. Hört noch jemand auf das Plädoyer der Bildungspolitiker?

DIE KULTUSMINISTER ZEIGEN STÄRKE in einer Position, die schwächer kaum sein könnte. Kurz vor dem erneuten Corona-Krisentreffen der Regierungschefs von Bund und Ländern wandten sie sich am Freitag mit einem Plädoyer an die Öffentlichkeit, das in Wortwahl, Tonlage und Nachdruck so selten von der Kultusministerkonferenz zu hören ist. 

 

Sie seien "in Sorge um die Kinder und Jugendlichen", schrieben die 16 Bildungspolitiker und warnten davor, die Schülerinnen und Schüler "als Gefahr" in der Pandemie zu stigmatisieren. Die Kultusminister forderten die Gesellschaft auf, das "Recht auf Bildung und Unversehrtheit" der jungen Menschen zu beachten. Angesichts der Folgen sozialer Isolation und des Wegfalls von Kontakten zu Gleichaltrigen, die durch Schulschließungen und Kontakteinschränkungen entstünden, müssten Schulen daher "im Vergleich zu allen anderen Lebensbereichen am längsten geöffnet bleiben".

 

Als die letzte bundesweite Schulschließung im Dezember drohte, hatten die Kultusminister sich nicht zu einer gemeinsamen beschlossenen Erklärung durchringen können. Wodurch sie sich in der weiteren öffentlichen Debatte selbst aus dem Spiel genommen hatten.

 

Damals beschlossen die Regierungschefs, die Schulen für die letzten paar Tage vor Weihnachten dichtzumachen und die Ferien ein paar weitere Tage bis zum 10. Januar zu verlängern. Deshalb werde ja nun nicht gleich der Bildungsnotstand ausbrechen, so ihr Tenor, der von vielen Medien aufgegriffen wurde. Nur dass aus den paar Tagen am Ende für die meisten Schüler mehrere Monate wurden. Und dass fast alle von ihnen nur in tageweisen Teilungsunterricht zurückkehren durften. Im Gegensatz zu vielen Mittelstufenschülern. Die durften bis heute nicht einmal das. 

 

Die Narrative von
den kurzen Schließungen

 

Jetzt ist die Position der Kultusminister nicht viel stärker. Denn die Stimmen sind wieder da, die fordern, wegen der steigenden Inzidenzen besonders bei Kindern die Osterferien früher beginnen zu lassen. "Ich appelliere an die Länder, alle Schulen bis Ostern wieder zu schließen, auch die Grundschulen", sagte der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach der Rheinischen Post. Andere finden: Zumindest für diejenigen Mittelstufenschüler, denen in den nächsten zwei Wochen zum ersten Mal seit Weihnachten wieder ein paar Stunden in der Schule versprochen worden war, lohne das Kommen doch ohnehin kaum. Und in keinem Fall stehe es in Relation zu den epidemiologischen Gefahren, die das auslöse.

 

War das Narrativ der Schließungsbefürworter vor Weihnachten das mit "den paar Tagen", die doch nicht so schlimm sein könnten, so lautet es nun: Sobald nach Ostern überall regelmäßige Schnelltests etabliert seien, könnten die Schulen kurzfristig wieder aufmachen. Und bis dahin könnten die Lehrer und das übrige Schulpersonal schon mal die Testabläufe zur Anleitung der Schüler trainieren. 

 

Doch ist natürlich auch dieses Narrativ Unsinn, das haben die vergangenen drei Wochen eindrucksvoll bewiesen. In dieser Zeit haben sich die Corona-Testhäufigkeiten unter Kindern und Jugendlichen mehr als verdoppelt, was gut und überfällig war, weil sie in der Zeit der Schulschließungen auf ein unerträglich niedriges Niveau gesunken waren. Nur verdoppelten sich in den drei Wochen auch die Zahl der gefundenen Neuinfektionen bei den 0- bis 14-Jährigen. Und parallel hob die erneute Schulschließungsdebatte ab.

 

So nannte Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI),  den Anstieg bei den Kindern und Jugendlichen seit Mitte Februar "sehr rasant" und fügte hinzu, dass die Schließung von Kitas und Schulen in der jetzigen Phase "aus infektionsmedizinischer Sicht... ein guter Weg" wäre.  Für Karl Lauterbach wiederum steht angesichts der explodierten Zahlen bereits fest: Bei der zuerst in Großbritannien festgestellten Virusmutation B1.1.7 "erreicht die Virusmenge bei Kindern einen kritischen Schwellenwert, dass Kinder so ansteckend sind wie Erwachsene." Und etliche Bürgermeister und Landräte im Land setzen die Kultusminister unter Druck, möglichst noch heute die Bildungseinrichtungen zuzusperren.

 

Schnelltests: Wie das objektive Mehr
an Sicherheit subjektiv zu mehr Angst führt

 

Innerhalb weniger Wochen ist es real geworden, das Bild der Kinder und Jugendlichen als "Gefahr", gegen das sich die Kultusminister zur Wehr setzen. Und das, obwohl kein Statistiker einschätzen kann, wieviel von der Pandemiedynamik bei den Kindern und Jugendlichen in den vergangenen drei Wochen tatsächlich auf mehr Ansteckungen zurückging – und wieviel auf die zusätzlichen Tests. Fest steht jedenfalls, dass mit der Ausweitung der Tests unter Kindern und Jugendlichen auch deren Positivrate, also der Anteil bestätigter Fälle pro 100 getesteter Personen, deutlich gesunken war.

 

Es rächt sich damit endgültig eines der größten Versäumnisse im Pandemie-Controlling insgesamt: dass Deutschland mit seinem RKI bis heute kein regelmäßiges und repräsentatives Corona-Bevölkerungssample auf die Beine gestellt hat, das unabhängig von Testhäufigkeiten, sich ändernden Auswahlkriterien, Meldeverzügen und dadurch mal größeren, mal kleineren Dunkelziffern ein realistisches Pandemiebild liefert.

 

Keine Frage: Bund und Länder handeln richtig, wenn sie in der Absicht, die Schulen offenzuhalten, die Schnelltests von Kindern und Jugendlichen weiter forcieren. Zu Recht weisen auch die Kultusminister in ihrer Erklärung darauf hin, dass alle ihre Entscheidungen zur "Aufrechterhaltung und Ermöglichung des Präsenzbetriebs... durch Hygienemaßnahmen und flächendeckende Testmöglichkeiten flankiert würden". Und wenn die Grünen ein Sofortausstattungsprogramm für Antigen-Schnelltests in Bildungseinrichtungen in Höhe von einer Milliarde Euro fordern, ist ihnen nur zuzustimmen. Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) prognostizierte am Freitag, dass sich schon so die Zahl der täglichen Tests in Hamburg in Kürze verdoppeln oder verdreifachen könnte. 

 

Die zusätzlichen Tests leuchten die seit Dezember gewaltige Dunkelziffer aus. Doch führt dieses Mehr an objektiver Sicherheit für viele subjektiv zu noch mehr Sorgen und Ängste. Denn die Schnelltests werden, bestätigt durch PCR-Tests, zwangsläufig dazu führen, dass die Inzidenzen unter Kindern und Jugendlichen weiter kräftig steigen. Und dass der öffentliche Druck auf die Länder, die Kitas und Schulen zu schließen bzw. nach Ostern nicht wieder aufzumachen, gewaltig sein wird. Wenn die Politik keinen Weg findet, mit diesem Paradox kommunikativ umzugehen, wonach es derzeit leider aussieht, könnte aus dem Schulöffnungsinstrument Schnelltests so ganz schnell ein Schulschließungsinstrument werden. Von wegen: Nach Ostern geht der Unterricht weiter.  

 

"Kinder sind keine Gefahr", sagt
die KMK-Präsidentin fast flehentlich

 

Die Kultusminister versuchen es ja. Sie kämpfen nicht nur gegen die Stigmatisierung der Kinder, sie versuchen auch aufzuklären. "Die ausgeweitete Testung von Kindern und Jugendlichen dient dem Ziel, den Schulbesuch für Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte sicherer zu machen und Infektionen zu identifizieren", heißt es in ihrem Beschluss. "Dadurch kann eine höhere Zahl von festgestellten Infektionen hervorgerufen werden und sich die Inzidenz in den Ländern erhöhen." Die Kultusministerkonferenz weist auf die Notwendigkeit hin, "diesen Zusammenhang auch folgerichtig darzustellen, um im Interesse der Kinder und Jugendlichen die richtigen Entscheidungen zu treffen". Weshalb, wenn es um den Schulbetrieb gehe, "zu prüfen" sei, "das Kriterium der Inzidenz um weitere Kriterien zu ergänzen". 

 

Spricht daraus die Sorge der Bildungspolitiker, ihre eigenen Chefs, die Ministerpräsidenten, könnte diese gedankliche Differenzierung misslingen? Oder – noch schlimmer – sie würden es zwar verstehen, aber hätten nicht mehr die Kraft oder das Interesse, sich gegen die bereits anlaufenden Debatten über Kitas und Schulen als "Infektionsherde" zu stemmen?

 

"Kinder sind keine Gefahr, und so sollte auch nicht mit ihnen umgegangen werden", sagt KMK-Präsidentin Britta Ernst, die im Hauptberuf SPD-Bildungsministerin in Brandenburg ist, fast flehentlich. 

 

Dass selbst Karl Lauterbach es inzwischen als "Stand der Wissenschaft" bezeichnet, dass Kinder beim Corona-Wildtyp weniger ansteckend gewesen seien – eine Aussage, für die die Kultusminister immer wieder angegriffen wurden – wird Ernst und ihren Kollegen wenig Genugtuung geben. Denn die Debattenkarten sind neu gemischt, wie man wiederum an Lauterbach erkennen kann, wenn er sagt, die geringere Ansteckung habe sich mit der Virusmutation erledigt. Was übrigens im Gegensatz zu seiner ersten Feststellung so keineswegs gesicherter Stand der Wissenschaft ist.

 

Was aber, wenn die Ministerpräsidenten mit der Begründung der B.1.1.7-Variante die bisher von ihnen zwar stets nur in Ansätzen umgesetzte, zumindest aber behauptete Priorität von Kitas und Schulen nun zurücknehmen? Wenn sie mit dem Verweis, man handle ja in Bezug auf die plötzlich so viel ansteckenderen Kindern und Jugendlichen, die eigentlich nötigen viel schärferen Maßnahmen für die Gesamtgesellschaft aufschieben? 

 

Wer sich die Fallzahlen der vergangenen Woche genau ansieht, der entdeckt eine unangenehme Tatsache: Bei den Erwachsenen steigen die gemeldeten Neuinfektionen inzwischen fast so schnell wie bei den Kindern und Jugendlichen. Nur dass bei den Über-15-Jährigen die Corona-Tests parallel überhaupt nicht zugenommen haben. Ein kompletter gesellschaftlicher Lockdown wird damit immer unausweichlicher. In letzter Konsequenz müssten dann auch – so entsetzlich das ist – die Kitas und Schulen mitgehen. Aber als letztes. Sonst passiert zweierlei: Ein halbherziger Lockdown wird erneut scheitern. Und die Kinder zahlen erneut den höchsten Preis. 

 

Es ist gut, dass die Kultusminister am Freitag Stärke gezeigt haben. Ob die Regierungschefs das am Montag auch schaffen?


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Kommentare: 1
  • #1

    Working Mum (Montag, 22 März 2021 07:30)

    Volle Zustimmung, nur eine Anmerkung: Tatsächlich handelt es sich in den allermeisten Bundesländern nur noch um eine Woche Unterricht bis zu den Osterferien.